Utopie transkulturelle Theaterarbeit - Wie die deutsche Theaterszene in Modellprojekten geflüchtete Theaterleute integriert
Neue Kunst aus dem Exil
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 29. Januar 2018. Die Sehnsucht nach dem Rollback in Sachen Offene Theatergesellschaft ist groß, und die Tonlage wird aggressiver. Auf Landes- und Bundesebene macht die AfD Stimmung gegen den sogenannten "linken Mainstream" und verspricht – in den Worten ihres Vordenkers Marc Jongen – "die Entsiffung des Kulturbetriebs" (auf Twitter). Ein Angriffsziel ist, wie Jongen dem Spiegel erläuterte, die vermeintlich ideologische Kultur-Förderpolitik der letzten Jahre, die Begegnungsformate und interkulturelle Austauschangebote unterstützte.
Tatsächlich hat etwa die Kulturstiftung des Bundes in den letzten Jahren vermehrt Geld in Projekte gesteckt, die sich (auch) Völkerverständigung sowie die Selbstverständigung einer diversen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben haben. Damit fördert sie allerdings, was ohnehin zu den Grundbedingungen kultureller Aktivität gehört, wie der Theaterwissenschaftler Peter W. Marx unlängst auf nachtkritik.de in einem Essay über das "Phantasma des Nationaltheaters" anmerkte. "Multikulturalität und Kulturaustausch sind keine 'Erfindung' linker politischer Träumer, sondern eine historische Bedingung" der Entstehung von Kunst, schreibt Marx.
Aufbruch im Sommer der Willkommenskultur
Als Deutschland im Sommer 2015 die Augen nicht mehr davor verschließen konnte, dass in Syrien ein Krieg tobt, kamen auch Theaterleute ins Land, die aber trotz des #RefugeesWelcome-Überschwangs erst einmal den Kürzeren zogen. Der Kulturaustausch wurde hintangestellt, Geflüchtete im Theater zunächst vor allem dazu beschäftigt, als Laiendarsteller ihrer selbst authentisch zu leiden oder auch den globalen Norden, wahlweise den Kapitalismus im Ganzen anzuklagen. Ob sie eigene künstlerische Visionen beizutragen hätten, spielte dabei meistens keine Rolle.
Denn es ging im "Sommer der Willkommenskultur" mit neuem Pathos um gesamtgesellschaftliche Integration. Die Theater, Domänen der physischen Kopräsenz, stellten sich als Kennenlernorte par excellence zur Verfügung, weiteten – auch im Dauerkampf um Wiedereroberung gesellschaftlicher Relevanz und Erschließung neuer Publikumsschichten – spontan ihre soziokulturelle Arbeit aus, was in einem eng getakteten Betrieb natürlich auf die Dauer nicht zu halten war. Und auch die gesellschaftliche und politische Stimmung eignete sich schon bald nicht mehr dazu, auf ihr zu surfen. Mit einer absehbaren Not-GroKo und der AfD im Bundestag ist der "Sommer der Willkommenskultur" für die Erinnerung heute nur noch schwer zu erreichen.
Wie schwierig Integration in einer ohnehin diversen Gesellschaft für alle Beteiligten ist und dass sich die Mühe trotzdem lohnt, pointierte Yael Ronen am Maxim Gorki Theater Berlin bereits im September 2015 in "The Situation", einem utopischen Deutschkurs, in dem drei Palästinenser*innen, eine Israelin und ein Syrer auf einen kasachisch-deutschen Deutschlehrer treffen. Auf Arabisch, Deutsch, Englisch und mit Übertitelungen. Niemand nimmt ein Blatt vor den Mund, schnell überschneiden sich die Konfliktlinien, und das babylonische Sprachgewirr gebiert zum Schluss die streitgestählte Hoffnung auf ein neues Miteinander, von dem alle profitieren werden.
Die Erfindung des Exil Ensembles am Maxim Gorki Theater Berlin
Bezeichnenderweise entstand aus "The Situation" die Idee eines "Exil Ensembles" zur Integration geflüchteter Theaterleute, nach dem Vorbild des Zürcher Schauspielhauses, das nach Hitlers Machtergreifung verfolgten Theatermacher*innen künstlerisches Asyl bot. Im Herbst 2016 hat das Exil Ensemble am Maxim Gorki Theater die Arbeit aufgenommen, nachdem die Bundeskulturstiftung zunächst für zwei Jahre eine Förderung zugesagt hatte. Mittlerweile ist, vor allem durch Gelder vom Land Berlin, die Förderung für ein weiteres Jahr gesichert, in dem das Exil Ensemble, das bisher einen eigenen Programmpunkt bildet, in die regulären Abläufe des Gorki integriert werden soll.
