Warten auf die "Schreiße"

24. August 2023. Alfred Jarrys Stück "König Ubu" ist als Vorläufer des absurden Theaters Legende. Regie-Altmeister Robert Wilson hat einige Ideen bei Jarry entliehen, um daraus Wilson-Theater zu machen. Mit einer großartigen Angela Winkler – und Momenten, die unseren Kritiker an Putin und Prigoschin denken lassen.

Von Thomas Rothschild

"Ubu" von Robert Wilson beim Kunstfest Weimar © Luca Rocchi

24. Augsut 2023. Kaum vorstellbar, dass das Wort "merdre" – "Schreiße" oder "Schoiße" oder "Scheitze" – einen Theaterskandal hervorrufen konnte. Aber wer weiß, wie man in hundert Jahren die Sprachregulierungen von heute beurteilen wird. 

"Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? Nein. Wir wollen weniger erhoben und fleißiger gelesen sein." Lessings berühmter Aphorismus ließe sich mühelos auf Alfred Jarry übertragen. Sein "Ubu roi" von 1896 wird immer wieder genannt, dessen geschichtliche Bedeutung als Vorläufer des Dadaismus und des Theaters des Absurden sowie als Wegbereiter des nicht mimetischen, nicht illusionistischen Theaters mechanisch wiederholt, aber auf der Bühne sehen kann man ihn nur selten.

Mit Mirós Puppen

In Weimar könnte der Titel – immerhin "Ubu" und nicht "König Ubu" oder "Ubu roi" – falsche Erwartungen wecken. Dem singulären Drama von Alfred Jarry verdankt Robert Wilson nicht viel mehr als die Idee. Von der Dichtung des Erfinders der Pataphysik hat er nur ein paar Fragmente übernommen. Der Satz "Ich gebe der Versuchung nach" zum Beispiel wird auf Englisch ohne Kontext mehrfach wiederholt. Konsequenterweise figuriert der Starregisseur auch als Autor. Wobei für den Meister der Kunst-Melange Joan Miró eine wichtigere Inspirationsquelle darstellt als Alfred Jarry.

Im Zeitalter der Koproduktionen nach dem Modell der Wanderausstellung ist das, untypisch für Wilson, nur 50 Minuten lange Stück, das seit Oktober 2022 durch Spanien und Frankreich getourt ist, zur Eröffnung des Kunstfests Weimar im e-werk, einer Nebenspielstätte des Nationaltheaters, angekommen. Dass Wilson suggestive Bilder ersinnt, werden auch seine schärfsten Kritiker nicht infrage stellen. Zumal wenn ihm einer der Giganten der Moderne, Joan Miró eben, zu Hilfe kommt. 1978, fünf Jahre vor seinem Tod und schon 85 Jahre alt, hat der Spanier lebensgroße Puppen und Masken für Jarrys "Ubu Roi" entworfen, nachdem er dem Stück bereits 1966 einen Lithografienzyklus gewidmet hatte, und sie sind es, auf die Robert Wilson jetzt zurückgreift. Es hat also auch etwas von den gelegentlichen Wiederbelebungsunternehmungen mit Oskar Schlemmers 56 Jahre älterem "Triadischen Ballett".

Unübertreffliche Angela Winkler

Für Robert Wilson, der dem Visuellen im Theater vor dem Wort stets den Vorzug gibt wie in Deutschland nur noch Achim Freyer, ist die Vorlage ein gefundenes Fressen. Und wieder, kontrastierend mit dem dunkelblauen, dieses knallrote Licht wie in einem Bordell oder eben, unabhängig von Thema und Vorlage, bei Robert Wilson. (Mirós Ubu-Bilder sind entschieden bunter.)
Gesprochen wird der Text von Robert Wilson und von der unübertrefflichen Angela Winkler, für die Wilson nach Peter Zadek der bestimmende Regisseur wurde, mit verstellter Stimme, teils englisch, teils deutsch, wobei die Titelfigur und seine Frau konsequent Ubu, nicht Übü genannt werden. Keine Spur mehr von Frankreich beim Transfer nach Spanien.

