Für Dich soll's tote Tauben regnen

19. November 2023. Die Geschichte ist berühmt, die Partie des Truffaldino eine Paraderolle der europäischen Theatergeschichte. Mit sensationellem Ensemble dringt Regisseur Antonio Latella zum brutalen Kern der Komödie vor. Eine Achterbahnfahrt zwischen Euphorie und Entsetzen.

Von Gabi Hift

"Der Diener zweier Herren" von Carlo Goldoni am Wiener Volkstheater © Marcel Urlaub

19. November 2023. Oh bella Venezia, wo der Himmel voller Tauben hängt und ein Gurren in der Luft liegt! "Ciao" begrüßt uns ein weißhaariger Venezianer mit grünem Samtbarrett und lockt uns hinein ins Land des Lachens. Uwe Schmieder gibt den Zeremonienmeister, stimmt uns ein auf ein Fest. Charmant präsentiert er alle Darsteller, die wir gleich im "Diener zweier Herren” bewundern werden und fordert für jeden einzelnen Auftrittsapplaus.

Und da marschieren sie schon auf: Clarice und Silvio, deren Verlobung gefeiert wird, ihre beiden Väter, Pantalone und der Dottore. Und Smeraldina, die Dienerin. Sie tragen genau die Kleider, die man auf den Figurinen aus der Zeit der Commedia del Arte sieht. Und sie performen elegant die klassischen Posen, die ihren Figuren zugeordnet sind.

Ammmmmooo-rrre!

Über die ersten Sätze, die die Verlobung festmachen sollen, kommen sie nicht hinaus, sie malen jedes einzelne Wort emphatisch mit großer Geste in die Luft, ihre Charakterbausteine werden gesampelt und gescratcht und münden in eine herrliche Choreographie aus Commedia-dell‘arte-Bewegungen. Irem Gökçen paraphrasiert alles mit einem angriffslustig grollenden "Ammmmmooo-rrre!” und Andreas Beck schmettert ein tadelloses "O sole mio”, zu dem die anderen mit schlackerndem Zungentremolo die Instrumente beisteuern. Man ist schon zum Lachen aufgelegt, aber es bricht noch nicht heraus.

Bis ER auftritt. Elias Eilinghof spielt nicht einen Truffaldino, sondern alle nur vorstellbaren auf einmal. Eilinghof nimmt absolut alles, was dieser Figur jemals zugeschrieben wurde. Zig völlig verschiedene Typen ergreifen im Zehnsekundentakt abwechselnd von seinem schlaksigen Körper Besitz: Es gibt den glucksenden Idioten, das Horrormonster mit Teufelszunge, den freundlichen Naivling, den scheeläugigen Hinterhältling, den faulen Gorilla, den jovialen Spaßvogel. Es bricht wie ein pausenlos feuerndes Tourettesyndrom aus ihm heraus.

"Scheiße, vierte Wand!"

Dabei schafft er auch noch lässig, einen Dialog mit dem Publikum zu führen, schimpft über die schlechtbezahlte Existenz des Dieners und über Schauspielerkollegen, die jetzt sicher sagen: Eh klar, dass der Piefke den Nestroypreis nicht gekriegt hat, rappt über seinen Hunger, macht verschiedene Schauspielertypen nach, knallt irgendwo dagegen ("Scheiße, vierte Wand”). Spätestens jetzt kommt das Publikum aus dem Lachen nicht mehr heraus.

Birgit Unterweger, Lavinia Nowak, Irem Gökçen © Marcel Urlaub

Auch die Intrige nimmt Fahrt auf: Truffaldino meldet der Gesellschaft die Ankunft seines Herren, jenes Federigo Rasponi, von dem alle dachten, er sei in einem Duell gefallen. Wenn er nun doch am Leben sein sollte, dann ist die gerade geschlossene Verlobung zwischen Clarice und Silvio null und nichtig. Clarice war nämlich Federigo versprochen. Was keiner weiß: Frederigo ist gar nicht Federigo – der ist tatsächlich tot –, sondern dessen Schwester Beatrice in Männerkleidern. Sie will das Geld, das ihrem Bruder zugestanden hätte und ihren Geliebten Florindo finden, der ebenfalls in Venedig sein soll.

