B'soffene G'schicht

26. Mai 2023. Das burgenländische Städtchen Dunkelblum wusste die Spuren eines NS-Verbrechens lange zu vertuschen. Bis im Wendejahr 1989 ein Besucher den Ort betritt. Eva Menasses großpanoramatischer Roman "Dunkelblum" kommt in der Regie von Sara Ostertag auf die St. Pöltener Bühne. Und es schwindelt einen.

Von Martin Thomas Pesl

Eva Menasses "Dunkelblum" in der Regie von Sara Ostertag in St. Pölten © Franz Kreis

26. Mai 2023. "Die Österreicher sind ein Volk, das mit Zuversicht in die Vergangenheit blickt." Diese traurig treffende Redensart stellte Eva Menasse ihrem umfangreichen Roman "Dunkelblum" voran. Die Literaturkritik sah 2021 teils Geniestreich, teils "Fläche statt Tiefe". Die Mehrheit aber wusste die Figurenvielfalt in Menasses burgenländischem Städtchen zu schätzen, das im Wendejahr 1989 immer noch die Folgen eines Rechnitz-artigen Massakers im Zweiten Weltkrieg spürt.

Löcher mit Toten gibt es da, zuversichtlich vergangenheitsverliebte Dörfler:innen und sogar eine Gräfin, wie in Raphaela Edelbauers ebenso fiktivem Groß-Einland. Mit ihrem etwas älteren Roman "Das flüssige Land" (2019) teilt "Dunkelblum" ab sofort noch eine weitere Gemeinsamkeit: Die Bühnenadaption hat Sara Ostertag uraufgeführt. Im Februar ließ sie ihre Spielerinnen "Das flüssige Land" am Wiener Burgtheater im Dauertrampolinsprung erzählen, jetzt am Landestheater Niederösterreich sehen am Ende von "Dunkelblum" alle so aus, als hätten sie beim Paintball verloren.

Im Schminkkasten

Dabei geht es friedlich los: mit dem Bild eines grünen Feldes, projiziert auf einen weißen Rundumvorhang, und leisen slawischen Gesängen der Musikerin Jelena Popržan. Unter ihrer Beteiligung hat Ostertag ihre überzeugendsten Arbeiten geliefert: vor allem "Das große Heft" im Wiener Kosmos Theater 2019. Popržan hat vorne rechts ihre Ecke mit Streich-, Schlag- und Hybridinstrumenten zur Erzeugung pfeifend-scheuernder Klänge. Sie bleibt unberührt sowohl von der Drehbühne, die viel in eine Richtung rotiert, als auch vom darauf befindlichen Rundpodest, das in die Gegenrichtung steuert, was beim Zusehen leichten Schwindel auslösen kann.

Dunkelblum Michael Scherff Tim Breyvogel Bettina Kerl Lennart Preining Laura Laufenberg C Franzi KreisDas Ensemble im Bühnenbild von Nanna Neudeck © Franzi Kreis

Die Körperbemalung konzentriert sich zunächst aufs Gesicht. Immer wieder sehen wir in Live-Nahaufnahmen, wie die sechs Spieler:innen einander schminken, erst die Gesichtsfalten schwarz nachziehen, dann auch Farbe hinzufügen, teils sogar die Zähne schwärzen. Unterdessen etablieren sie ihre zahlreichen Figuren, über die man, selbst nach Lektüre des Romans, kaum je den Überblick gewinnt. Gekleidet hat die Kostümbildnerin Nina Ball sie alle einheitlich in ein Yves-Klein-eskes Blau, doch sonst durchaus unterschiedlich. Laura Laufenberg etwa wähnt man zu Beginn mit aufgeplusterten Ärmeln und bodenlangen Zöpfen adelig. Dabei ist sie die junge Lehrerin Flocke, und das Schloss, wo damals 1945 im Zuge einer Ballnacht Schreckliches geschah, existiert gar nicht mehr.

