Lizenz zum Anöden

29. August  2023. "Ist Spannung spannend?", fragte der große Hans-Thies Lehmann. Und legte in seinem Klassiker "Postdramatisches Theater" nahe: Nein, Spannung oder Dramatik braucht es nicht mehr. Aus Anlass seines ersten Todestages lohnt sich die Revision dieser These: Kommt gutes Theater wirklich ohne Spannung aus? Ein Text der Saison.

Von Christian Rakow

"Spannung ist Kaugummi fürs Gehirn", meinte Alfred Hitchcock. Doch das postdramatische Theater sagt: No! © Samer Daboul / Pexels

13. Juli 2023. Kennen Sie diesen Moment, wenn Sie auf Ihrem Polstersessel im Parkett langsam ganz unruhig werden und leise bedauern, dass Sie das Saalpersonal nicht nach der Spieldauer des Abends gefragt haben? Weil das Stück vor Ihnen so gar keine Signale sendet, wann und wie es ein Ende finden könnte? Weil keine Intrige überstanden, kein Vatermörder gerächt werden muss? Weil es nicht einfach langweilig ist, sondern weil Langeweile und Spannung von vornherein so gar keine Rolle zu spielen scheinen? Dann kennen Sie das postdramatische Gefühl. Das schlechte postdramatische Gefühl, muss man präzisieren. Denn es gibt auch ein gutes. Davon später mehr.

Das ist ja wie Netflix!

In dem Buch "Postdramatisches Theater" des großen, vor einem Jahr verstorbenen Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann hat mich ein Kapitel immer stark beschäftigt. Es ist betitelt "Ist Spannung spannend?". Und Lehmanns Antwort auf diese Frage lautet ziemlich klar: Nein. Beziehungsweise: "Im Kriterium der 'Spannung' lebt das klassische Dramenverständnis, genauer: ein bestimmtes Ingredienz davon, weiter. Exposition, Steigerung, Peripetie, Katastrophe: so altbacken sich das anhört, es wird von der unterhaltsamen Story in Film und Theater erwartet." Wann immer Leute an Theater herumkritteln "Das ist aber nicht spannend!", legen sie also das aus Lehmanns Sicht ungute Maß der aristotelischen Poetik an, so wie sie in Film- und Fernsehunterhaltung fortdauere.

In dem Kapitel steckt viel von dem Charme, den Lehmanns Studie für das Theaterschaffen in den letzten drei Jahrzehnten ausmachte: Auf dem Höhepunkt des Privatfernsehens der 1990er Jahre markierte sie eine Nische, in der sich das Theater behaupten konnte und auch heute noch in Zeiten der Streaming-Dienste zu behaupten hofft: Die Bühne erscheint ihr als Gegenentwurf zu den Erzählweisen, die in den Massenmedien vorherrschen.

Das ist ja wie Netflix! Drama am Residenztheater in Matthew Lopez' "Das Vermächtnis", inszeniert von Philipp Stölzl am Münchner Residenztheater © Sandra Then

Mit dem Abschied vom aristotelischen Drehbuch gewann Lehmann dem Theater sein zirzensisches Moment zurück: Die Feier der körperlichen Präsenz, die Lust an Verwandlung, Artistik, Clownerie, an Atmosphären, an leiblicher Erfahrung, überhaupt die Aufmerksamkeit für sinnbefreit schöne Vorgänge wie Hämmern, Stampfen, Springen, Hüpfen, Brüllen – all das und mehr ist ja zu entdecken, wenn man das Theater nicht auf Wiedergabe einer vorab gegebenen textlichen Struktur (Drama) verpflichtet.

Aber von der selbstbewussten Positionierung in der Nische hin zur Selbstmarginalisierung ist es nur ein kleiner Schritt. Heute noch hört man Publikum und Kritik mitunter selig jauchzen "Das ist ja wie Netflix!", wenn es im Theater packend und saftig zugeht (zuletzt geradezu stakkatohaft bei Matthew Lopez' schwuler Soap Opera "Das Vermächtnis"). Die Messlatte, von der man sich lossagen wollte, steht weiter stabil.