"'The Situation' war therapeutisch, aber eigentlich will ich nicht immer über mich selber sprechen, deshalb habe ich mich in 'Winterreise' dafür entschieden, über Liebe und Beziehungen zu sprechen", sagt Maryam Abu Khaled. Sie ist eine von sieben jungen Schauspieler*innen aus Syrien, Palästina und Afghanistan, die dem Exil Ensemble angehören. Ihre erste Ausbildung erhielt sie im Freedom Theatre im palästinensischen Dschenin. "Da haben wir auch immer politisches Theater mit einer Message gemacht, über uns und unsere Situation gesprochen", sagt Abu Khaled. "Ich würde jetzt auch gerne mal die Julia spielen."
Winterreise war die erste Produktion, mit der sich das Exil Ensemble im Frühjahr 2017 auf der großen Bühne des Maxim Gorki Theaters vorstellte. Regie führte wieder Yael Ronen, die mit dem Team auf eine Recherchereise durch Deutschland ging, die sie unter anderem nach Dresden zur montäglichen Pegida-Demonstration und in die KZ-Gedenkstätte Buchenwald führte. In ihren Reiseberichten offenbaren sich die Geflüchteten als junge Menschen mit ganz normalen Identitäts-Issues, die sich in der Gruppe unter dem ebenso aufgeladenen wie schwer zu ignorierenden Label "geflüchtet" zusammenfinden und einen satirischen Außenblick auf ihre neue, vielleicht ja nur einstweilige Heimat kultivieren – aber als Einzelne dann eher über Allerweltsthemen nachdenken wie: Wie funktionieren Liebesbeziehungen? Wie und wo lerne ich jemanden kennen?
Die Kula Compagnie in Weimar
Während die Spieler*innen, wie es meistens der Grundstimmung in Yael Ronens Doku-Fiktionen entspricht, privatistisch in ihren Alltagsklamotten daherkommen und sich einem exotisierenden Blick auf die "fremden Kulturen", denen sie entstammen, lässig verweigern, zieht die – wie das Exil Ensemble von der Bundeskulturstifung geförderte – Kula Compagnie des Regisseurs Robert Schuster das transkulturelle Arbeiten über künstlerische Unterschiede auf und setzt bei den Spielweisen an. In ihrem "Laboratoire" begegnen sich deutsche (vom DNT Weimar), französische, israelische und afghanische Schauspieler*innen – vier Theatertraditionen, fünf Sprachen (als Übersetzungssprache kommt Englisch dazu).
"Der Wille, den Anderen zu akzeptieren – kann er im Spiel geübt werden? Und könnte dieser spielerische Wille zur Akzeptanz endlich als existentiell begriffen werden für ein modernes Europa?" Mit diesen Ausgangsfragen werden Kula in ihrer Selbstdarstellung politisch. Zur Politisierung des Vorhabens dürfte noch beigetragen haben, dass den afghanischen Gastkünstler*innen des AZDAR Kollektivs 2016 die Einreise nach Deutschland vom Auswärtigen Amt nur unter dem Vorbehalt gestattet wurde, dass deutsche Staatsbürger für den Fall eines Asylantrags per Privatbürgschaft garantierten, die Kosten zu tragen. An der ersten Produktion Kula – nach Europa konnte nur ein bereits in Europa weilender AZDAR-Spieler mitwirken, erst bei der zweiten, die 2017 ebenfalls im Rahmen des Kunstfests Weimar herauskam, Malalai – die afghanische Jungfrau von Orleans, war dann die ganze Gruppe dabei, die, nachdem sich Bürgen gefunden hatten, Visa schließlich nur unter der weiteren Auflage bekommen hatte, dass sie ihre Partner*innen in Afghanistan nicht nach Deutschland mitnehmen durften.
In einer der Vorstellungen des Stücks "Heartbeat. The Silence after the explosion" des AZDAR-Kollektivs sprengte sich im Dezember 2014 in Kabul ein Selbstmordattentäter in die Luft und riss mehrere Zuschauer in den Tod. Immer wieder platzt das Trauma auf in "Malalai", das Friedrich Schillers "Jungfrau von Orleans" mit der Geschichte der afghanischen Nationalheldin Malalai von Maiwand verwebt. Anders als bei Yael Ronen sprechen die Spieler hier nicht privat, wird jeder Authentizitätsverdacht durch übertriebenes Spiel auf allen Seiten im Keim erstickt. Nicht die Menschen verständigen sich stellvertretend für uns, sondern die Theaterkulturen, die sie sozialisiert haben – zunächst.