Unter Hakenkreuz-Verharmlosern

Zu Ostertags Konzept gehört, dass ihre Spieler:innen im Laufe des Abends – bei gleichbleibend ruhigem Rhythmus – immer mehr Kleidung ab- und Farbe anlegen. Das torpediert jeden Versuch, die etlichen Charaktere aus unterschiedlichen Zeitebenen auseinanderzuhalten – 18 sind im Programmheft gelistet, sechs davon, einer pro Spieler:in, als Ich-Erzählfiguren. Das ergibt Sinn für Lowetz (Julian Tzschentke), der nach Dunkelblum kommt, um den Nachlass seiner plötzlich verstorbenen Mutter Eszter zu verwalten. Auch für Resi Reschen, Hotelchefin (Bettina Kerl), die viele alte Geschichten kennt. Weniger aber für den überforderten Bürgermeister Koreny (Michael Scherff), der Hakenkreuze auf jüdischen Gräbern als "b'soffene G'schicht" verharmlost, als Erzähler jedoch kaum in Erscheinung tritt. Die Dramaturginnen Anita Buchart und Julia Engelmayer wollten wohl das Gerüst des Romans bei der Fassungserstellung wahren. Die Aufgabe, Theater daraus zu machen, überließen sie der Regisseurin.

Vergangenheitsaufarbeitungscreme

Theater macht sie auch, nur nicht unbedingt daraus. Ostertag schafft teils ungewöhnliche Szenen, in denen sie die Spieler:innen physisch fordert. Verbale Schlagabtäusche übersetzt sie in Tänze und in weiterer Folge Ringkämpfe. Dann wiederum bestaunen alle mucksmäuschenstill eine Leinwand mit Text. Mehr als einmal begräbt ein in Zeitlupe "herabfallender" Gegenstand mindestens ein Ensemblemitglied unter sich, ein Fels, ein riesiger Zeigefinger. Oder die Kamera ist dicht dran an einem viskosen Gemisch, das Lust auf Erdbeereis mit Schlag macht, bis die Bühnendrehung offenbart, dass es sich auf einem nackten Rücken befindet und das Sezieren einer Leiche repräsentiert. Doch die Haltung der Regie zum Text wird nie klar.

Eva Menasse lässt vieles unausgesprochen. Im Programmheft-Interview regt sie ihre Leserschaft zum Mitdenken an. Das wird ein Publikum dieser zweistündigen Zusammenfassung kaum schaffen. Ihm bleibt eine bedächtig angerührte Vergangenheitsaufarbeitungscreme aus vielen Namen, Andeutungen, vielleicht falschen Erinnerungen – und leider weder Erdbeeren noch Schlag.

Dunkelblum
von Eva Menasse
In einer Fassung von Anita Buchart und Julia Engelmayer
Inszenierung: Sara Ostertag, Bühne: Nanna Neudeck, Kostüme: Nina Ball, Musik: Jelena Popržan, Dramaturgie: Julia Engelmayer.
Mit: Tim Breyvogel, Bettina Kerl, Laura Laufenberg, Jelena Popržan, Lennart Preining, Michael Scherff, Julian Tzschentke.
Premiere am 25. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.landestheater.net


Kritikenrundschau

"Mit viel Umsicht wird der detailreiche Roman heruntergebrochen auf seine Kernkonflikte", schreibt Margarete Affenzeller in Der Standard (27.5.2023). Livemusik und -gesang von Jelena Poprzan verliehen der Inszenierung eine "tragikomische, leuchtende Grundstimmung". "Die Inszenierung bewegt sich weit genug entfernt von der Romanvorlage, um selbst ein schlüssiges Werk sein zu können, in dem der Blick auf Details sowie auf das große Ganze klug ineinanderlaufen", so Affenzeller. "Ostertag erschafft eine überzeugende eigene Bildwelt."

Kommentar schreiben