Seelenkalt - Im Werk X inszeniert Ali M. Abdullah den Bestseller der "Generation Putin" von Sergej Minajew
Dealer, Dollars, Demokratie
von Martin Pesl
Wien, 13. November 2014. Wladimir Putin ist böse, da sind sich bei uns wohl die meisten einig. Freilich gilt das nicht für eine ganze Menge Russen: Die mögen Putin oder nehmen ihn zumindest als gegeben hin. Das hallt als verstörende Erkenntnis einer Uraufführung nach, die den "Schlüsselroman der Generation Putin" auf die Bühne bringt. Millionen 30-jährige Russen haben ihn seit 2006 gelesen, auf Deutsch hingegen landete Sergej Minajews "Seelenkalt" nur in der Hardcore-Nische des Heyne-Verlags.
Dieses Stück Popliteratur heute hier in Wien auf die Bühne zu bringen, ist gewagt. Nicht dass der Autor sich als Putin-Anhänger deklarieren würde: Der sieht das schon alles recht sarkastisch distanziert – aber eben aus einer Innenperspektive heraus, was den liberalen westlichen Konsens doch irritieren könnte. Minajew schildert eine herzlos-dekadente Managerwelt, wie wir sie bei Bret Easton Ellis schon lasen, mit Koks, rauem Sex und eher disharmonischem Arbeitsklima. Nur besteht für Erzähler Alexander das eigentliche Problem darin, festzustellen, dass sein Kollege von einem Typen einen geblasen kriegt und nicht von einer Frau.
Fast wie bei Katie Mitchell
Homophobie als russische Selbstverständlichkeit, gelebt von der Hauptfigur, die sonst alles kritisieren darf. So steht es im Buch, so stellt Regisseur Ali M. Abdullah es dar. In seiner Garage X hat Abdullah schon starken Literaturtobak wie die Romane von Matias Faldbakken und Houellebecqs Karte und Gebiet umgesetzt: zeitgeistige Stoffe mit streitbaren Gedankengängen. Gerne mit Live-Musik und -Video, aber nur roher Bühnenausstattung, lässt er seine Schauspieler intellektuell aufgeladene Texte sprechen und nur szenenweise – dafür teils ziemlich intensiv – in Rollen aufgehen.
"Wir ersetzen die Religion durch die Performance und die Moral durch das Laster": Video und Jam-Set in der Inszenierung von Ali M. Abdullah © Chloe Potter
Seit diesem Herbst zeigt das von ihm mitgeleitete Theater seine Eigenproduktionen im räumlich größeren Kabelwerk. Dementsprechend hochskaliert wirkt auch die Ästhetik in Abdullahs erster Werk-X-Inszenierung. Schon beim Reinkommen erschlägt einen ein neonbeleuchtetes, nacktweißes Gestell, darin Band-Equipment, Couches, ein Klo mit Wodkaflasche und hässlich türkise Stühle. Man sieht nicht überall hinein, aber die Nahaufnahmen mehrerer Kameras werden an drei überlebensgroße Leinwände geschickt: Es sieht aus, als hätten mitten im Aufbau zu einem Katie-Mitchell-Abend die Bühnenarbeiter gestreikt.
Arbeit, Sucht, Depression
Zu Hardcore-Sound wird dann mit einer Vorbemerkung des Autors aus dem Buch die Erwartung geweckt, gleich etwas ganz, ganz Arges zu sehen ("Denn die Wirklichkeit ist noch widerwärtiger und grauenhafter."). Dieses ganz Arge zeigt die erste Hälfte der Aufführung auf bis ins Unerträgliche hochgeschraubtem Energielevel. Während in der Mitte über ein todsicheres Geschäft mit einem neuen Club gelabert wird, ficken sie einander links auf der Couch von allen Seiten und gehen rechts die E-Gitarren ab. Wie nebenbei entfalten sich dabei die Kernthemen von Alexanders Alltag: Firmenhickhack, Drogen, Angewidertsein.
Auf Hardcore-Energielevel: Dennis Cubic, Tim Breyvogel, Christian Dolezal, Constanze Passin
© Chloe Potter
Tim Breyvogel muss die ambivalente Hauptfigur stemmen, die auf seltsame Weise über dem ganzen Sumpf steht und dann doch das verhasste Intrigenspiel am besten spielt. Breyvogels Zugang ist zunächst der des Entertainers, der das Publikum auf seine Seite zieht, egal wie vehement ihn die Sekretärin gerade reitet. Mit zunehmender Verzweiflung ist er als Figur jedoch immer mehr bei sich. Als Alexander in einem Businessdeal geprellt wird, lacht er, denn es ging ihm ja nie ums Geld; innere Panik lässt Breyvogel trotzdem spüren.
"Wir zerschlagen die Ikonen"
Von den anderen sticht Christian Dolezal hervor, der das Dröhnen der hier regierenden vier Ds (Damen, Dealer, Dollars und Depression) immer wieder durch einen pointierten Ton lockert. Wie er als Petersburger Mitarbeiter Schritt für Schritt der Vetternwirtschaft überführt wird und sich ständig auf neue Art rauszuwinden versucht, ist eine der zugänglichsten Szenen des Abends. Sie fällt in den zweiten Teil, in dem der Soundtrack ins Melancholische gekippt und aus den endlosen Gesprächen ein eigener Sog entstanden ist, der die über drei Stunden zumindest nicht in Langeweile münden lässt.
Wenn sie Sinniges aus dem Romantext äußern wie: "Wir zerschlagen die Ikonen, ersetzen die Religion durch die Performance und die Moral durch das Laster", treten die Personen aus dem neongrellen Rahmen hinaus und unterrichten frontal. Gelernt hat man hier am Ende leider trotzdem nur, dass dieser Stoff eh gut zu Ali Abdullahs demokratisch alles nebeneinander zulassender Inszenierungsform passt. Das Konzept Demokratie, angewandt auf die Generation Putin: ein zynischer Witz. "Seelenkalt" lässt die Wiener Seelen kalt, weil seine Ideen zu innerrussisch verankert sind, um sie einem westlichen Publikum unreflektiert aufzutischen, sein Plot einem aber zu westlich bekannt vorkommt, um wirklich zu schockieren.
Seelenkalt
Uraufführung
von Sergej Minajew
Deutsch von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann
Inszenierung: Ali M. Abdullah, Bühnenidee: Christoph Ernst, Bühnenausführung und Kostüme: Renato Uz, Musik: Imre Lichtenberger Bozoki, Video: Patrick Topitschnig, Dramaturgie: Hannah Lioba Egenolf, Mitarbeit: Juliane Oder.
Mit: Tim Breyvogel, Dennis Cubic, Christian Dolezal, Constanze Passin, Daniel Wagner.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.werk-x.at
Der Videoeinsatz in Abdullahs Regie gehe über die bloße Verdopplung der Realität nicht hinaus, moniert Margarete Affenzeller im Standard (14.11.2014). Auch sonst kann sie dem Abend nicht viel abgewinnen: "Handwerkliche Schwächen (am Publikum wird oft vorbeigebrabbelt) machen die dreistündige Vorstellung zäh. Sie will selber einfach zu cool sein."
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