Das Landestheater Schwaben in Memmingen - Ein Haus bringt Frauen in die erste Reihe und hat Erfolg
Das Mutlabor
von Christian Muggenthaler
27. November 2019. Es ist sieben Jahre her, da führte die Regisseurin Kathrin Mädler das Publikum des Theaters Ingolstadt in den Untergrund. In den Kasematten alter Befestigungsanlagen arrangierte sie unter dem Titel Das Monster weint in unheimlicher, stockdunkler Umgebung ein beängstigendes Crossover zweier Texte: "Frankenstein" von Mary Shelley und die "autobiografischen Aufzeichnungen" des KZ-Lagerkommandanten Rudolf Höß. Es ging um jenes Experiment, in dem ein Gelehrter aus totem Material eine lebende Kreatur erschafft – ein zwar grusliges, aber rein literarisches Produkt. Und es ging um jenen schrecklichen Versuch, ganze Volksgruppen durch Massenmord aus dem Menschenkreis zu entfernen – ein Projekt, in dem aus Ideologie widerliche Wirklichkeit wurde.
Der Reisende, der Bühnenadaption eines Romans von Ulrich Alexander Boschwitz aus dem Jahr 1938, macht sie ein zeitloses Modell der Ausgrenzung und Entmenschlichung, während ziemlich zeitgleich auf der Studiobühne in Ein deutsches Mädchen die – wahre – Geschichte einer Aussteigerin aus der Neunazi-Szene dramatisiert wird.
Mädler zeigte: Das Böse kommt recht einfach in die Welt, ohne dass auch nur bemerkbar wäre, durch welche Tür es eingetreten ist. Auf einmal ist es da. Jetzt, als Intendantin des Landestheaters Schwaben, das seinen Stammsitz im Stadttheater Memmigen hat, ist das immer noch eines ihrer Themen: das, was im Untergrund lauert, der Umschlag von dem, was ja nur gesagt und gedacht wird, in die Wirklichkeit, das Verdrängen von Humanität durch die Verwüstungen von Schwarz-Weiß-Ideologien. AusHeraufordernde Ästhetik, leidenschaftlicher Spielplan
Intendantin Kathrin Mädler macht, kein Zweifel, politisches Theater und sie hat, wiederum kein Zweifel, frischen Wind nach Memmigen gebracht. Dort, ziemlich fernab von den größeren Theaterzentren, ist Theaterkunst zu sehen, die schon bald nach Mädlers Amtsantritt 2016 auch überregional wahrgenommen wurde: Mädlers Inszenierung von Christoph Nußbaumeders Historiendrama Margarete Maultasch – auch hier geht es unter anderem um die lähmende Kraft des blinden Dogmatismus – war für den diesjährigen deutschen Theaterpreis "Der Faust" nominiert, und 2019 gehörte das Landestheater Schwaben zu den mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichneten Häusern, weil, so die Jury, das Landestheater für herausfordernde Ästhetik stehe, für einen leidenschaftlichen und politischen Spielplan und einen starken Fokus auf das Junge Theater.
Wichtige Inszenierungen am Landestheater Memmingen unter der Intendanz von Kathrin Mädler
"Alles, was wir geben mussten"
In seinem (mit Keira Knightley auch verfilmten) Roman Was wir geben mussten hat der japanische Schriftsteller Kazuo Ishiguro ein Internat für Klone erfunden und lässt uns mit den gezüchteten Wesen fühlen. Thomas Ladwig hat den ergreifenden Stoff adaptiert. Steffen Becker berichtet.
"Glauben"
Die Macher von satellit produktion um Regisseurin Ana Zirner haben mit 20 Personen in den religiösen Hotspots von Memmingen Gespräche geführt und die Ergebnisse zu einer Art interreligiösem Dialog gegeneinander montiert. Steffen Becker war bei der Premiere.
"Das Käthchen von Heilbronn"
Intendantin Kathrin Mädler hat Kleists Käthchen von Heilbronn radikal gekürzt und den Schluss so umgestaltet, dass er wie ein feministischer Stinkefinger wirkt. Steffen Becker schreibt die Nachtkritik.
"Nebel im August"
Ernst Lossa hieß eines der Kinder, die während der Nazi-Zeit in der psychiatrischen Anstalt Kaufbeuren im Zuge des Massenmordes an psychisch Kranken, Menschen mit Defiziten oder Fehlverhalten getötet wurden. Robert Domes' Romanbiografie Nebel im August hat Kathrin Mädler inszeniert. Christian Muggenthaler war bei der Premiere.
