Die Bedingungen des Tinder-Matchs

von Kai Krösche

Wien, 17. Dezember 2015. Es ist schon verflixt mit der Liebe. Alle sprechen von ihr, fast alle haben eine Vorstellung davon, und fast keine dieser Vorstellungen deckt sich so ganz mit der der anderen. Dass da Missverständnisse vorprogrammiert sind, zeigt nicht nur ein kurzer Blick in das Themenrepertoire der Kunst-, Musik-, Literatur-, Film-, Theater- und Etceterageschichte, sondern werden die meisten wohl auch selbst (mal mehr, mal weniger schmerzlich) an der eigenen Seele erfahren haben. Da hilft kein Wehen und kein Klagen: "Liebe" passiert und folgt ihren eigenen, unerklärlichen Gesetzen.

Die Performer*innen Gin Müller, Barbara Kaiser und Tamara Wilhelm wollen's dennoch genau wissen und setzen die Liebe einer performativen Versuchsanordnung aus: Als "Musik-App-Band und Forschungsgemeinschaft" namens Dr. Kawi widmen sie sich im brut einer "Erforschung des Einstellungsinventars der Liebesstile". Hinter der sperrig anmutenden Beschreibung verbirgt sich eine Band, die mit Musik-Apps Songs live erzeugt und dabei verschiedene Einstellungen und "Stile" des Liebens auf spielerische Weise einer Untersuchung unterzieht.

Mania, Pragma, Eros und Ludus

Auf einer in sechs gleich große, in verschiedenen Farben gehaltene Tortenstücke eingeteilten Minidrehbühne befinden sich sechs Objekte (Likörfläschchen, Tesafilm, Blockbatterie, Mandarine, Cremedöschen und Punschkrapfen) mit aufgeklebten Äuglein, die fiktive Charaktere mit jeweils verschiedenen Liebesvorstellungen verkörpern. Da ist zum Beispiel Mania, das Likörfläschchen, das zur krankhaften Eifersucht und zum exzessiven Verlieren in der Liebe neigt. Oder Pragma, das Cremedöschen, das die Liebe vor allem als lebensverbessernden Zweck betrachtet (schöne Wohnung, Partner zum Sporttreiben, Steuervorteile dank Ehe). Die Mandarine Eros sucht die romantischen Augenblicke (notfalls auch mit mehreren gleichzeitig) und kriegt feuchte Augen angesichts des Weltschmerzes, den sie, ganz romantisch, immer wieder spürt – und der Tesafilmabroller Ludus betrachtet die Liebe mehr als polyamouröses Spiel und reagiert allergisch auf allzu feste Bindungen. Sie alle sind eingesperrt im Labor des Dr. Kawi, der sie zwecks Optimierung einer fiktiven Liebes-App in diverse Versuchskonstellationen zwingt, um die unterschiedlichen Auffassungen von Liebe auf ihre Kompatibilität abzuklopfen.

DrKawis1 560 Rania Moslam uFigurentheaterfilm-Liveproduktion (Barbara Kaiser, Tamara Wilhelm, Gin Müller) © Rania Moslam

Das Figurentheater geschieht live, gefilmt mit hochauflösenden Kameras, die mal das Liebesrad zeigen, mal direkt im Geschehen sind. Wechselnde Foto-Hintergründe bieten Settings (Disco, MuseumsQuartier, Park oder Parlament) für die einzelnen Challenges. Die Bilder werden dabei auf eine große Leinwand projiziert und von animierten Zwischensequenzen ein- und ausgeleitet. Die Performer geben den Objekten live ihre Stimmen, schaffen Klangflächen und singen Musikstücke über die Liebe. Dank iPad-Apps und Retortensynths klingt das alles ziemlich schräg – und erzeugt so manchen absurden Augenblick.

Falsches Medium?

Und doch, bei aller ästhetischen Dichte und Liebe im Detail: Welche Erkenntnis diese Erforschung produzieren soll, will sich nicht recht erschließen. In den besten Augenblicken erzählt der Abend von der politischen Komponente, die selbst dem scheinbar ganz privaten Gefühl der Liebe innewohnt, spricht von individueller Freiheit, Besitzansprüchen und Gesellschaftsbildern. Oder ist, auch nicht schlecht, einfach nur das: humorvolles Figurentheater, cooles Konzert. Zu oft aber driftet's auch einfach nur in die Banalität der Binsenweisheiten oder des trashigen Klamauks: Das macht zwar immer noch Spaß, wird der komplexen und ja auch als komplex behaupteten Thematik nicht gerecht.

Vielleicht aber sind auch der Raum des Theaters, der 70-Minuten-Abend und die damit verbundenen dramaturgischen Anforderungen einfach das falsche Medium. Fernsehformate wie die anarchische Puppen-Sendung "Zwobot" auf dem längst vergessenen Sender VIVA Zwei oder die kultigen, mal mehr, mal weniger subversiven KiKa-Nachtschleifen sind beste Beispiele dafür, dass auch absurdes Objekttheater Nachdenkliches schaffen kann. So verschenkt "Dr. Kawis Erforschung des Einstellungsinventars der Liebesstile" sein Potential: Vielleicht würde das Forschungslabor als zwischen Trash und ernster Analyse tänzelndes Webformat in serieller Clip-Form oder tatsächlich als interaktive Performance-App deutlich stimmiger wirken.

Dr. Kawis Erforschung des Einstellungsinventars der Liebesstile
von Gin Müller/Barbara Kaiser/Tamara Wilhelm
Video und Animation: Nicolai Gütermann, Roman Soboszek, Tina Hochkogler, Bühne: Rupert Müller, Erzählstimme: Astrid Schwarz.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.brut-wien.at

 

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