Überlebenskampf in finsteren Zeiten

4. Oktober 2023. Er war Kommunist, Spanienkämpfer und Flüchtling vor den Nazis, der mit Hoffnung auf ein besseres Deutschland dann in die DDR gegangen ist. Zum Tag der Deutschen Einheit hat Enrico Stolzenburg die Geschichte seines Großvaters Freimut erzählt: eine andere deutsche Familiengeschichte.

Von Harald Raab

"... damit es hundert sind" von Enrico Stolzenburg und Beate Seidel am Deutschen Nationaltheater Weimar © Candy Welz

4. Oktober 2023. Familie ist eine Black Box. Wenn es gut geht, ein Überraschungsei. Wenn es schlecht läuft full catastrophe in wabernden Sumpfgebieten. Deutsche Familienbiografien haben nicht selten einen Opa oder Uropa, dessen Bilder im Fotoalbum einen Kerl in SS-Uniform zeigen.

Spurensuche mit Musik

Auch Enrico Stolzenburg, Regisseur, Schauspielprofessor, Brecht-Spezialist und Klangkünstler, hat einen Großvater mit Brüchen im Lebenslauf. Aber von der etwas anderen Sorte: er war Antifaschist, Kommunist, Spanienkämpfer in einer Inter-Brigade. Seine Familiengeschichte hat Stolzenburg jetzt am Deutschen Nationaltheater in Weimar unter dem Titel "... damit es hundert sind" erzählt. 

Ernst Busch, der Barrikaden-Caruso, hat einst mit melodramatischer Wucht das Himmelfahrtkommando in Spanien proletarisch heiliggesprochen. Seine Canciones de Las Brigadas Internationales geben Stolzenburgs Spurensuche nun den emotionalen Drive. Dazu kommen der Tango "Esclavas Blancas"von H. Pettorossi, gesungen von Carlos Gardel, Wolf Biermanns Hymne Du, lass dich nicht verhärten . . . dito. Die Widerstandsnostalgie eines alten Kommunisten – "La viejo Comunista"von Manuel Garcia – lässt Tränen der Erinnerung fließen: Ein gelungener Mix aus Musik und O-Tönen der Stolzenburg-Kinder, nebst historischer Verkündung des Wahlsiegs von Salvador Allende im Chile des Jahres 1970, dazu Textprojektionen von Originalbriefen (Video: Tobias Ludwig, Licht: Marcus Schaler, Thomas Geiler).

Ping-Pong der Perspektiven

Wer also war dieser Großvater, dieser Freimut Stolzenburg? Ein Held, ein "Bürger kommender Zeiten"(Busch) oder auch nur ein Mitläufer in eine andere, letztlich auch fatale Richtung? Ins Arbeiter- und Bauernparadies unter Führung des Massenmörders Stalin nämlich. Und wie erzählt man diese Geschichte? Es wurde die Produktionsmethode der Stückentwicklung gewählt, um eine Antwort zu finden – ein Vorgang aus Regie und Selbstinszenierung der Schauspielerinnen und Schauspieler.

Es beginnt streng nach dem Lehrbuch des Epischen Theaters Brechts: Auftritt, Text, Abgang. Distanziert, nur ja kein Illusionstheater. Das Publikum soll selbst denken, Lehren ziehen. Dann gleitet das Bühnengeschehen aber immer mehr ins dramatische Spiel, das Identifikation, Nähe zu den Figuren stiftet, spannend, emotional packend. Nicht zuletzt wegen des engagierten, nuancenreichen Agierens des jungen Bühnenpersonals. Und zwar bruchlos und wie aus einem Guß. Ein Einzelschicksal im 20. Jahrhundert mit seinen Weltanschauungskriegen, seinen Nationalismen und dem Rassenwahn wird aufgerollt. Überlebenskampf in finsteren Zeiten – Menschen fressend, Kulturen und Existenzen vernichtend, Hoffnungen zermalmend.

