Trauer ist ein Arschloch

19. August 2023. Selten so geschämt, ein Mann zu sein. Und noch nie erlebt nach einer Schauspielpremiere bei den Salzburger Festspielen, dass ein paar hundert Frauen – und nicht wenige Männer – unmittelbar nach dem letzten Satz begeistert aufspringen. Jorinde Dröse hat den Bestseller "Die Wut, die bleibt" von Mareike Fallwickl auf die Bühne gebracht.

Von Reinhard Kriechbaum

"Die Wut, die bleibt" nach dem Roman von Mareike Fallwickl bei den Salzburger Festspielen © Kerstin Schomburg

19. August 2023. Ein paar Salzkörner waren es, die haben das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Kleinen quengeln, die pubertäre Vierzehnjährige ist aufsässig. "Haben wir kein Salz?", hat dann Ehemann Johannes bei Tisch fast nebenher gefragt. Seine Frau Helene ist daraufhin aufgestanden, hat ein paar Schritte auf den Balkon gemacht und sich in die Tiefe gestürzt. 

Nun ist also die große Aufarbeitung angesagt, und die Betonung liegt auf "arbeiten". Der Mann könnte den Betrieb (drei Kinder!) daheim nicht annähernd stemmen. Aber da ist ja Helenes Freundin Sarah. Eine gute Seele, geradezu die Allegorie der Hilfsbereitschaft. Bald steht sie mit Handmixer und Schüssel da. Beim Teigrühren für einen Kuchen bleibt es nicht. "Ich bin immer da, wenn Du micht brauchst", sagt sie zu Johannes und mutiert flugs zur wohlgefälligen Ersatz-Hausfrau und leider wenig geliebten Ersatz-Mutter. In kürzester Zeit verstrickt sie sich in all jenen alltäglichen Anforderungen, aus denen Helene keinen anderen Ausweg mehr als den Suizid gesehen hat. 

Angewandter Feminismus

Die Salzburger Autorin Mareike Fallwickl ist in der Hauptsache Wochen-Kolumnenschreiberin bei der regionalen Tageszeitung. Die Erwartungen ihrer mehrheitlich weiblichen Lese-Zielgruppe erfüllt sie geschmeidig, indem Grundanliegen des Feminismus sehr geradlinig geerdet werden. Dieses Erfolgsrezept eignet auch ihrem im Vorjahr erschienenen Roman "Die Wut, die bleibt" und hat ihn zum Bestseller gemacht.

Im Buch und jetzt eben auch in der pfiffig gemachten Bühnenversion von Jorinde Dröse muss man nicht suchen nach Identifikationsfiguren. Sie springen einen an (auch als Mann). Mareike Fallwickl hat keine Angst vor Klischeebildern, eben weil viele dieser Vorstellungen ja unmittelbar weibliche Lebensrealität abbilden. Dramaturgisch nicht ungeschickt werden scheinbare Unveränderlichkeiten, aber auch Exit-Strategien aufgedröselt. Mit viel Schmäh, wie man auf gut Österreichisch sagt. Denn man kann auch laut auflachen, so traurig der Plot ist. Und todtraurig braucht man schon deshalb nicht sein, weil die Selbstmörderin Helene als Untote immer da ist auf der Bühne: als posthume Fragenstellerin, Ansprechpartnerin, Ideenbringerin, Herausforderin und Kämpferin – als Frauen-Verbünderin schließlich. Eine vielfältige Rolle für Johanna Bantzer.

Patriarch aus Gewohnheit

Die pflichtbewusste und sich aufopfernde Sarah (Anja Herden) lässt sich also viel zu schnell (und zu weit) hineinziehen in die urplötzlich mutterlos gewordene Familie. Ihr Verhältnis zum Lebensabschnittspartner wird quasi nebenher sondiert und gelöst. Er fliegt raus, bevor er noch zum Macho wird. Nicht unraffiniert, dass Johannes, der Familienvater, als Reibepunkt ausgespart wird. Max Landgrebe spielt diese Figur, quasi Alltags-Patriarch aus Gewohnheit, entsprechend zurückhaltend. So kann sich das männliche Publikum zwanglos mit ihm arrangieren.

