vom zeugenschutz des raubwürgers - Neumarkt Zürich
Wenn der Wald glucksimmelt
15. März 2024. Vom größten Würger unter allen erzählt Kevin Rittbergers neuestes Stück: vom Menschen, der die Natur ausschlachtet und ihre Arten nach und nach killt. Am Zürcher Neumarkt macht der Autor und Regisseur ihm den Prozess. Mit überraschenden Anklägern.
Von Andreas Klaeui
15. März 2024. Der Raubwürger ist ein amselgroßer Vogel, der in Europa selten geworden, in der Schweiz als Brutvogel bereits ausgestorben ist. Ihm fehlen wilde Wiesen mit Hecken, Sträuchern und Bäumen. Sein Verschwinden weise "auf die zunehmende Verarmung der Landschaft hin, denn der Raubwürger ist ein Indikator für eine artenreiche Kulturlandschaft", schreibt die Schweizerische Vogelwarte Sempach auf ihrer Homepage.
Sammelklage nicht-menschlicher Rechtspersonen
Natürlich ist der ultimative Räuber und Würger der Mensch. Deswegen haben sich in Kevin Rittbergers jüngstem Stück zwar nicht die Vögel wie einst bei Aristophanes, aber die Wälder aller Länder zusammengetan, um den invasiven Multinationalen den Prozess zu machen. Die weltweit größten Waldgebiete fordern in einer Sammelklage ihre Rechte ein, vertreten durch eine "Akademie nicht-menschlicher Rechtspersonen".
Non-human Rights sind namentlich in Nord- und Südamerika ja in der Tat auf dem gerichtlichen Vormarsch. Im Zürcher Neumarkt vertreten sie zwei Anwältinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die eine (Sascha Ö. Soydan) verbindet KI mit Esoterik und Pachamama-Spiritualität, die andere (Yara Bou Nassar) verkörpert mehr den herkömmlichen schuljuristischen Typ. In einem Naturholz-Tribunal, das genauso gut als Wellnessbereich durchgehen könnte (Bühne Han Le Han), proben sie für den unmittelbar bevorstehenden großen Prozess. Handeln Pilze ethisch? Ist es der richtige Weg, Rationalität mit Rationalität zu toppen? Taugt uns die Pflanzen- und Tierwelt überhaupt nur dazu, unsern eigenen menschlichen Narzissmus zu spiegeln?
Nussiges Türgeräusch
Die Lage ist nicht besonders übersichtlich, wenig hilfreich sind die weiteren auftretenden Figuren: als "Advocatus Diaboli" ein Mythenbeauftragter (Challenge Gumbodete), der davon lebt, dass die Wissenschaft der einen Epoche die Sagenwelt der nächsten ist. Ein Bioakustiker (David Attenberger), der vordem als Autotürgeräuschdesigner tätig war, also dafür verantwortlich, dass das Türzuschlagen beim Ein- und Aussteigen möglichst wohlig klingt (ein "nussiger" Ton sei immer gut, versichert er). Und ein energetisch vollpositiver Coach (Kai Schumann), der gerne entspannungsgähnt.
Mit messerscharfen Pointen und subversiver Metaphorik führt uns Kevin Rittberger von der animistischen zur mechanistischen Weltsicht und vice versa, entwickelt eine schöne Semiotik des Waldes, den wir in der europäischen Literatur ja sonst eigentlich immer nur rauschen hören: "rascheln, schuscheln, knacksen, quietschen, knospen, sausen, winden, glucksimmeln, winken, myzelisch zischeln, wurzelglucksen, gärig erden". Die Mythologeme vermischen sich, germanisch, ägyptisch, japanisch, Isis-Kult, Wisentkühe. Rittberger kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, um jetzt mal im Bild zu bleiben, was aber durchaus vergnüglich und letztlich sogar wahrnehmungsschärfend ist.
Die Reduktion der Rationalität
Denn die grundlegende Frage wäre ja: Ist der Wald vor lauter Bäumen noch zu sehen? Synästhesie bedeutet nicht bloß einen Mehrwert an Sinnlichkeit, sondern möglicherweise auch den geeigneteren "Prozess" (als Verlaufssystem). Rittberger stellt seinem Stück ein Motto des französischen Existentialisten und marxistischen Humanisten Maurice Merleau-Ponty voran: "Wir haben zu sehen, zu hören und überhaupt zu empfinden verlernt, weil unsere Erfahrung verschoben ist." Das sagte dieser in den sechziger Jahren bezogen auf eine ganzheitliche Wahrnehmung – die Trennung von Sehen, Hören, Fühlen als isolierten Modi hat sich seither wohl eher noch bestätigt. Sie ist die Reduktion der Rationalität. Die Rechte der Natur demgegenüber, legt Rittberger nahe, "beschreiben das Recht der Verbundenheit aller Wesen". Also auf zum Waldbaden! Wenn es dafür nicht schon zu spät ist.
vom zeugenschutz des raubwürgers
von Kevin Rittberger
Text und Regie: Kevin Rittberger, Ausstattung: Han Le Han, Komposition: Houaïda, Video: Camille Lacadee, Dramaturgie: Hayat Erdoğan.
Mit: David Attenberger, Yara Bou Nassar, Challenge Gumbodete, Houaïda, Kai Schumann und Sascha Ö. Soydan.
Premiere am 14. März 2024
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.theaterneumarkt.ch
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