Drei Saltos mit Schraube

Aber ist es überhaupt nötig, Spannung so eng mit dem traditionellen Dramenmodell zusammenzudenken? Spannung bedeutet ja zunächst einmal nichts anderes als: ein Ernstnehmen des Publikums. Wie schon die Germanistik oder auch Handbücher für angehende Autor*innen lehren, geht es dabei darum, eine Leserin (oder die Person im Parkett) auf geschickte Weise in die dargestellte Situation hineinzuziehen. Spannung ist (laut "Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft") ein "Mangel an Information, verbunden mit dem Wunsch, ihn aufzuheben". Und um diesen Mangel überhaupt zu bemerken, muss man als Rezipient wenigstens einigermaßen darüber im Klaren darüber sein, wohin einen die Suche nach Information treiben soll. Man braucht einen erkennbaren Rahmen mit möglichen Optionen. Oder wie die Literaturwissenschaftlerin Daniela Langer sagt: Spannung beruht "auf einer Diskrepanz zwischen dem Erwarteten und dem im Text Realisierten". Das gilt selbstredend nicht nur für Texte. Jegliche zur Schau gestellte, zielgerichtete Aktion evoziert die Erwartung auf Gelingen oder Misslingen (Was-Spannung), oft begleitet von der Frage, in welcher Weise die Lösung verlaufen wird (Wie-Spannung). Wird die Turmspringerin ihre drei Saltos mit Schraube hinkriegen, und wird es auch noch wundervoll mühelos aussehen? Eine Frage der Spannung, ganz ohne Aristoteles.

Wie sieht das eigentlich aus, wenn sich das Theater solch einem Spannungsspiel versagt? Dann sind wir bei der Postdramatik, wie sie uns auf den deutschsprachigen Gegenwartsbühnen regelmäßig begegnet. Sie kommt immer noch vom Text her, nur eben nicht mehr vom Drama (ganz entgegen der Absicht von Hans-Thies Lehmann, der ja das Bühnenereignis vom Text emanzipieren wollte, hat die postdramatische Poetik gerade im schreibenden Fach reiche Früchte getragen). Ihr grundlegendes Merkmal ist der Wegfall dessen, was man in der Literaturwissenschaft als Diegese bezeichnet: die fiktionale Welt, in der Figuren konkrete Ereignisse durchleben. Literaturen mit solchen gegenständlichen Welten herrschen in der belletristischen Erzählkunst vor (jüngst einschlägig von Moritz Baßler in "Populärer Realismus" beschrieben). Weil darin die Erzählerrede primär auf die ersonnene Welt und das, was in ihr passiert, abgestellt ist, lassen sich diese Literaturen gut nacherzählen (die Paraphraseprobe ist der Test für solche realistischen Literaturen).

Unsere Theaterliteratur ist etwa in den 1980er Jahren anders abgebogen. Sie setzt gewissermaßen auf die reine Rede (discours), die nicht auf ein erzähltes Geschehen hin durchsichtig werden will. Sie mag mitunter Situationen "anzitieren", aber wirklich repräsentieren will sie sie nicht. Nichts wird in ihr verkörpert – keine Figur, keine Aktion, keine Interaktion. Alles bleibt Zeichen, also Wort ohne Objekt. Der Diskurs ist tendenziell monologisch, zur Rampe gerichtet, auf der Bühne sehen wir Kollektive von Schauspieler*innen, die sich diese Texte wie in Jam Sessions "herumreichen", mal solistisch, mal chorisch, mal im Ringelreihen. Rainald Goetz, Thomas Köck, Katja Brunner oder Wolfram Höll haben in unterschiedlichen Nuancen diese Postdramatik geprägt (und ihr Siege bei den Mülheimer Theatertragen eingetragen).

Die Protagonistin ist gleichwohl seit gut vier Jahrzehnten Elfriede Jelinek, mit allein zweiundzwanzig Einladungen zu den Mülheimer Theatertragen und vier Siegen beim dortigen Dramatikpreis (dieses Jahr schrammte sie nur knapp an der Trophäe vorbei). Schauen wir sie pars pro toto genauer an.