Wut3 805 KerstinSchomburgGuckkasten auf Stelzen, von Bühnenbildnerin Katja Haß auf den ersten Blick hierarchisch sortiert: aber ... © Kerstin Schomburg

Die eigentliche Hauptfigur ist Lola, die älteste Tochter (Nellie Fischer-Benson). Hin und her gerissen zwischen Trauerarbeit und pubertärer Selbstfindung, ist sie dauer-aufsässig. Vehement und argumentationsstark beginnt sie sich zur Wehr zu setzen gegen Rollenzuschreibungen. Sie und ihre Schwester werden Lektionen lernen und erteilen.

Eine von Lola angeführte Mädchen-Gang zieht sich Wollmützen mit Augenschlitzen über und macht sich daran, Männer zu verprügeln. "Nichts als verspätete Notwehr", rechtfertigt Lola ihr Tun. Motto: Schlag selbst zu, sonst tut's keiner. Sarah bekommt schließlich auch Schützenhilfe von der Girl-Gang, und so hat die Frauensolidarität à la Fallwickl zuletzt sogar etwas Generationenübergreifendes.

Prägnante Wirkung, enthusiastischer Wiederhall

Ja, das alles ist fast unverschämt geradlinige Rattenfängerei in Sachen angewandter Feminismus - im Roman so wie in Jorinde Dröses cartoonhaft klar gezeichneter, auf prägnante Wirkung hin getrimmter Inszenierung. Da wird schon mal auf die Klischees der Romanvorlage eins draufgesetzt, aber das ist wohl nötig, weil sich diese Figuren ja immer wieder in Selbstreflexion, also in Monologen ergehen. Was in dieser temperamentvollen Bühnenfassung jedenfalls garantiert ist: Man hört nicht ein Mal das Papier von Romanseiten rascheln.

Das Bühnenbild: Katja Haß hat den Wohnraum, der einmal Helenes, dann wieder Sarahs Wohnung darstellt, als schmucklosen Guckkasten auf Stelzen gestellt. Oben – noch oben, wohlgemerkt – ist also die patriarchal organisierte Familienwelt, aber zu ebener Erde rührt sich was! Das Erwachen der Girls, ihr so positiv wachsendes Selbstgefühl wird optisch auch in Musiknummern dargestellt, Suzan Demircan hat choreographiert.

Wut1 805 KerstinSchomburgGood girls go to heaven, bad girls everywhere © Kerstin Schomburg

Nachdem sie's dann doch etwas zu bunt getrieben haben mit der Männer-Verprügelei, beschließen die jungen Frauen mal einen Ortswechsel. "Wo fahren wir hin?" Egal, "Frauen wie wir werden überall gebraucht." Wunderte sich da noch jemand über den nachgerade enthusiastischen Widerhall aus dem mit deutlich weiblichem Überhang besetzten Zuschauerraum?

Die Wut, die bleibt
von Mareike Fallwickl, Bühnenfassung von Jorinde Dröse und Johanna Vater
Regie: Jorinde Dröse, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Juliane Kalkowski, Musik: Jörg Kleemann, Choreografie: Suzan Demircan, Dramaturgie: Johanna Vater.
Mit: Johanna Bantzer, Anja Herden, Nellie Fischer-Benson, Max Landgrebe, Fabian Dott, Hanh Mai Thi Tran, Yasmin Mowafek, Sophie Casna.
Koproduktion Schauspiel Hannover
Premiere am 18. August 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de
www.salzburgerfestspiele.at

Kritikenrundschau

Jorinde Dröse käme mit ihrer Inszenierung nicht an die Wucht der Romanvorlage ran, meint Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (20.8.2023 | €). Eigentlich müsse sich die Regisseurin nur klug am Stoff bedienen. Sie habe allerdings nicht "richtig viele zündende, eigene Ideen": "Die Inszenierung ist mehr eine Nacherzählung des Romans, nicht wirklich verkehrt, aber auch nicht wirklich überzeugend."

Einen "vulgärfeministischen Aktionstheaterabend" nennt Stephan Hilpold den Abend von Jorinde Dröse im Wiener Standard (19.8.2023). Die Crew der Inszenierung, die Hilpold auch "Groupies" nennt, umarme die Romanvorlage "ab der ersten Minute zu Tode". Statt "heißer Anteilnahme" hätte der Bühnenadaption eine "kalte Bestandsaufnahme" gut getan, meint der Kritiker.

In der Presse (20.8.2023) urteilt Norbert Mayer: "Ironisch-bissig, aber auch melancholisch bis pathetisch geriet Abrechnung mit den Tücken des Patriarchats. Die wurden am Freitag zwei Stunden lang gnadenlos offen vorgespielt, ausladend diskursiv abgearbeitet. Etwas zu viel Stoff der epischen Vorlage hat die Regie in diese Koproduktion mit den Salzburger Festspielen reingepackt, aber alles in allem ist Jorinde Dröse eine gewitzte Inszenierung gelungen, vor allem zu Beginn."