hundert 3 candy welzFamilienbande: Janus Torp, Raika Nicolai, Nahuel Häfliger, Tahera Hashemi, Calvin-Noel Auer © Candy Welz

Vor und in einer überdimensionalen Kiste, möbliert mit Umzugskartons (Bühne: Katrin Hieronimus), blicken die Enkel auf ihren Opa und seine Kinder zurück. Erinnerungsfitzelchen aus Briefen, Dokumenten, Protokollen und Erzählungen werden zusammengeklaubt und zu einem Mosaik geformt. Nicht schwarz nicht weiß, viele Grautöne mit Farbtupfern. Nicht Heldenepos mit ideologischem Gedöns, aber viel Sympathie für den Alten. Ein Ping-Pong der Perspektiven von unterschiedlichen Seiten, durchwoben von Zweifeln. Gewidmet dem Überleben in mörderischen Zeiten. 

Auf zum letzten Gefecht

Freimut Stolzenburg ist hineingeboren in den Traum der Proletarier, ihre Ketten sprengen zu können. Aber erst einmal die letzte, die heilige Schlacht siegreich bestehen. Er meldete sich in Paris zu den Inter-Brigaden, wurde schlecht ausgebildet in den Kampf um Spanien, gegen Francos Faschisten geschickt. Verwundung und Flucht nach der Niederlage in einem Schiff, das der chilenische Dichter Pablo Neruda organisiert hat. Landung in Valparaiso, Chile. Aufbau einer kleinen Existenz als Dekorateur in einer fremden Kultur, Heirat mit einer Chilenin, fünf Kinder. Dann den Lockrufen der jungen DDR gefolgt.

Betrogene Hoffnung

Hoffnung auf eine Antifa-Karriere, für ihn den Spanienkämpfer. Kein Arbeiter-Paradies vorgefunden, sondern einen repressiven, kleinkarierten, piefigen Staat. Hier wollten die Kinder nicht bleiben. So hatten sie sich sozialistische Freiheit nicht vorgestellt. Fast alle begehen Republikflucht. Was wusste ihr Vater, in Staatsstellung als Dolmetscher gut versorgt, privilegiert? Herausmogeln im Stasi-Verhör. Am Schluss eine gebrochene Existenz – wie das ganze verrückte Zeitalter.

hundert 2 candy welzTahera Hashemi und Nahuel Häfliger © Candy Welz

Also kein Mensch kommender Zeiten, eher ein Opfer der Umstände, die nun einmal so waren und leider noch sind. Menschen handeln ja weniger aus individueller Erkenntnis oder moralischer Motivation, wie sie immer behaupten, sondern weil sie dazu gehören wollen, zu einer Gruppe, ihren Ansichten, Zielen und Handlungen. Das könnte vielleicht so etwas wie das Fazit dieses Abends sein. Also keine Abenteuerstory eines Lebens, sondern nur das Kleinklein einer Existenz im launischen Lauf der Roulette-Kugel der Zufälle. Aber immerhin: im Familienalbum Fotos vom Spanienkämpfer – und vom DDR-Funktionär. Allemal vorzeigbarer als ein Nazi-Opa.

Ein temporeiches Lehrstück ist zu sehen, das keinen kalt lässt, der noch ein Herz hat. Ein Abend, der vielleicht auch den Blick weitet für die vielen namenlosen Flüchtlinge dieser Welt von heute. Heimat wechselt man nicht wie die Hemden.

 

. . . damit es hundert sind. Eine Familiengeschichte
Stückentwicklung von Enrico Stolzenburg und Beate Seidel
Uraufführung
Regie: Enrico Stolzenburg, Bühne und Kostüme: Katrin Hieronimus, Video: Tobias Ludwig, Licht: Marcus Schaler, Thomas Geiler, Dramaturgie: Eva Bormann.
Mit Calvin-Noel Auer,Tahera Hashemi, Nahel Häfliger, Raika Nicolai und Janus Torp.
Premiere am 3. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

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