Schweinsgalopp am Königsweg

Mir ist aus den letzten Jahren "Am Königsweg" eindrücklich gewesen, Jelineks Stück zum Amtsantritt des US-Präsidenten Donald Trump von 2018. So liest sich dort der Einstieg in den Redetext:

Von wem will ich da überhaupt sprechen, darüber muß ich mich mit mir verständigen.
Erst mal würde sich ja Schweigen anbieten, das wäre mir lieber, es macht keine Arbeit.
Blind sein: auch sehr praktisch. Laßt von mir ab, das macht ihr ohnedies, laßt von mir
ab, denn ich bin krank und verstehe nichts, ich sehe nicht, ich sehe doch, nein, doch
nicht, Netzhaut vor, noch ein Tor!, ich arme Blinde verstehe nicht, was ich da bestellt
habe, ist das ein Vogelhäuschen oder die neue Garage, zumindest der Carport, den ich
mit Efeu zuwachsen lassen will, falls es das überhaupt ist, was ich bestellt habe. Falls ich
das bestellt habe, was ich bekommen habe. Ich weiß nicht, was kommt. Von meiner
Mutter will ich nicht sprechen, niemals, wie es jetzt mit ihr bestellt ist, interessiert mich
einen Dreck, ich werde das auch nicht ausführen. Was ich ungewollt verschuldet habe?
Also der König hat mehr am Kerbholz, er ist derzeit beschäftigt, er muß Millionen
Kerben in seine Pistole schnitzen, natürlich nicht in den Lauf, der ist zu hart; aber einen
Lauf hatte der, unglaublich! Wirklich niemand glaubt es. Und alle seine Verwandten
sind nicht gekauft, sie kaufen selbst ein. Wenn sie einmal die Sonne sehen wollen, dann
fahren sie hin, und dann sehen sie sie halt. Nein, ich erwähne meine Mutter nicht, des
Vaters Mörderin, doch ich habe mitgeholfen, vielleicht war es sogar mehr als Hilfe.
Achtung, hier kommt der neue König, schnell das Gerät aufdrehn!, sieh zu, du blöde
Kuh, daß du ihn nicht mit Schmach bedeckst! Paß auf, daß er dich nicht aus dem Land
treibt! Aber es ist doch ein andres Land, in dem ich bin! Ach, dem fällt schon was ein!
Nein, das andre Land kauft er nicht, er konzentriert sich auf sein Zuhause.

Für Texte wie diese hat sich im Feuilleton der Begriff "Textfläche" eingebürgert. Damit ist nicht nur der optische Auftritt gemeint, mit den eng bedruckten Zeilen und dem weitgehenden Verzicht auf Gliederungen in Absätze, Kapitel, Akte oder dergleichen. Auch nicht allein der Wegfall von identifizierbaren Sprecher*innen (Figuren) zugunsten anonymer Sprechinstanzen. Wesentlich ist der radikale Abschied von landläufigen Thema-Rhema-Strukturen, wie es in der Sprachwissenschaft heißt; also die Verweigerung einer geduldigen Entfaltung des Redegegenstands. Der Monolog bewegt sich rasant vom "Ich" des ersten Satzes, das wohl mit der Subjektposition der Autorin korrespondiert ("wovon will ich da überhaupt sprechen"), über die Imagination als blinde Seherin bis in eine Elektra-Assoziation hinein ("Nein, ich erwähne Mutter nicht, des Vaters Mörderin, doch ich habe mitgeholfen...").

