Melencolia II - ein Rechercheprojekt zum Thema Weltuntergang im Stadttheater Ulm
Die Hochzeit ist nicht das Ende
von Willibald Spatz
Ulm, 25. Juni 2015. "Ihre Zeit ist abgelaufen. Ich möchte Sie bitten, sich auf dem Weg nach unten Gedanken zu machen." Dazu wird man aufgefordert, und man möchte laut begeistert antworten, dass man dafür ja ins Theater gekommen sei. Doch die nächste Anweisung ist: "Bitte unterhalten Sie sich nicht." Das ist eindeutig. Der Weg nach unten führt von der Terrasse des Stadttheaters Ulm hinab in die Kellerbühne "Podium". Hinauf kam man, weil man sich gleich zu Beginn dafür entschieden hatte, mit "Ja" zu antworten auf die Frage, ob man es denn wissen wolle, dass der Weltuntergang stattfinde, falls er heute noch stattfinde. Dann ist man einer Dame in Blau gefolgt. Und wurde mit einem Becher Saft begrüßt und gebeten auf Kissen Platz zu nehmen, woraufhin ein älterer Herr in Anzug und Fliege ein bisschen über den Untergang der Welt philosophiert hat.
Reise ins Eheglück
Das ist der bewegte Einstieg zu "Melencolia II", das Ergebnis eines generationenübergreifenden "Rechercheprojekts Schauspiel". Es handelt sich um eine bewusste Weiterentwicklung üblicher Jugend- und Seniorenclub-Arbeiten, weil in Ulm von Kindern bis Rentnern alle Altersgruppen im Ensemble vertreten sind – und weil die Aufführung mehr sein will als ein netter Abend für Verwandte und Freunde. Das Stadttheater profitiert grundsätzlich stark von einer solchen Unternehmung, indem sich ein ganz neuer Bezug zum Publikum herstellt: Die Menschen können einerseits selbst mitwirken und auf der Bühne stehen, auf der anderen Seite erschließen sich durch Verwandte und Freunde der Beteiligten ganz neue Publikumsschichten. Dazu lernen die Spielenden im Brechtschen Verständnis eines Lehrstücks eine Menge über sich und ihr gewähltes Thema. Aus theaterpädagogischer Sicht ist die Gruppe mit der Leiterin Barbara Frazier in den allerbesten Händen. Sie weiß, wie sie ihre Darsteller inszenieren muss, damit es zu keinem Moment stört, dass hier nur Laien agieren; und sie weiß, wie man einen Haufen zusammenrecherchiertes Material so ordnet, dass daraus ein schlüssiges Ganzes entsteht.
Hochzeitsgesellschaft mit sichtbaren Abgründen © Martin Kaufhold
Ausgangspunkt war das Stichwort "Weltuntergang". Man kann während der Aufführung gut nachvollziehen, wie sich das Projekt im Lauf der Zeit entwickelt hat. Im Video sind einzelne Köpfe zu sehen, die erzählen, wie sie sich das Weltende vorstellen: schrecklich oder erlösend, laut oder leise. Den eigentlichen Rahmen bildet wie in Lars von Triers Film "Melancholia" eine Hochzeitsfeier. Das ist perfekt, denn es können auf diese Weise immer alle auf der Bühne sein und sich ganz natürlich benehmen, weil man diese Situationen aus der Erfahrung kennt. Es werden etwas holprige, aber gut gemeinte Ansprachen gehalten, es werden etwas zu üppige Torten hinunter gewürgt, und es kommt zu albernen Spielen wie der "Reise ins Eheglück". Man kennt das auch als Zuschauer, und man kann nachvollziehen, wie schön authentisch das reenacted ist.
Das bessere Stadttheater?
Es gibt einen Bräutigam und insgesamt fünf Bräute, die aufeinander folgen, indem sie einander in eingefrorenen Szenen ausschalten; die Gäste tun so als wäre nichts passiert. Das ist ein geschickter Einfall, dadurch entstehen sehr komische Szenen, wenn die Braut betrunken ans Klavier geht und ein Lied für ihren Mann grunzt; es gibt aber auch bewegende Momente: Ein Kind fällt beim Vorsingen eines Lieds in Ohnmacht. Die einzige, die eingreifen und helfen will, ist die Braut, doch sie schafft es nicht, die apathisch weitersingenden Gäste aus ihrer Teilnahmslosigkeit zu reißen. Dabei ist zu erwähnen, dass der Bräutigam Peter Rahmani und die Braut in dieser Szene, Daniel Klarer, beinahe professionell schauspielen. Man sieht ihnen deutlich an, dass sie nicht zum ersten Mal an Theaterprojekten beteiligt sind.
