"Extra Life" von Gisèle Vienne von der Ruhrtriennale – Der Shorty zum Gastspiel beim Theatertreffen 2024
Die Gefahr von Nebenan
8. Mai 2024. Innere Zustände von Menschen in berauschende Theaterbilder und Alptraumlandschafen zu übersetzen ist ein Markenzeichen der östereichisch-französischen Theatermacherin Gisèle Vienne. "Extra Life" kam vergangenes Jahr bei der Ruhrtriennale heraus und lief jetzt beim Theatertreffen.
Von Georg Kasch
8. Mai 2024. Die Menge gestern im Hans-Otto-Theater unterschied sich deutlich vom Potsdamer Stammpublikum: Berliner Theater- und Tanzleute sowie Hardcore-Theatertreffen-Fans. So richtig aber konnte Gisèle Viennes "Extra Life" hier nicht landen: reservierter bis freundlicher Applaus, ein paar Juchzer, ein Buh.
Was war geschehen? Vienne zeigt auf karger, aber atmosphärischer Bühne – Auto, Campingstuhl, Kühlbox, auf dem Boden dramatisch ausgeleuchtete Steinchen, drüber Nebel – zwei Geschwister, die sexuelle Gewalt durch ihren Großvater erlebt haben. Offenbar kommen Klara und Felix von einer Party und beginnen sich nun zu öffnen.
Wort- und bewegungslose Zwischenräume
Im Autoradio geht’s um die Bedrohung durch Außerirdische (aber natürlich lauert die Gefahr nebenan, in der Familie), in den Gesprächen neben Banalitäten um seelische Wunden. Plötzlich taucht eine weitere junge Frau auf, entpuppt sich in Kostüm und Frisur als Klaras Doppelgängerin oder Abspaltung. Sie alle bewegen sich tastend, oft wie in Zeitlupe.
Dazu wechselt die Musik zwischen Synthie-Pop, Minimal Music und Suspense, orgelt das Licht immer neue Räume herbei. Toll sieht das aus, wie eine Installation von Olafur Eliasson oder eine dieser Berliner Partys, an die man sich hinterher nur noch undeutlich erinnert. Allerdings ziehen sich die wort-, oft auch bewegungslosen Zwischenräume schon sehr.
Dunkelheit als Raum
So lässt einen das kaum Sag- oder Zeigbare über weite Strecken kalt, trotz starker Effekte wie das sich allmählich verzerrende Gesicht von Felix‘ Puppe, Abbild der zerstörten Kindheit. Viele im Publikum wollen nicht mal die Preisverleihung abwarten, nur wenige bleiben zum Nachgespräch. Dort spricht Psychoanalytikerin Mai Wegener in ihrem Impuls von der "Dunkelheit als Raum, in dem die Berührung beginnt" und sagt auch sonst Erhellendes. Vienne fragt: "Wie kann man durch Kunst andere Arten von Sprachen lernen, die uns anders erlauben zu sprechen?" Auch von Komposition ist die Rede, von Film, technischen Aspekten. Von (Be-)Rührung spricht sie nicht.
- Hier geht es zur Nachtkritik der Premiere von "Extra Life" im August 2023 bei der Ruhrtrienale.
- Täglich Neues vom Berliner Theatertreffen gibt es in unserem Theatertreffen-Liveblog.
meldungen >
- 20. Mai 2024 Alfred-Kerr-Darstellerpreis 2024 an Nikita Buldyrski
- 18. Mai 2024 Publikumsstudie 2023 am Badischen Staatstheater
- 18. Mai 2024 ITI-Preis 2024: KULA Compagnie
- 17. Mai 2024 Mülheim: KinderStückePreis 2024 an Armela Madreiter
- 17. Mai 2024 Interimslösung für Volksbühne Berlin
- 16. Mai 2024 Cottbus: Hasko Weber wird Interimsintendant
- 14. Mai 2024 Hamburg: Matthias Lilienthal übernimmt Lessingtage
- 13. Mai 2024 Bayreuther Festspiele: Katharina Wagner verlängert
neueste kommentare >
-
Macbeth, Theatertreffen Altmeisterlich-museal
-
Blutstück, Zürich Durchaus gelungen
-
Macbeth, Theatertreffen Inhaltsleer
-
Dibbuk, Recklinghausen Musik
-
Macbeth, Theatertreffen Voll und ganz missglückt
-
Maria Stuart, München Tauschrituale
-
ITI-Preis 2024 Mit einem Wort
-
They them Okocha, Frankfurt/Main Falsche Erwartungen
-
Polizei, Ruhrfestspiele Werkgruppe 2 auf nachtkritik
-
Hundekot-Attacke, Theatertreffen Nichts ist zuviel
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Die 10er Auswahl des Theatertreffens wagt sich hier in Grenzbereiche vor: ästhetisch lassen die entschleunigte Spielweise und die langen gleichförmig vor sich hinplätschernden Textpassagen viele im Publikum kalt, auch räumlich ist der Abend in der Peripherie des Festivals. Das Hans Otto Theater liegt so weit am Rand der brandenburgischen Landeshauptstadt, in der das Leben an diesem Feiertags-Vorabend sowieso nicht brodelt, dass sich das Publikum schon um 21.30 Uhr mit überfüllt vor sich hinschaukelnden Nachtbussen nach Wannsee durchschlagen muss. Dort fährt aber auch nur im 20 Minuten-Takt die nächste S-Bahn ins Berliner Zentrum. Ein Festival-Shuttle wäre deshalb eine sehr gute Idee gewesen!
Der Abend verharrt so sehr in einem hermetischen Abwehrmodus und ähnelt stilistisch schwächeren Freie Szene-Arbeiten, so dass er vom Theatertreffen-Publikum nur verhalten aufgenommen wurde. Auch der tänzerische Abschluss des Trios überzeugt nicht.
Bemerkenswert ist eine Lichtdesign-Sequenz, die Yves Godin etwa im Mittelteil des Abends gestaltet. „Extra Life“ löst sich hier von seinem eigenwilligen Zwitterzustand aus unterspannter, textlastiger Performance mit Nebelmaschine und Anklängen an Tanz und wandelt sich zu einer eindrucksvollen Installation bildender Kunst, unterlegt vom Sounddesign von Adrien Michel. Diese kurze Passage lohnt den Besuch tatsächlich.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/05/09/extra-life-performance-kritik/
- ich liebe den Song-?
So ein Techno/Elektro-Track.
Merci!
By the way: Diese überragende, wahrlich kühne Arbeit war gleichwohl leider mit einer mittlerweile um sich greifenden Unsitte versehen; dass nämlich einige englischsprachige Sprechpassagen *nicht* deutsch übertitelt wurden, während das ansonsten der Fall war. Nun könnte man einwenden, dass das Passagen sind, die in einem multilingualen Framework auch an anderen Spielorten und/oder aus künstlerischen Gründen unübertitelt blieben. Aber mir fällt auf, dass das häufiger geschieht, in der Annahme, dass jede/r Bühnenenglisch hörverstehen könne; während gleichwohl das geflissentliche Englischübertiteln mehr und mehr zum Standard wird; und oft genug sind dafür künstlerische Gründe nicht ersichtlich, sondern schlichtweg Schluderei oder Blindheit. (Freilich gibt es Ausnahmen mit französischer, türkischer, polnischer, russischer, etc. Übertitelung.) Mein einziger Wunsch: Wennschondennschon. #inklusion