Soeben war man noch in einem nicht genauer bestimmten Nahbereich beim "Vogelhäuschen" oder "der neuen Garage", dann hechten wir mit nahezu jedem Satzwechsel in entfernte Trump-Referenzen (Kerbholz, Pistole, käufliche oder kaufkräftige Verwandte), in altphilologische Gelehrtheit und wieder zurück zum Ich des Beginns ("mein Land"). Und zwischendrin wird die poetische Funktion strapaziert und die Homonyme purzeln ("Kerben in seine Pistole schnitzen; natürlich nicht in den Lauf, der ist zu hart; aber einen Lauf hatte der, unglaublich.") Von Lauf zu Lauf, das ist der Style der Zeilensprinterin Elfriede Jelinek. Gedanken sind ihr dabei wie Hindernisse: aufgestellt, um schnellstmöglich übersprungen zu werden.

AmKoenigsweg10 1200 Arno Declair uRegietheatral entflammt: Benny Claessens in "Am Koenigsweg" von Elfriede Jelinek, inszeniert von Falk Richter am Deutschen Schauspielhaus Hamburg 2017 © Arno Declair

Wo solcherart auf thematische Anschlüsse zwischen Satz und Satz verzichtet wird, stellt sich recht bald eine unangenehme Asymmetrie ein: Während man bei einer Buchlektüre daheim im eigenen Lesetempo noch die Sprünge ansatzweise nachvollziehen und mit den entsprechenden Kontexten verstehbar machen kann, ist man mit dem gesprochenen Wort auf der Bühne eigentlich aufgeschmissen. Als Zuschauender wird man zum Spielball einer Ätsch-Bätsch-Dramaturgie, die den spontanen Einfall feiert und sich um Kontinuitäten wenig schert. Damit ist zugleich so etwas wie Zielspannung, mystery oder suspense, systematisch ausgeschlossen. Was bleibt, ist Rauschen, Sound, genauer: bedeutsam raunender Sound, weil der tiefe Ton der aufploppenden Hochkultur-Zeichen (König, Blindheit, Antike) natürlich kräftig mitklingt.

Bei Jelinek und vielen ihrer postdramatischen Epigon*innen erleben wir ein im weitesten Sinne lyrisches Sprechen. Ein Ich bekundet sich, es macht Setzungen, frei nach Gutdünken, quasi apodiktisch. Es kostet den Klang der Worte und pfeift darauf, in welche Situation oder gar nachvollziehbare Aktion diese die Zuhörenden mitnehmen könnten. Wie sind die Informationen verzahnt, wie gelangt man nur von A zu B, und wie wird es weiter zu C hinübergehen? Solche Befragungen von Zusammenhängen, in die man sich erwartungsvoll hineinbegeben könnte, fallen weg. Bei Jelinek lohnt es sich nicht, irgendwie mitzurätseln. Es kann bei ihr nachvollziehbarer Weise nichts schief gehen und nichts gelingen. Weil eigentlich nichts auf dem Spiel steht.

Um dennoch halbwegs anzudeuten, wann der Schweinsgalopp durch den Assoziationsparcours bewältigt ist, blendet der Regisseur Nicolas Stemann in seinen Jelinek-Inszenierungen gelegentlich eine Zählung ein, die die Seitenzahlen der Vorlage in ablaufenden Nummern anzeigt.

Die Freiheiten des Regietheaters

Warum ist diese Art Literatur und Elfriede Jelinkes im Besonderen überhaupt derart beliebt bei Regisseur*innen in unseren Tagen? Also abseits des offensichtlichen, parasitären Mehrwerts, dass man mit dem Namen Jelinek ein gesamtgesellschaftliches Wissen anzapfen kann: den Nimbus der Streiterin für Feminismus und gegen alles Autoritäre, den Ruhm der Nobelpreisträgerin und schärfsten Kritikerin des österreichischen Konservativismus. Konkret ästhetisch erlaubt Jelinek mit ihrer weitreichenden Laisser-faire-Einstellung gegenüber Textumsetzungen eine maximale Freiheit für Regisseur*innen (und mithin den erforderlichen kreativen Raum, um die eigene Regie-Marke nach den Diskursregeln des vorherrschenden Regietheaters zu pflegen).