Die Spieler*innen des AZDAR-Kollektivs agieren stereotypisch laut, outriert, nach vorne, die deutschen Spieler*innen betont leise und ironisch, globale Machtverhältnisse werden zunächst auch zuverlässig in der Besetzung der Afghanen als Franzosen und der Deutschen als Briten gespiegelt – aber es bleibt nicht beim Nebeneinander. Wenn zum Beispiel eine Schiller'sche Vergebungs-Szene eine Diskussion darüber auslöst, wer wem was verzeihen kann. Ein AZDAR-Spieler spielt die Möglichkeit durch, dem "Heartbeat"-Selbstmordattentäter zu vergeben. Die Bühne als utopischer Raum macht's möglich, erst dann kann es weitergehen im Stück.
Die Kraft des alten "Als ob"
Und Johanna, die zunächst dreifach als "Frau", "Volk", "Nation" in französisch-französisch-israelischer Besetzung die Bühne betritt und sich mit sich selbst nicht einig ist, wird später zur nach der historischen Malalai benannten Friedensnobelpreisträgerin Malalai Yousafzai, die von einem afghanischen Mann gespielt wird, mit leiser Würde. Was war nochmal der afghanische Stil? Und was wäre der deutsche? In der Auflösung solcher Kategorien ist der Abend traditionellste Verwandlungskunst, wird erfolgreich auf das alte "Als ob" des Theaters vertraut, in der Verschmelzung der Spielweisen neue ästhetische Perspektiven zu stiften.
So unterschiedlich "Winterreise" und "Malalai" gedacht sind, gemeinsam ist ihnen das prototypisch karge Bühnenbild, als müsste sich die Transkulturalität erst einmal als Provisorium verstehen. Die Bedeutung der Bilder rückt in den Hintergrund, es triumphiert die Sprache, im Plural. Einer Inszenierung, in der Dari, Französisch, Hebräisch, Deutsch und Englisch gesprochen wird, zu folgen, ist allerdings anstrengend – und die Anstrengung des Publikums überträgt sich interessanterweise auf die Schauspieler*innen, so sagt Maryam Abu Khaled aus dem Exil Ensemble des Gorki Theaters: "Ich will irgendwann dahinkommen, dieselbe Sprache zu sprechen wie mein Publikum, denn jetzt sehe ich, wenn ich ins Publikum schaue, wie die Leute nicht mich, sondern die Übertitel angucken. Es ist ein anderer Kontakt, wenn man dieselbe Sprache spricht."
Das Kinder- und Jugendtheater ist weiter
Im Kinder- und Jugendtheater ist das kein großes Thema. "Im Jungen Theater ist die Hürde für die Mehrsprachigkeit allein aufgrund der diversen Zusammensetzung seines Publikums nicht besonders hoch", erklärt Barbara Kantel, Leiterin des Jungen Schauspiel Hannover. "Die Kinder und Jugendlichen wachsen in der Regel mit Mehrsprachigkeit auf und wechseln locker zwischen den Sprachen – aktiv oder passiv." Das (Erwachsenen-)Theater hinke da "leider furchtbar hinterher".
Kantel stellte im November 2017 bei der Netzwerktagung "New Connections" in der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel das Yalla Projekt des Jungen Schauspiels Hannover vor, in dem geflüchtete Theatermacher*innen mit geflüchteten und deutschen Jugendlichen – mit- und ohne Migrationshintergrund – Inszenierungen erarbeiten. "Yalla" ist ein typisches Beispiel der im Kinder- und Jugendtheater bereits weit verbreiteten trans- (und sozio-)kulturellen Arbeit, deren Spannbreite im Frühjahr 2017 beim "Willkommen Anderswo III"-Festival in Bautzen zu erleben war.
Bei der "New Connections"-Tagung ging es aber in erster Linie darum, geflüchtete und deutsche professionelle Theatermacher*innen miteinander bekannt zu machen. Wozu werden Schauspieler*innen / Regisseur*innen / Autor*innen / Musiker*innen in Syrien und Afghanistan ausgebildet, welche Berufsprofile und Einstiegsmöglichkeiten gibt es hier? Wie könnte das zusammenpassen? Als von der Bundeskulturstiftung gefördertes Leuchtturm-Projekt war das Open Border Ensemble der Münchner Kammerspiele zu Gast, das derzeit plant, Künstler*innen unter anderem aus Syrien für ein Jahr nach München einzuladen, um einem Aufruf an die neue Bundesregierung, ein Visa-Kontingent für verfolgte Künstler*innen zu schaffen, modellhaft Nachdruck zu verleihen. Bezeichnend der Zwischenruf einer syrischen Schauspielerin aus dem Tagungspublikum: "Warum kümmert Ihr Euch nicht um die, die schon hier sind?"