Der Salzburger Abend setze "vor allem auf plakative Botschaften. Jede Szene wird zum Manifest mit einer passenden Punchline aus dem Roman. Vorgetragen in einem handwerklich nicht gerade subtilen Jugendtheaterpathos bleiben sie als Gemeinplätze und verbale Posen in der Luft hängen." Das schreibt Uwe Mattheiß in der taz (21.8.2023). Was dabei "verloren geht, ist Mareike Fallwickls präzise Beobachtung der politischen Ökonomie der Kleinfamilie in Zeiten des Neoliberalismus. Die Individualisierung aller Lebensrisiken von Kindern bis zur Pflege geht in der Regel zulasten der Frauen. Die Schere zwischen den Geschlechtern droht sich gegen alle Gleichheitspostulate wieder zu öffnen."

Die Inszenierung schlage einen "weicheren, etwas verwaschenen Ton“ an, schreibt Michael Stadler in der Münchner Abendzeitung (21.8.2023). Besonders die Akteurinnen unter Pussy-Riot-Masken beigeisterten das Salzburger Publikum als "furios-feministische Kampftruppe". Die Wut, die in Fallwickls Roman "allseits kocht" mache "auch die Inszenierung klar spürbar".

"Das war nichts", winkt Michael Schleicher vom Münchner Merkur (21.8.2023) ab. Jorinde Dröse "bebildert" den Roman, "lässt ihn brav vom Blatt spielen. Ein eigener Zugriff, eine Interpretation des Stoffes mit den Mitteln des Schauspiels fehlen. Theater kann aber mehr, muss auch mehr können und bieten, wenn es Prosa für die Bühne adaptiert."

Kommentare  
Die Wut, die bleibt, Hannover: Selbstjustiz
Ich war Gestern in der Vorstellung und sehr befremdet über den grossen Applaus. Standing Ovationen auch für Sebstjustiz ... merkwürdig.
Kein deutsches Gericht hätte Verständnis für die überbordende Gewalt( auch wenn diese eher niedlich dargestellt wird). Selbst der spätere Herztod einer der als Täter identifizierten und also gewaltvoll bestraften Männer(ein Pädagoge),führt bei der prügelnden Mädchenbande zu irgend einer Regung. Dies würde doch bei jeder anderen Gruppierung als höchst antisoziales, strafbares, Verhalten gesehen.
Natürlich ist diese 'Rächerinnenfantasie' nicht der Kern des Abends, schon gar nicht der künstlerisch gelungenste Teil. Die Mutter und ihre, sich um die Kinder bemühende Freundin bilden den Glutkern der Aufführung und berühren und bewegen sehr. Trotzdem steht am Ende der Aufführung eine, aus meiner Sicht alberne 'Marvel' Superrächerinnenbande im Zentrum, die dann vom Publikum dafür gefeiert wird, das Recht in die eigenen 'Ermachtigungshände' genommen zu haben.
Ist das nicht Gewaltverherrlichung ...
Die Wut, die bleibt, Hannover: Unterkomplex und klischeehaft
Ich bin nach den bisher doch sehr seichten bis langweiligen Premieren dieser Spielzeit mit voller Vorfreude rein und ging ganz schön enttäuscht. Ich habe an diesem Abend vielmehr die Reproduktion platter Klischees (auf Männer- wie auf Frauenseite) gesehen. Wütende Pussy-Riot-Rächerinnen, die am Ende gebraucht werden, damit die überforderte Mittvierzigerin ihren Typen loswird. Really? Das ist so schade, denn ein Teil der Handlung - die Geringschätzung von Carearbeit, Teilzeitfalle, ökonomische Aspekte des Familien- bzw. Frauen-in-der-Familielebens hätte einen ganzen Abend allein tragen können. Und dann kommt es aber leider immer wieder zu diesen unterkomplexen Unterbrechungen mit wütenden Teenagern auf Rachefeldzug nach einer Stippvisite im Boxcamp. Schade. Zudem: Es blitzt an jeder Ecke der Erzähltext durch. Die (wirklich großartigen!) Darstellerinnen verfriemeln und verirren sich oft im Text. Der bietet an sich schon wenig Spannung und offenbart sehr schnell, dass er kein geeignet dramatischer ist.
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