Von der seinerzeit wirklich prägenden und mit der Ehrung "Inszenierung des Jahres" ausgezeichneten Uraufführung von Falk Richter aus dem Jahr 2018 sind mir vor allem drei Momente erinnerlich: Benny Claessens, wie er in einer minutenlangen, alleinunterhalterischen Trump-Travestie Witze über seine Korpulenz macht ("Body Shaming!") und hinreißend den Bee Gees Klassiker "I Started a Joke" singt. İdil Baydar, wie sie mit Standup-Comedy dem Publikum die Leviten liest und die deutsche Aufklärung des Immanuel Kant als White Supremacy basht. Und Ilse Ritter, die sich monologisch der alternden Autorin nähert und von Todesahnungen kündet.

Mit Jelinek hat genau genommen nur der letzte der drei Momente zu tun, und da muss man sagen: Dieser hängt von den in sich schon "schweren" und auch isoliert Emotionen erzeugenden Zeichen ab (Tod, Altern, Vergänglichkeit, Verstummen). Vor allem aber beeindruckte der Flirt mit der Unendlichkeit durch Ilse Ritter selbst, die mit ihrer ganz und gar eigenen unverwüstlichen Jugendlichkeit und Frische selbst das sprichwörtliche Telefonbuch zum Klingen bringen könnte. Ich muss daran denken, dass die britische Sängerin Kate Bush einmal einen Refrain allein aus der Ziffernfolge der Zahl Pi bestritt (Album "Aerial", 2005). Ilse Ritter ist eigentlich die Kate Bush des Theaters.

Man vernimmt sehr oft Klagen über die Flächigkeit vieler Erzeugnisse der Bühnenliteratur (wie auch der Stückentwicklungen, die weite Teile der Freien Szene beherrschen). Man hört das Aufstöhnen über den Verlust an Narration und Geschichte, über das Spannungsarme im frei Collagierten, über die Ödnis, die unter dem Label "Postdramatik" geradezu lizensiert wurde. Und oftmals verbindet sich diese Kritik mit dem Wunsch, zur traditionellen Dramatik zurückzukehren und zu ihrem Kernbestandteil: dem Dialog. Mit guten Gründen. Fragen sind spannend, sofern sie denn auf Antworten angelegt sind (in vielen Textflächen tauchen Fragen nur als rhetorische oder als offene Selbstbefragung auf).

 

 Dialogkultur in "The Walking Dead" von Telltale Games, 2012

In einem der schönsten Computerspielgenres der letzten Jahre passiert eigentlich nichts anderes, als dass man eine Vielzahl an Dialogen zu bestehen hat, wobei man jeweils unter drei bis vier Reaktionsmöglichkeiten wählt. Und die Art wie man interagiert, bestimmt über die Persönlichkeit der Figur, die man spielt, den weiteren Verlauf ihrer Geschichte (ich empfehle "The Walking Dead" von Telltale Games). Diese gamefähige Dialektik von Frage und Antwort und anschließender Frage birgt das Geheimnis der Spannung: Sie entspringt der Begrenzung. Sie entsteht, wo nicht alles möglich ist, sondern ein überschaubares Set an Möglichkeiten eigene Abwägungen zulässt.

Aber ist das das Ende vom Lied? Der Rollback? Hätte Hans-Thies Lehmann recht und der Begriff der Spannung wäre letztlich doch untrennbar mit dem Dramenmodell verbunden – mit Figur, Dialog, Konflikt? Ich glaube, man muss Lehmann gegen Lehmann wenden und Spannung überhaupt viel fundamentaler aus der Ereignisstruktur des Bühnengeschehens denken. Dann entdeckt man, dass auch postdramatisch offene Texte nicht notwendig darin münden, dass Schauspieler*innen als Verlautbarungsknechte handlungsarm die Rampe beackern.

Ich will drei Beispiele jüngeren Datums geben, die für mich zu Highlights einer spannenden Postdramatik gehören.