Ubu1 805 Luca Rocchi uGut gekleidet zu Tisch in Robert Wilsons "Ubu" © Luca Rocchi

So scheinbar unrealistisch Jarrys "Ubu" ist: es fällt nicht schwer, in den Figuren und Aktionen einen Putin und einen Prigoschin, der kurz vor der Premiere vom Himmel geholt wurde, deren Vulgarität sowie aktuelle Machtkämpfe und den Krieg gegen die Ukraine zu identifizieren. Während Jarry solche Analogien naturgemäß nicht im Auge haben konnte, sind parodistische Bezüge zu "Richard III." und "Macbeth", also zum Kanon, offenkundig beabsichtigt. Die zum Typus avancierte Titelfigur selbst macht die notorische Gefräßigkeit zu einem Verwandten von sowohl Hanswurst wie Falstaff. Die Urfassung des "Ubu" mit dem Titel "Les Polonais" war ja ein Schülerulk, schon damals für Marionetten konzipiert, und der hat seine Spuren hinterlassen.

Ein Antikriegsstück?

Bei Robert Wilson wartet man vergeblich auf die "Schreiße". Stattdessen betritt eine undefinierbare Figur im Zivil wie in Zeitlupe einen langen Steg, der zur Bühne führt, auf der die Figuren in schwarz-weißen Kostümen aus zerknüllten Zeitungsschnitzeln mit roten Tupfen an einem langen Tisch sitzen. Sie beginnen sich zu bewegen, stammeln einzelne Wörter, tänzeln als Schattenrisse vor dem hell erleuchteten pastellfarbenen Hintergrund über die Bühne. Zeitweilig sitzen sie starr da, während der aufgezeichnete Dialog oder was davon geblieben ist aus den Boxen dringt. Untermalt wird die ganze Schau mit Musik diverser Genres von der Romantik bis zum Tiger Rag. Ein Knall begleitet Blackouts oder die schnell aufeinander folgenden Lichtwechsel, die die Bühne oder Ausschnitte daraus in verschiedene Farben tauchen. 

Ob Jarrys den Geist des Grand Guignol atmende Groteske ein Antikriegsstück ist, kann man bezweifeln. Diese Kategorisierung schuldet sich eher dem von Robert Wilson zum Glück nicht geteilten, offenbar unstillbaren Bedürfnis, Jarrys revolutionäre Dramaturgie auf das traditionelle Modell des Thesendramas zu reduzieren. Von Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung trägt in Deutschland immer die tiefere Bedeutung den Sieg davon. Auch die von den Veranstaltern suggerierte Verbindung Mirós und Wilsons zum Bauhaus scheint weit hergeholt und sich eher dem Lokalpatriotismus der Weimarer als einer Evidenz zu verdanken.

Ubu2 805 Luca Rocchi uLicht und Schatten: Ein echter Wilson © Luca Rocchi

Bei Robert Wilson jedenfalls kann von einem Antikriegsstück nicht die Rede sein, wenn dafür nicht reichen soll, das jemand mit einem stilisierten Speer fuchtelt und hinfällt. Genauer als der Titel "Ubu" wäre "Fantasie über Figuren von Miró". Wenn man nach Verwandtschaften auf der Bühne fahndet, findet man sie am ehesten im japanischen Kabuki – der Bär winkt gleich am Anfang wie eine japanische Maneki-neko – oder bei Regisseuren wie Andrej Woron und Erwin Piplits.
Der "Ubu" des mittlerweile 81jährigen Regisseurs ist kein typischer Wilson, aber auch nicht alltägliches Theater. Ein schönes Spektakel ist er allemal. Jarry war's nicht. Dessen Wiederentdeckung steht noch aus.
Ganz am Schluss tritt Ubu aus einem roten Vorhang hervor, wie Alfred Jarry ihn gezeichnet hat. Auch nicht schlecht. Vielleicht ein andermal: "König Ubu" von Alfred Jarry...