Wütender Furor, vergnügtes Performen

Zufällig steigt Florindo im selben Gasthaus ab wie Beatrice, und Truffaldino tritt auch in seine Dienste, weil ihn Beatrice schlecht bezahlt. Silvio ist so frustriert davon, dass man ihm die Verlobte weggeschnappt hat, dass er ständig seinen Degen zieht und kämpfen will. Das sieht bei Mario Fuchs so aus, dass er Hose und Unterhose herunterlässt und in wütendem Furor seinen baumelnden Pimmel präsentiert, den er für eine gefährliche Waffe hält. Dafür wird er jedes Mal ausgelacht, egal ob von Mann oder Frau (und das wirkt mit jeder Wiederholung lustiger).
Als Beatrice der erotisch nach allen Seiten offenen Clarice enthüllt, dass sie in Wirklichkeit eine Frau ist und sie nichts zu befürchten hat, tun sich die beiden Frauen mit der Bediensteten Smeraldina (Lisa Schützenberger) zusammen und performen vergnügt Lick my pussy and my crack von Khia.

DER DIENER ZWEIER HERREN Marcel UrlaubIrem Gökçen, Stefan Suske © Marcel Urlaub / Volkstheater

Bis dahin siehts so aus, als würden Goldonis selbstbestimmte Frauenfiguren gar nicht schlecht in die heutige Zeit passen. Doch dann rastet Silvio aus, weil er denkt, Clarice habe ihm mit dem neuen Rivalen betrogen. Er beschimpft sie wüst und fantasiert, sie, falls sie doch heiraten sollten, direkt nach der Hochzeit zu ermorden. Jetzt unterbricht Smeraldina und meint, das könne man doch nicht mehr lustig finden. Die Männer wiegeln ab: Sie übertreibt, das sei doch nur Theater. Sie: "Uns haut man‘s um die Ohren, euch lässt man alles durchgehen. Und warum? Weil die Männer die Gesetze gemacht haben.”

"Der Vergwaltiger bist Du!"

Da muss schon zu Goldonis Zeiten den Männern die Spucke weggeblieben sein. Antonio Latellas Inszenierung führt das nun noch weiter: "Das Patriarchat ist ein Richter, der von Geburt an uns bestraft. Sein Urteil ist die Gewalt die du jetzt siehst: der Femizid. " Dem berühmten Text "Un violador en tu camino" der feministischen Gruppe "Las Tesis", der sich von Lateinamerika aus über die ganze Welt verbreitet hat – hier in Wien 2021). Mit ausgestrecktem Arm zeigt Smeraldina ins Publikum und skandiert: "Der Vergewaltiger – bist DU!”

Und der Vorhang fällt. Pause.

"Dauert nicht mehr lang”, sagt die Platzanweiserin an der Saaltür aufmunternd zu den Leuten, die ein bisschen betroppetzt zu den Plätzen zurückkehren. Aber gleich werden sie wie zu Anfang vom charmanten Uwe Schmieder begrüßt. Als sei nichts vorgefallen, führt er in aller Ruhe pantomimisch vor, wie er die Tafel fürs große Gastmahl deckt und genießt den Szenenapplaus wie ein Kind.

Wie kann das noch gehen?

Schon ist Truffaldino da, auch er wieder ganz in Form, zieht eine schöne Nummer mit einer Kasperlpuppe, seinem Alter Ego, ab. Brighella kündigt jedes Gericht an, das er servieren wird, und schießt dabei mit dem Zeigefinger in den Himmel – "peng!” – und eine tote Taube fällt auf die Bühne. Beim nächsten Gericht dasselbe- Peng!- und noch eine und noch eine. Und dann kündigt er die Nachspeise an: Pudding! Peng! Und nun regnet es hunderte tote Tauben, der ganze Bühnenboden ist bedeckt, die Drehbühne beginnt sich langsam zu drehen, leise Musik ertönt, "Tod in Venedig”. Ein wunderbares Bild, und nun ist alles verändert, das ist das Ende der Komödie.

Truffaldino müht sich noch redlich, es beiden "Herren” recht zu machen und das Publikum wieder zum Lachen zu bringen. Aber es klappt nicht mehr. Die Männer versuchen alles, damit die Sache wieder in komische Bahnen gerät, aber die Frauen können da nicht mehr mitmachen. Sie spielen keine Commedia dell‘arte mehr, sondern ganz ernst.
Als sich alles aufklärt und Beatrice und Florindo heiraten können, geht das noch geradeso durch als passables Happy End: weil beide Frauen sind.