Brautwechsel mit Gewalt © Martin Kaufhold
Barbara Fraziers Inszenierung packt einen eineinhalb Stunden lang souverän und ist keine Sekunde langweilig oder peinlich. Die Truppe fühlt sich sichtlich geborgen und agiert enthusiastisch. Man kommt gern wieder und wird diese Rechercheprojekte weiterverfolgen. Die Frage ist, ob wir es hier nicht am Ende sogar mit dem besseren Stadttheater zu tun haben und man es den Profis verbieten sollte, diese Bühnen zu bespielen. Einen kleinen Haken hat die Sache dann aber doch: gerade ihre Souveränität und Sicherheit. Da geht nichts mehr schief. Jeder riskiert persönlich eine Menge beim Schritt vors Publikum, aber künstlerisch relativ wenig. Ein anderer, der von vornherein weiß, was er kann, wagt sich eben auch leichter dorthin, wo es komplett schief laufen kann. Der sucht eher das Scheitern und gewinnt an diesem Abgrund unter Umständen doch mehr, als er verlieren könnte.
Melencolia II
Projektleitung: Barbara Frazier, Stimm- & Körpertraining: Florian Stern, Raum & Kostüme: Britta Lammers, Rechercheteam: Anna Anschütz, Jana Bondick, Thilo Dörfler, Barbara Frazierl, Sonja Halter, Silke Kay, Maria Karamoutsiou, Daniel Klarer, Anna-Lena Kneher, Lisa Meyer, Peter Rahmani, Leonie Reichert, Carlotta Rogge.
Mit: Peter Rahmani, Jana Bondick, Sonja Halter, Daniel Klarer, Silke Kay, Anna Anschütz, Lisa Meyer, Leonie Reichert, Anna-Lena Kneher, Carlotta Rogge, Thilo Dörfler, Karl Frank, Lena Becker, Pia Deutschle, Thilo Dörfler, Katrin Döring, Ulrike Domay-Weil, Karl Frank, Aurelia Ghotra, Josefine Giesbert, Gisa Göser, Bettina Heit, Diana Iser, Karola Kölzer, Alicia Mayer, Thomas Mayer, Annette Neulist, Sonja Schlegel, Elisa Weil.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
http://theater.ulm.de/
Kritikenrundschau
"Philosophisch beginnt Barbara Fraziers Recherchestück 'Melencolia II' im Podium des Theaters Ulm". schreibt in der Augsburger Allgemeinen (27.6.2015). Das Publikum entscheide selbst und jeder für sich persönlich über den eigenen weiteren Weg an diesem Abend. Auf die Terrasse am Foyer spiel die stärkste Szene des Abends: Während eine junge Braut mit einem Fernrohr in den Abendhimmel schaut, philosophiert der 85-jährige Karl Frank über die Gesetzmäßigkeiten des ewigen und unbeeinflussbaren Kreislaufs, denn jegliches Ding habe seine Zeit. Fazit: "Schweigen ist angesagt auf diesem ganz individualisierten Weg des Besuchers. Jeder ist allein mit seinen Gedanken und inneren Bildern. Jeder trifft seine Entscheidung allein."
"Rahmenhandlung ist eine Hochzeitsfeier, die lustvoll ausgeschmückt wird. Blumenmädchen singen, Klaviermusik von Skrjabin erklingt (...), bis die Stimmung kippt, die Braut ein Foto des neu erworbenen paradiesischen Anwesens zerreißt", so Christine Langer in der Südwest Presse (27.6.2015). "Wie ein roter Faden führt ihre innere Zerrissenheit durch das Stück. Nach dem Motto 'schauen wir lieber nach innen' verleihen Dialoge über existenzielle Fragen dem Abend Tiefgang."
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