 

Ubu
von Robert Wilson
Deutsche Erstaufführung
Regie: Robert Wilson, Co-Regie: Charles Chemin, Text: Eli Troen, Robert Wilson, Charles Chemin, Figuren: Joan Baixas, La Claca auf der Grundlage von Joan Mirós Originalentwurf, Kostüm: Aina Moroms, Bühnenbild: Robert Wilson, Stephanie Engeln, Lichtdesign: Robert Wilson, Marcello Lumaca, Ton: Joan Vila & Joan Fullana, Sprecher: Robert Wilson, Angela Winkler.
Mit: Biel Morro, Mona Belizán, Marina Nicolau, Alejandro Navarro, Joan Maria Pascual, Sandrine Penda, Joana Peralta, Sienna Vila, Alba Vinton.
Premiere am 23. August 2023 im Rahmen des Kunstfests Weimar
Dauer: 50 Minuten, keine Pause 

www.kunstfest-weimar.de

Kritikenrundschau

Diese 50 Minuten "transportieren durchaus die Substanz von Jarrys Farce", findet Peter Korfmacher in der Leipziger Volkszeitung (24.8.2023). "Sie lassen mit neun Darstellerinnen und Darstellern in Zeitungskostümen das Absurde anklingen, in das Jarry das Böse wendet." Alle Beteiligten "schreiten souverän ihre rechten Wilson-Winkel ab, sie tun es im meist staunenswert präzisen Gleichklang mit der Tonspur". Und doch: Es fehle "der Skandal". Wilson verharmlose die Sprachfarce "ins Pantomimische". Näher am "absurden Jarry" wäre "näher am absurden Zustand der Welt" gewesen, so der Kritiker.

Es seien Wilsons "typischen Stilmittel, die natürlich fantastisch aussehen und hier auch technisch fantastisch dargeboten werden", so Stefan Petraschwesky im MDR Kultur (24.8.2023). Es werde "praktisch alles vermieden, was natürlich aussehen könnte oder auch nur spontan. Alles ist gesetzt, alles konstruiert." Unterm Strich sah der Kritiker "eine starke Interpretation, die etwas allgemeingültiges hat", allerdings auch einen etwas "glattgeschliffene(n), kulinarische(n) Abend".

"Eine schöne Modenschau" hat Till Briegleb erlebt und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (25.8.2023): "Von Jarrys brutaler Schonungslosigkeit bleiben nur einige Satzfetzen in stimmlicher Verfremdung übrig. Getaucht in bezaubernde Lichtregie ist der üble Ausgang von Machtwahn hier eher ein satter, bunter Karneval."

"Keine große Inszenierung, mehr eine Fingerübung. Eine unterhaltsame Stunde", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (25.8.2023). "Ein irres Tableau mit Wilsons Stimme aus dem Off, das an Spannung und Drohpotenzial verliert, je mehr Bewegung hineinkommt."

"Die Atmosphäre schwankt an diesem Abend zwischen Geisterbahn und Varieté, die spanischen Darstellerinnen und Darsteller tanzen wunderbar Walzer, bis sie das ohrenbetäubende Klirren von zerbrechendem Glas unterbricht und sie mit überdimensionierten Schlagstöcken aufeinander losgehen," hält Simon Strauß in der FAZ (25.8.2023) fest. Wilson führe das groteske Antikriegsstück nah an seine Urfassung zurück, "die nämlich in der Form einer Schülertravestie auf einen Physiklehrer entstand und als Marionettentheater aufgeführt wurde." Dafür lasse Wilson seine Darsteller in den ausdrucksstarken Kostümen der Originalbühnenfiguren des spanisch-katalanischen Surrealisten Joan Miró auftreten: "Wilde geometrische Formen, knallige Farben, überbordende Tier-Mensch-Verschnitte werden in rhythmisch gespreizten Gängen präsentiert, Augen aufgerissen, Hände mechanisch geschwenkt, und plötzlich erstrahlt ein Holzstuhl in blutrotem Licht – immerhin geht es ja um eine Macbeth-Parodie und ein grausiges Massaker am Fuße des polnischen Throns."

Kommentare  
Ubu, Weimar: Bester Minimalismus
Der Weg von Berlin nach Weimar hat sich gelohnt. 50 Minuten Wilson. Ein Bühnenbildkunstwerk, das den Zuschauer erstarren lässt. Doch dann muss er durch die Lautstärke hindurch, um dann im sehr stark reduzierten Text bilderreich durch das Stück geführt zu werden. Von manchen Szenen bleibt nur ein Satz. Aber dieser Minimalismus trägt dennoch das Stück.
Kunst um der Kunst willen, hier bestens inszeniert.
Kommentar schreiben