"Margarete Maultasch"
Das Leben und Leiden der Gräfin von Tirol-Görz nimmt sich Christoph Nußbaumeder in seinem Historienstück Margarete Maultasch vor, das Kathrin Mädler am Landestheater Schwaben herausbringt. Hoch aktuell, sagt Christian Muggenthaler.
"Ein ganzes Leben"
Robert Seethaler erzählt in seinem Bestseller Ein ganzes Leben vom Lieben, Trauern und Altern eines einfachen Arbeiters in einem Bergdorf. Jana Milena Polasek adaptiert den Stoff erstmals für die Bühne. Steffen Becker war dabei und sah einen bitter-süßen Sundowner nach einem stressigen Tag der Postmoderne.
"Die Räuber"
Memmingen, 21. September 2019. Ironisierte Rollenbilder in Friedrich Schillers "Die Räuber"? Regisseurin Julia Prechsl wagt es, besetzt die Brüder Moor mit Frauen, kappt das Pathos. Christian Muggenthaler ist begeistert.
"Ein deutsches Mädchen"
Strammstehen, Saufen, "Zecken klatschen, Punks verprügeln". Mirko Böttcher inszeniert die Nazi-Aussteiger-Biographie Ein deutsches Mädchen nach der Buchvorlage von Heidi Benneckenstein. Willibald Spatz sah eine pointierte Aufführung und einen "guten Einstieg ins Thema Rechtradikalismus".
Das staatsministerielle Lob des Hauses Grütters hat weiteren Schwung gegeben hinein in eine Spielzeit 2019/2020, die das Motto "Es kommt darauf an" trägt und in der Gemengelage von Ängsten und Visionen die Position der Theaterkunst ergründet. Angefangen haben Mädler und ihre Chefdramaturgin Anne Verena Freybott in der Saison 2016/2017 mit einer Mischung aus "Mut und Blauäugigkeit", wie sie selbst sagen, mit viel Zeitgenossenschaft der Produktionen, vielen Uraufführungen, immer an Themen und Saisonmotti entlang, mit jungen Autor*innen, jungen Regisseur*innen, jungen Ausstatter*innen. Der eingegangene Weg abseits ausgetretener Pfade hat sich schnell als solide Start- und Landebahn für aufregende, gelungene, gedanklich herausfordernde und die Sinne kitzelnde Theaterstücke herausgestellt. Das Haus besitzt mittlerweile spürbar ein Gütesiegel. Das vor allem über Mundpropaganda weiterverbreitet wird, sagt Freybott.
Geschichten mit Haltung zur Gegenwart
Einerseits setzt das Team auf klare Erzählungen, auf Geschichten, weniger auf hochartifizielle Sprachspiele. Diese Erzählungen haben immer einen konkreten Bezug zur Gegenwart, sind Stellungnahmen in ihr. Theater ist in Memmingen nicht zuletzt: Haltung. Und andererseits werden Setzungen und Brechungen verwendet, die neue Blicke ermöglichen. Das Publikum ist ausgesprochen offen, freundlich und neugierig, wie man in der Stadt hört, manchmal aber auch irritiert über die drei Peers in der "Peer Gynt"-Inszenierung in der Mädler'schen Anfangssaison oder aktuell über die Besetzung von Frauenrollen durch Männer und Männerrollen durch Frauen in Julia Prechsls Einrichtung der Räuber.
Aber diese Brechungen sind nicht Selbstzweck, sondern haben ihren Sinn im Aufbrechen von festgefahrenen Sichtweisen, Rollenbildern, Klischees. Und sie sind auch Folge eines bewussten Setzens auf eine neue, frische, gern auch weibliche Sicht auf die Stoffe.
Der besagte spürbar frische Wind entsteht aus einem solchen neuen Blick. Die Zuschauer goutieren es im Großen und Ganzen; 1.350 Abonnente sind für ein solches Haus mit 400 Plätzen recht beachtlich. "Im dritten Jahr", sagt Mädler, "ist nochmal was passiert": Die Konsequenz des eigenen Handels werde belohnt, das motiviere, mache Mut. Mit einem Spielplan, der klare Linie hat, Kante zeigt, zu Neuentdeckungen einlädt, kann auch die "Provinz" schnell zu einem bundesweit registrierten Theaterzentrum werden.