Gob Squad und Theater als Heldenreise

Die deutsch-britische Performancegruppe Gob Squad produziert Stücke, die jeden Abend anders verlaufen, weil darin Menschen aus dem öffentlichen Raum in die Performance verstrickt werden. Hier stößt man also auf offene Skripte mit viel Raum für Improvisation. Aber die zugrunde gelegte Struktur begrenzt doch die Varianten für den Verlauf sehr geschickt. In dem Corona-Lockdown-Stück "Show Me A Good Time" von 2020, ein Stück, das vor allem über Bildschirm zu verfolgen war (am heimischen Rechner oder in einem Theater, das das Stück hostete), stoßen wir auf die Struktur der Quest, der Heldenreise mit klar definiertem Ziel.

Eine Spielerin befindet sich bei der Premiere auf der leeren Bühne im verlassenen Berliner Hebbel-Theater in Erwartung einer Performance, die sie zur vollen Stunde dort absolvieren will. Nur steht noch gar nicht fest, was geschehen soll. Draußen in der Stadt schwirren ihre Kolleg*innen umher (per Live-Cam zugeschaltet) und sammeln von unvermittelt angetroffenen Menschen Ideen ein: Wie soll der Titel lauten? Gibt es Vorlieben für Spielweisen? Und wer mag als sichtbares Publikum der so entstehenden Mini-Performance zur vollen Stunde remote beiwohnen? Sechzig Minuten Zeit, das alles zu arrangieren – im zwölfmaligen Durchgang.

Das Stück war ein echter Marathon und unter der Hand natürlich ein Gleichnis auf die Corona-Einsamkeit der Künstler*innen. Eine Feier der ewigen Wiederkehr (Samuel Beckett nichts dagegen). Und dabei war es keine Sekunde langweilig. Weil das präzise umrissene Ziel mit der finalen Performance ein ideales Maß an Orientierung bot, während im Anlauf dazwischen genug Platz für kontingente Begegnungen und überraschende Mikroereignisse blieb. Spannung braucht also mitnichten einen dramatischen Handlungsbogen in fünf Akten. Im Grunde genügt einfach eine intelligente Spielstruktur, die ein offenes Narrativ hinreichend rahmt.

Florentina Holzinger und Spannung im Zirkus der Menschen

Nackte Frauen an Drahtseilen, auf Motorrädern, auf einem Hubschrauber, an einem Lasten-Kran am Müggelsee – in Florentina Holzingers Tanztheater mischen sich Stuntshow und radikaler Feminismus zum Hardcore-Zirkus. Warum mag man bei solchen Exerzitien, die dezidiert nicht narrativ oder überhaupt nach inhaltlicher Logik gestrickt sind, zuschauen? Weil im Detail permanent Spannungsräume gebaut werden.

In Ophelia's Got Talent kommt besagter Helikopter in die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz geflogen. Der könnte teils natürlich ein hermeneutisches Räsel aufwerfen: Was will er bedeuten? Eine Anspielung auf "Apokalypse Now"? Oder doch bloß ein "Rettungshubschrauber", den einige der hier wie stets nackt tanzenden Akteurinnen durchaus gebrauchen könnten, denn Unfälle sind ein Motiv des Abends? In Grunde aber und zuallererst ist dieser Hubschrauber ein artistisch interessantes Gerät. Was macht er an Bewegungen möglich? Wie werden sich die nackten Körper der Tänzerinnen dort hinauf hangeln? Wie wehren sie der Gefahr des Absturzes? Zirzensische Spannung ist die Hoffnung auf ungekannte Körperbilder. Eine Wie-Spannung. Und ein wenig auch der Grusel vor dem Misslingen. Ein Beben um Was-Spannung geradezu.

Showcase Beat Le Mot und Spannung im Zirkus der Dinge

In Nicolas Stemanns Jelinek-Abenden wird, wie erwähnt, mitunter eine Zähluhr angebracht, damit man das Wegschaufeln der Textmenge bestaunen kann. Erst Anfang dieses Jahres begegnete mir ein ähnlicher und doch gänzlich anders gelagerter Zähler in "1000 Things Falling" von Showcase Beat Le Mot am Hebbel Theater. Die Ziffern zählen hier die im Titel avisierten eintausend Dinge, die in den gut neunzig Minuten des Stückes vom Schnürboden auf die Bühne herab fallen. Anders als bei Stemann/Jelinek ist diese Zählung also nicht bloß auf den paratextuellen Rahmen bezogen, sondern direkt auf das Geschehen selbst.

