Iphigenie - Torsten Fischer durchpflügt am Hamburger Ernst Deutsch Theater die antike Mythologie
Ein Aug' voll Blut und Hass
von Falk Schreiber
Hamburg, 23. April 2015. Das ist doch mal ein ökonomischer Umgang mit Stofffülle: Karin Beier benötigte für Die Rasenden, ihren Antiken-Marathon aus "Iphigenie in Aulis", "Die Troerinnen", "Elektra" und einer verkürzten "Orestie" vor zwei Jahren am Hamburger Schauspielhaus, noch sechseinhalb Stunden, Torsten Fischer schafft es wenige Kilometer weiter östlich, am privaten Ernst Deutsch Theater, in gerade mal gut zwei Stunden, die (bei Beier nur angerissene) Iphigenie-Tragödie zu erzählen. Goethes "Iphigenie auf Tauris", Hofmannsthals "Elektra", Aischylos' "Agamemnon" und Euripides' "Iphigenie in Aulis" im Schnelldurchlauf, Respekt.
Fischer versteht die antike Erzählung als Modell für den Sieg von Humanismus und Zivilisation über die Barbarei: Iphigenies Waffen sind Intellekt und Diskurs, die am Ende mächtiger sind als Krieg und Gewalt. "Für mich ist sie eine Heldin der Zeit", beschreibt der Regisseur die Titelfigur im Programmheft, "die es geschafft hat, mit Mut, Intelligenz und Argumenten den Bann, unter dem ihre Familie seit Generationen leidet, zu durchbrechen." Mut, Intelligenz, Argumente – und keine Gewalt. In der Inszenierung wird diese bei Goethe ausformulierte Utopie zum Widerstreit zwischen maskulinem und femininem Prinzip: Fischer arbeitet mit einem fast rein weiblichen Ensemble, als einziger Mann ist der Tänzer Valentí Rocamora i Torà auf der Bühne. Der freilich das gesamte Stück über stumm bleibt – zu sagen haben Männer in dieser Lesart nichts, wenn Rocamora i Torà auch mit starker körperlicher Präsenz punkten kann.
Elektra vs. Iphigenie
Das ist ein wenig bieder gedacht, allerdings durchaus stimmig umgesetzt, als nüchtern-abstraktes Strategiespiel auf dunkler Bühne. Überhaupt, die Ausstattung: Vasilis Triantafillopoulos und Herbert Schäfer arbeiten mit sparsamen, aber dafür umso deutlicheren Setzungen, starken Schwarz-Weiß-Kontrasten und pointierten Lichteinsätzen. Kurz bricht der strenge Ansatz der Produktion auf, wenn eine käfigähnliche Gitterwand an die Rampe geschoben und beklettert wird, oder wenn der eiserne Vorhang quälend langsam die Bühne für ein Rampenspiel abschließt. Wenn allerdings kurz vor der Pause Regen auf die Szene niederprasselt und dazu Willy deVille "Heaven stood still" säußelt, dann gerät der Abend fast in Kitschverdacht. Aber nur fast.
So schlüssig die Inszenierung allerdings Fischers inhaltliche Idee umsetzt, sie hat eine Achillesverse: Wo in der Bildsprache bewusst auf alle Schauwerte verzichtet wird, liegt die Hauptlast des Abends auf der Performance. Und die ist nicht immer ganz stimmig. Dass Daniela Ziegler als Klytämnestra in der ersten Hälfte des Abends einen Blackout hat – geschenkt. So etwas passiert, und die Professionalität, mit der Ziegler die Situation in den Griff bekommt, verdient einen Extra-Applaus. Ärger wiegt, dass Ulli Maier die Titelrolle so patent-unspektakulär anlegt, dass man sich nur mit Mühe für das Schicksal der Figur interessieren mag. Immerhin, Susanne Bredehöft springt in die Lücke und spielt Elektra als wütenden Todesengel, barbusig, blutbesudelt, mit einem Aug' "voll Blut und Hass". Dass Elektra und eben nicht Iphigenie die interessantere der Agamemnon-Töchter sein könnte, ahnt man schon in der Mythologie, in dieser Inszenierung ist sie es auf jeden Fall. Was freilich Fischers These von Iphigenie als Heldin ein Stück weit widerspricht – Elektra als Heldin des Abends vertritt ja durchaus den Kreislauf von Blutrache, Mord und Gewalt, den Iphigenie dann zu unterbrechen versucht.
Ein echtes Wagnis
Vielleicht aber sollte man diese Produktion auch unter ganz anderen Vorzeichen betrachten. So nämlich: Das Ernst Deutsch Theater ist das größte Privattheater der Republik, keine hochsubventionierte Bühne wie das Deutsche Schauspielhaus. Die Dramaturgie könnte es sich hier einfach machen und eine Mischung aus leichter Muse und werktreuem Bildungskanon anbieten – das Publikum des Hauses würde es goutieren. Eine Regietheater-Inszenierung wie Fischers "Iphigenie" hingegen ist an diesem Ort ein echtes Wagnis, und wenn man vom Theater erwartet, dass es sich aus der Deckung traut, dann kann man die Theaterleitung zu diesem Abend nur beglückwünschen. Ob da am Ende alles ganz genau zusammenpasst, ist dann eher zweitrangig.
Iphigenie. Träumst du, Mutter?
von Johann Wolfgang von Goethe, Euripides, Aischylos, Hugo von Hofmannsthal
Regie: Torsten Fischer, Ausstattung: Vasilis Triantafillopoulos / Herbert Schäfer, Dramaturgie: Stefan Kroner / Herbert Schäfer.
Mit: Susanne Bredehöft, Ulli Maier, Valentí Rocamora i Torà, Sandra Maria Schöner, Flavia Vinzens, Daniela Ziegler.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause
www.ernst-deutsch-theater.de
„Torsten Fischer hat sich verhoben“, schreibt Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (25.4.2015). Er habe sich ganz offensichtlich zu viel vorgenommen, was in der Umsetzung schlicht nicht funktioniere. „Visionen, die hat Fischer“, so Schiller: „Allein – er kann sie nicht umsetzen.“ Seine Ausgangsidee sei „prinzipiell gut: die Geschichte aus Sicht der Frauen zu erzählen“. Fischer finde nur den Bogen nicht – „oder kann ihn jedenfalls nicht kommunizieren“.
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