Weil es nicht so sehr viele Kulturinstitute vor Ort gebe, gebe es "viel Freiheit für die eigene Linie", sagt Mädler. Das bedeute einerseits: "Wir mussten nur kommen." Und genau wegen dieser relativen Überschaubarkeit andererseits eine gute Möglichkeit, ein Netzwerk vor Ort zu knüpfen. Ein Beispiel: die Zusammenarbeit mit den Kirchen. Oder den Museen. Oder unter dem Dach der "sozialen Stadt". Seit 2016 gibt es auch die Bürgerbühne Schwaben.
Erfolgsformel Kommunikation
Ausgangspunkt von allem: die überaus kommunikativen, offenen, zugewandten Persönlichkeiten von Intendantin und Chefdramaturgin. Wenn man mit ihnen spricht, gehen ihre Statements fließend ineinander über. Und wenn sie die "ganz große Offenheit" in der Stadt ihrem Theater gegenüber schnell schätzen und lieben gelernt haben, wie Freybott sagt, gilt das mindestens genauso andersherum.
Offenheit geht immer nur wechselseitig. Ein Geist, der das Haus prägt. Als sie einmal mit Verwandten neugierig durchs Fenster in die offenen Werkstätten des großen Erweiterungsbaus von 2010 geschaut habe, habe man das neugierige Grüppchen gleich eingeladen, zu genauerer Inspizienz hereinzukommen, erzählt Alexandra Wehr, Pressereferentin der Stadt Memmingen.
Das Landestheater Schwaben
Historisches Stadttheater Memmingen
Vorläuferin des heutigen Landestheaters Schwaben war die nach 1900 entstandene Kraft'sche Companie, die einige Stücke in Memmingen probte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Stadt fester Bühnenstandort der Bayerischen Landesbühne München. Ab 1937 wurde die Bühne selbstständig und nannte sich Bayerische Landesbühne Sitz Memmingen. Das Memminger Ensemble war nach dem Zweiten Weltkrieg eines der ersten Theater in Westdeutschland, das 1945 den Spielbetrieb wieder aufnehmen konnte. Heute hat das Haus 42.694 Zuschauer (Spielzeit 2018/2019), davon 17.045 Schüler*innen und Kinder, und verfügt über einen Etat von 3.780.750 Euro (Kalenderjahr 2019).
Das Große Haus
Das Große Haus des Landestheater Schwaben befindet sich im historischen Gebäude des Stadttheaters Memmingen und verfügt über ca. 400 Sitzplätze.
Erweiterungsbau
Seit der Erweiterungsbau des Stadttheaters 2010 eröffnet wurde, verfügt das Haus auch über eine mit bis zu 99 Plätzen zu bestuhlende Studiobühne. Im Theaterfoyer gibt es zudem eine Bühne mit rund 70 Plätzen.
Reisende
Das Landestheater Schwaben wird von einem Zusammenschluss von Kommunen in Bayerisch-Schwaben, dem Zweckverband, getragen. Das Ensemble des Landestheaters tritt in 21 Städten und Gemeinden auf, auch außerhalb des Zweckverbandes. Neben modernen Theatern, Stadthallen und Kulturzentren werden auch historische Theater bespielt. Pro Saison finden circa 80 Gastspiele in rund 40 verschiedenen Spielstätten in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz statt.
Kathrin Mädler
Seit der Spielzeit 2016/2017 leitet Kathrin Mädler das Theater. Sie studierte Dramaturgie, Theaterwissenschaft und Komparatistik in München und Cincinnati/Ohio. Sie war Regieassistentin am Staatstheater Karlsruhe und am Burgtheater Wien, Dramaturgin am Staatstheater Nürnberg und Dramaturgin und Regisseurin am Theater Münster. Mädler lehrte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Universität Erlangen-Nürnberg und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit Juni 2019 ist sie zusammen mit Hasko Weber Vorsitzende der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins.
