Ich will die Scheidung!

14. April 2023. Der Tod der Liebe: Wie viele Autor:innen hat er schon inspiriert. "Grand Horizons" von der amerikanischen Dramatikerin und Tony-Award-Preisträgerin Bess Wohl spielt routiniert auf der Klaviatur des Flügels mitten in der Ehehölle. Hier ist jeder Ton wellmade. Das Berner Ensemble weiß an diesem Flügel zu überraschen.

Von Andreas Klaeui

"Grand Horizons" von Bess Wohl an den Bühnen Bern in der Regie von Roger Vontobel © Florian Spring

14. April 2023. Mit der Ehe ist es so eine Sache. Mal ist sie das Paradies, mal die Hölle, und immer für ein paar Witze gut. Kein Wunder, ist die Institution beliebt bei Dramatiker:innen querbeet durch die Genres, von Strindberg bis Curt Goetz. Oder eben Bess Wohl. Die New Yorkerin hat unter dem satirischen Titel "Grand Horizons" eine Broadwaykomödie zum Thema verfasst, in der die Ehe für niemand "Rosige Aussichten" bereit hält – so lautet der Titel in der deutschen Übersetzung. Sie ist vielmehr eine Art Fegefeuer in einem Altenheim gleichen Namens.

Das hübsche Gleichnis aus dem Alltag

Und um es direkt zu sagen, dafür, dass er erst vier Jahre alt ist – die Uraufführung war 2019 – kommt Bess Wohls Text erstaunlich verstaubt daher. Es ist perfekt montiertes Wellmadeplay, klar. Da ist aber auch so manches schon von ziemlich weit vorhersehbar, erschöpft sich in der vorgefertigten Form, bleibt aufgesetzte Pointe, zeigt sich von der anekdotischen Anschaulichkeit eines Writer’s Workshop (immer ein hübsches Gleichnis aus dem Alltagsleben, das hilft zum Verständnis) und der simpel gestrickten Gefühligkeit eines einschlägigen Feelgood-Dramas.

Die Berner Inszenierung macht es leicht, darüber hinwegzusehen. Für das Berner Schauspiel hat der Schweizer Dramatiker Gerhard Meister den Text einer eingehenden Neubetrachtung unterzogen und in Schweizerdeutsch auf tendenziell örtliche Verhältnisse heruntergebrochen. Mit einigem attraktiven Lokalkolorit hat das eine ähnliche – nämlich belebende und schärfende – Wirkung auf das US-Fast-Food wie Aromat, die helvetische Allzweck-Streuwürze, die Irene ihrem Gatten Heinz hier eingangs noch ganz einvernehmlich zum Frühstücksei reicht. Ein perfekt eingespieltes Team sind die beiden (Heidi Maria Glössner, Stéphane Maeder), sie treten synchron auf wie Schautänzer, öffnen in gut eingeölter Parallelität den Kühlschrank, vollziehen ihr kleines Frühstücksballett, beschwingte Musik im Hintergrund. Bis sie ihm eröffnet: "Ich will die Scheidung." All right, sagt er, "alles guet, vo mir uus", und isst weiter.

Gloessner MaedercFlorianSpringDie Alltagschoreographie im Ehetrott: Heidi Maria Gloessner, Stéphane Maeder © Florian Spring

Weniger cool nehmen es die beiden Söhne Jürg und Dani (auch die Namen haben eine Helvetisierung erfahren, im Original lauten sie Nancy, Brian, Ben und Tommy). Für sie bricht eine Welt zusammen, vielmehr die Fassade einer Welt, die sie sich mühselig aufgebaut haben und um jeden Preis erhalten wollen – sie implodiert in knapp zweieinhalb Stunden komplett. Eltern haben beständig zu sein und überhaupt für die Kinder da, nicht umgekehrt, vielleicht repräsentieren sie sogar so was wie die Möglichkeit einer Liebesbeziehung, wenn schon lässt man sich scheiden, wenn die Kinder erwachsen sind und aus dem Haus, aber doch nicht nach 50 Jahren!

Die Eltern sind sexuelle Wesen?!?

Jürg (Jonathan Loosli) wird selbst Vater, seine Partnerin Nicole (Jeanne Devos) ist passenderweise Paartherapeutin. Dani (David Berger) hat generell Mühe mit Nähe und inszeniert Arthur Millers "Hexenjagd" als Kindertheater mit zweihundert Mitspielenden. Die neue Situation überfordert die Söhne maßlos, noch mehr wirft sie aus der Bahn, dass sie widerwillig feststellen müssen, dass ihre Eltern sexuelle Wesen sind.

Von da aus, an diesem Punkt, entwickeln sich die überraschendsten Szenen, im peinlichen Outing-Dialog zwischen Kindern und Eltern oder mal in einem kameradschaftlichen Beratungsgespräch über Masturbationshilfen zwischen Irene und Heinz' neuer Freundin Carla (Isabelle Menke). Mit dem freimütig und humorvoll angegangenen Thema der Alterssexualität findet das Stück am Ende doch noch den originellen Twist, der es sehenswert macht.

Tanz auf Messers Schneide

Überaus sehenswert ist aber in allererster Linie wieder das Berner Ensemble, das den Tanz auf Messers Schneide virtuos beherrscht, stets auf Pointe, ohne dabei boulevardesk zu werden, in Schweizer Mundart, ohne in Richtung Dialektschwank abzuschmieren. Sie können das, und spielen es catchy aus. Sie ziehen alle Register, mit sanfter Ironie und knallhartem Timing. Im Zentrum steht natürlich die eigensinnige alte Dame, gespielt von Heidi Maria Glössner, einer Grande Dame des Berner Schauspiels, es ist auch ihr Abend, ohne dass sie sich in den Vordergrund spielen würde. Roger Vontobel, der Berner Schauspielleiter, nimmt seinerseits das Leichte ernst, lässt die Figuren aus ihren Beziehungszusammenhängen heraus entstehen und kommt zu großer Dichte. Wer sagt’s denn: Aromat hilft!

 

Grand Horizons
von Bess Wohl
aus dem Englischen von Lynn Takeo Musiol und Christian Tschirner
Schweizerdeutsche Fassung von Gerhard Meister
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner, Kostüme: Romy Springsguth, Musik: Matthias Hermann, Dramaturgie: Julia Fahle.
Mit: David Berger, Jeanne Devos, Heidi Maria Glössner, Jonathan Loosli, Stéphane Maeder, Isabelle Menke, Viet Anh Alexander Tran.
Premiere am 13. April 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.buehnenbern.ch