Truffaldino wird gegen seinen verzweifelten Widerstand die schwarze Maske des Arlecchino aufgesetzt. Mit seiner anarchischen Freiheit ist es dahin, er wird seiner Rolle nie entkommen können. Bleibt Silvio, der, als er erfährt, dass Beatrice eine Frau ist und seine Ehre niemals in Gefahr war, sofort wieder bereit ist, Clarice zu ehelichen – wie es Goldonis Happy End für ihn vorsieht. Aber wie kann das noch gehen? Clarice sitzt im Publikum und starrt auf die Bühne. Wie kann das jetzt noch aufgelöst werden? Brighella, der Zeremonienmeister, tritt an die Rampe und wendet sich an sie: "Und du Clarice? Was wirst du tun?” Dann geht das Licht aus.

Gott, war so gut, ach! war so lieb ...

Einen älteren Herrn im Publikum regt das so auf, dass er sich beim Applaus nun Buh und Pfui rufend am ganzen Körper zitternd durch die Reihe zum Ausgang kämpft. Ein bisschen unfair ist es aber auch. Man kann nur über Dinge lachen, die man nicht ganz ernst nimmt, und dieses Nicht-tragisch–Nehmen ist eine Übereinkunft zwischen Schauspieler:innen und Publikum. Diesen Pakt haben sie uns am Anfang angeboten, mit all ihrem Charme und Witz, aber da wussten sie ja schon, dass sie später am Abend den Moralischen kriegen und sagen würden: Schluss, aus, über gewisse Dinge darf man nicht mehr lachen, zum Beispiel über einen angedrohten Femizid.

Und wir im Publikum sitzen da und können nur wie das verführte Gretchen sagen: "Doch alles, was uns dazu trieb, Gott, war so gut, ach! war so lieb”.

Der Diener zweier Herren
von Carlo Goldoni
Regie und Textfassung: Antonio Latella, Bühne: Giuseppe Stellato, Kostüm: Simona D'Amico, Sounddesign: Franco Visioli, Choreographie: Francesco Manetti, Isacco Venturini, Lightdesign: Ines Wessely, Dramaturgie: Federico Bellini, Anne-Kathrin Schulz.
Mit: Andreas Beck, Irem Gökçen, Lisa Schützenberger, Stefan Suske, Mario Fuchs, Uwe Schmieder, Elias Eilinghoff, Lavinia Nowak, Birgit Unterweger.
Premiere am 18. November 2023
Dauer: 2 Stunden, 45 Minuten, eine Pause

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

"Da inszeniert ein Neapolitaner, als ob er sich über die postdramatische Phase deutscher Stadttheater samt ihrer Steife lustig mache. Aus der Rolle zu fallen und über sie zu dozieren, gehört dort noch immer zum Standard. Schlimmer noch: Mit beinahe heiligem Ernst wird in Wien lustig gespielt. Das Ensemble war offenbar dazu angehalten, nachzumachen, was man für wesentlich in der Commedia dell’ arte hält", schreibt Norbert Mayer von der Presse (19.11.2023). "Und was wurde daraus? Dafür gibt es ein passendes Wort: 'Crucchi' nennt man die deutschsprachigen Typen, die das Land im Süden so gerne heimsuchen."

"Latella steigert die Verwirrung, indem er den Klassiker dekonstruiert, dabei die vierte Wand brechen lässt und Komisches durch Tragisches ersetzt. Hier wird die Vereinbarung mit dem Publikum gekündigt", schreibt Julia Schafferhofer von der Kleinen Zeitung (20.11.2023).

"Vieles wird hinterfragt, Erwartungshaltungen werden enttäuscht, gegen Ende wird der Abend immer dunkler. Die Handwerkskunst besteht darin, dass diese Vielfalt und das Ganze trotz des Aufbrechens funktioniert", schreibt Oliver A. Lang in der Kronen Zeitung (19.11.2023)."„Das Konzept trägt, es gibt starke Momente, der Witz packt allerdings etwas weniger."

Michael Wurmitzer vom Standard (19.11.2023) kann mit dem Stück nicht viel anfangen, wohl aber mit der Inszenierung. "Wie macht man den Stuss für 2023 fruchtbar? Man überführt ihn als solchen und potenziert ihn mit Körper- und Sprachkomik!" Zwar sei manches "irgendwie sehr 1990er", insgesamt habe der sympathische Abend aber einen guten, in sich stimmigen Sound und Sog sowie mit Eilinghoffs Truffaldino ein starkes Zentrum. "Anfangs skeptisch, registriert man zunehmend die wohltuende Kraft dieses – zur Abwechslung mal – Abbaus von Bedeutung in debattentechnisch derart hochgerüsteten Zeiten."

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