Denn, das wurde schnell klar, in den Regionen abseits der Zentren kennen sich geflüchtete Künstler*innen und Theaterbetrieb noch nicht besonders gut, das Verhältnis ist von Berührungsängsten auf der einen und Vorurteilen auf der anderen Seite geprägt. Den "Welcome Café Boom" an den Theatern etwa erlebten viele geflüchtete Künstler*innen auf die Dauer als positiven Rassismus, fühlten sich als – wenn auch herzlich begrüßte – Geflüchtete über einen Kamm geschoren und mit ihren speziellen Wünschen, Zielen, Vorschlägen nicht ernst genommen.
Auf den Punkt brachte die Positiver-Rassismus-Falle bereits 2014 Nicolas Stemanns wegweisende, Repräsentationstheater-selbstkritische Jelinek-Uraufführung Die Schutzbefohlenen, die das Theatertreffen 2015 eröffnete und im Laufe des Festivals heftige Diskussionen darüber auslöste, ob sie nicht selbst Rassismen reproduziere, indem sie die Geflüchteten als (Laien-)Chor auftreten ließ und an einer Stelle mit Blackfacing gearbeitet wurde, wenn auch als Zitat. Nur indem sie sich aber so deutungsoffen zeigte, konnten blinde Flecken des Betriebs in den Fokus geraten.
Um solche blinden Flecken weiter, stetig ins Bewusstsein zu rücken und um konkrete Möglichkeiten der Zusammenarbeit auszuloten, sind Folgeveranstaltungen zu "New Connections" geplant. Die Tagung wurde angestoßen und mitorganisiert von Nina de la Chevallerie vom Göttinger Boat People Projekt, das seit 2009 sozio- und transkulturelle Theaterprojekte macht und sich seit 2015 verstärkt auf die künstlerische Arbeit mit geflüchteten Theaterprofis verlegt hat. De la Chevallerie hat außerdem beim niedersächsischen Kultusministerium eine Netzwerkstelle beantragt, die als Freie-Szene-Beratungsstelle speziell für geflüchtete Theatermacher*innen beim LaFT Niedersachsen angesiedelt werden soll. Es wäre ein Pionierprojekt.
Auf Langfristigkeit legt es auch das Maxim Gorki Theater mit seinem Exil Ensemble an, sagt Gorki-Co-Intendant Jens Hillje: Für den aktuellen ersten Jahrgang sei das Ziel, die Schauspieler*innen fit fürs deutsche Stadttheatersystem zu machen, zwei der Spieler*innen würden nach Ablauf der Förderung ins reguläre Gorki-Ensemble übernommen. Perspektivisch wolle man das Exil Ensemble zu einem Modellprojekt entwickeln, in dem beide Seiten auf der gemachten Erfahrung aufbauen und gemeinsam einen künstlerischen Weg weitergehen. Es ginge um einen gegenseitigen Austausch über verschiedene Theatertraditionen und ästhetische Systeme. Außerdem wolle man die Förderung geflüchteter Künstler*innen auch auf die Bereiche Regie, Autorenschaft und Theaterpädagogik ausdehnen, so Hillje. Tatsächlich stehen bei den meisten Projekten bisher die Schauspieler*innen im Fokus.
Raus aus dem Provisorium
Bestimmt hat der "provisorische" Eindruck vieler transkultureller Inszenierungen auch etwas damit zu tun. Aber auch mit Zeit: "Sich auf Augenhöhe auszutauschen ist ein Lernprozess, es dauert länger als man denkt", sagt Jens Hillje zu den Erfahrungen mit dem Exil Ensemble. Als Anstoß sind Zweijahres-Förderungen der Bundeskulturstiftung richtig und wichtig (gewesen, die Förderung der Kula Compagnie ist schon ausgelaufen), aber es sollte nicht bei symbolpolitischen Markern bleiben, gerade nicht in Zeiten, in denen die AfD Angriffsflächen sucht. Vorzeigeprojekte, die nicht ästhetisch ausreifen dürfen, tun niemandem etwas Gutes.
Wenn transkulturelles Theater aus einer und für eine diverse Gesellschaft nicht im Provisorium verharren, sondern tatsächlich in der Breite einen ästhetischen Neustart hinlegen will, muss es also viel stärker als bisher in den bestehenden Strukturen verankert werden. Schließlich wächst vom Kinder- und Jugendtheater her ein in dieser Hinsicht anspruchsvolles Publikum heran.
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