Es fällt, was fallen kann: lauter plumpe Zeugen der Newton'schen Gesetze. Wie unterschiedlich stürzen Bälle, Holzlatten, Federn auf ihrem Weg zu den Brettern! Wie wandelt sich der Eindruck, wenn die Performer von Showcase schwierige Apparaturen anbringen, um den Fall zu manipulieren! Es ist ein Schwerkraftabend der besonderen Art, entfernt in der Tradition von Fischli & Weiß. Geschickt evoziert er Erwartungen und setzt ihnen einen Rahmen. Und lässt von dort aus Effekte und Varianten abmessen, lässt auch Überraschungen einbrechen. Das gebannte Interesse verdankt sich der Orientierung. Es ist eine Verspieltheit, in die wir als Publikum mit hineingenommen werden. Wäre schön, wenn Theater öfter so abliefe. Spannend, ganz ohne Dramenpyramide, auch ohne Netflix.

 

ChristianRakow ThomasAurin smChristian Rakow, geboren 1976 in Rostock, ist nachtkritik.de-Redakteur. Er studierte Germanistik und Philosophie in Rostock, Sheffield und Berlin und promovierte in Literaturwissenschaft (Deutsche Philologie) in Münster. Er schreibt unter anderem für Theater heute. Von 2017 bis 2019 war er Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens, von 2013 bis 2022 Mitkurator der Konferenz "Theater und Netz".

 

mehr debatten

Kommentare  
Essay Spannung: Spannung der Form
Die Fahrlässigkeit von Rakows Text gegenüber Lehmanns knapp dreiseitigen Kapitel, das Rakow "immer stark beschäftigt hat", erstaunt. Lehmann schreibt nirgendwo auch nur sinngemäß, es brauche keine Spannung. Er wendet sich allein dagegen, das Verständnis von Spannung im Sinne des klassischen Dramas normativ auf jedwede Aufführung anzuwenden - als gäbe es keine Unterschiede zwischen antiker Tragödie, Racines Dramen und Robert Wilsons visueller Dramaturgie. Auf die von Rakow angeführte Möglichkeit, "Spannung (nicht) so eng mit dem traditionellen Dramenmodell zusammenzudenken", verweist Lehmann selbst mit Blick auf eine Spannung der Form - also eine "Logik von Spannung und Lösung, um Spannung in einem (...) ganz allgemein kompositorischen Sinn (wie man in der Malerei von Bildspannung spricht)". (Lehmann, S. 50/51)
Essay Spannung: Keine Lizenz zum Anöden
commedia hat recht: Lehmanns Kapitel ist definitiv keine 'Lizenz zum Anöden'.
Rakow verzerrt Lehmanns Position, gibt sie verkürzt wieder, zudem unterschlägt er, dass Lehmann bereits selbst einen alternativen Spannungsbegriff in Aussicht stellt. Im Grunde disqualifiziert sich Herr Rakow hiermit. (...)

-
(Der Kommentar wurde um eine Passage gekürzt, die nicht unseren Kommentarregeln entspricht. Diese finden Sie hier: https://nachtkritik.de/impressum-kontakt
Herzliche Grüße aus der Redaktion)
Essay Spannung: Fatale Entwicklung
@1. Liebe Commedia, es ist absolut richtig, dass es auch einen Begriff von kompositorischer Spannung gibt (tension), der gerade bei lyrischen Texten greift ("... der Wald steht schwarz und schweiget / und aus den Wiesen steiget / der weiße Nebel wunderbar."). In diesem Artikel aber geht es konkret um die teleologische Spannung in Handlungs- und Ereignisketten (suspense, mystery) und ihr Verschwinden aus der postdramatischen Praxis. Eine, aus meiner Sicht, fatale Entwicklung, deren Legitimation bei Lehmann eben auch gegeben wird.
Kommentar schreiben