Anna Verena Freybott
Anne Verena Freybott, geboren 1974 in Hamburg, studierte Amerikanistik und Germanistik in Hamburg und Berlin, verließ die Universität ohne Abschluss und arbeitete in der freien Theaterszene in Berlin. Sie war Mitbegründerin und Leitungsmitglied der Berliner Theater Theaterdiscounter (2003-2008) und Heimathafen Neukölln (2007-2011). Es entstanden zahlreiche Formate, wie etwa die Theater-Reflexion "Spielplan Deutschland" die bundesweit zu Gastspielen und 2012 zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen wurde. Von 2012 bis 2016 war sie als Dramaturgin, Regisseurin und Theaterpädagogin am Jungen Theater Münster engagiert. Seit der Spielzeit 2016/17 arbeitet Anne Verena Freybott als Chefdramaturgin am Landestheater Schwaben.
Musentempel ist nicht mehr
Eine besondere Stärke des Hauses ist also sein Wirken in die Stadtgesellschaft hinein. Das ist deutschlandweit zwar nicht direkt neu, kann es für jeden einzelnen Ort dann eben doch wieder sein, wenn man dort bemerkt, dass die Themen und Menschen vor Ort erstgenommen werden, dass das Theater sich öffnet und mit der Bürgergesellschaft kooperiert. Musentempel ist nicht mehr. Auch das wird gern wahrgenommen.
Der Memminger Kulturamtsleiter Hans-Wolfgang Bayer beispielsweise, der die Arbeit am Landestheater als "sehr anregend, animierend, gegen den Strich gebürstet" beschreibt, mag einen solchen "partizipativen Anspruch", wie er sagt. Mag Kunstprojekte wie jene, als unter dem Titel "Vereinigte Vergangenheiten" das Landestheater zusammen mit der Künstlergruppe "geheimagentur" sich auf die Suche machte nach Geschichten und Relikten aus der Region Allgäu, unter anderem die für Regionalgeschichte so bedeutsamen "12 Artikel" aus der Zeit der Bauernkriege, um daraus Material für eine "Zukunftswerkstatt" zu gewinnen.
Glasklare Bühnenbildästhetik
Diese Frische, diese Offenheit trägt das Theater auch in die Region – und darüber hinaus. Das Stadttheater steht im Mittelpunkt eines Zweckverband-Netzes von 21 Kommunen in Bayerisch-Schwaben, dazu kommen weitere Gastspielorte bis nach Österreich und in die Schweiz. Insgesamt 80 Reisen unternimmt das Theater so in der Spielzeit, was bei den Inszenierungen stets berücksichtigt werden muss.
Unter anderem kommt es in dem Schauspielhaus, das auch stark auf das Junge Theater setzt und mit einem Ensemble von zwölf Schauspieler*innen 15 Eigenproduktionen auf die Bühnen bringt, immer wieder zu diesen präzisen, starken Bühnenbildern, dieser glasklaren Ästhetik von zumeist jungen Talenten. Wie Mareike Delaquis Porschka und ihr sich während der ganzen Handlung entfaltendes gigantisches Monster aus Ballonseide im "Reisenden". Birgit Leitzinger mit ihrem "Räuber"-Kampfgestell. Oder das zuckersüße Kartonagen-Pünktchen-Outfit von Franziska Isensee in "Konrad oder das Kind aus der Konservenbüchse".
Zwischen Inspiration und Frustration
Von ihren bisherigen Stationen am Staatstheater Nürnberg und am Theater Münster hat Mädler ein Netzwerk dieser Talente mitgebracht, die sich künftig noch stärker entfalten werden. Die Macherinnen eines Theaters, das nicht mit einem besonders üppigen Haushalt gesegnet ist, siedeln das eigene Tun deshalb irgendwo auf der Wegstrecke zwischen Inspiration und Frustration an: Man spürt die Grenzen, die aber zugleich auch Ansporn für Phantasie und Kreativität sein können.
Immerhin führt das dazu, dass das Theater Memmingen aus der Region herauslugt und wahrgenommen wird. Ist bestimmt kein Schaden für die Stadt Memmingen und alle anderen Mitglieder des Landestheaters Schwaben.
Christian Muggenthaler, geboren 1962, studierte Geschichte und Germanistik in Regensburg. Er lebt und arbeitet als Journalist und Autor in Regensburg und in Backnang, wo er als Dramaturg und Hausautor am Bandhaus Theater tätig ist. Außerdem erarbeitet er an verschiedenen Theatern unter der Überschrift "Lyrik ist nicht schwierig" Gedichtinterpretationen mit dem Publikum und schreibt für verschiedene Tageszeitungen und Magazine (Foto: Peter Litvai).
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