Schichten / Die große Schlacht - Zur Eröffnung der Treibstoff Theatertage in Basel wird zwei Mal sehr unterschiedlich in die Geschichte zurückgeschaut
Den Krieg proben
von Geneva Moser
Basel, 2. September 2015. Der Findling – stolz und nutzlos steht der einzelne Stein zeitvergessen als erratischer Block in der Landschaft. Im Anthropozän beliebter Selfie-Hintergrund, ist der Findling auf der Bühne des Roxy unsichtbar und allgegenwärtig zugleich.
Geologische Recherche in down-tempo
Sich jahrtausendealte Gesteinsblöcke als Bühnenmaterial zu wählen, ist – Sie verzeihen die Metapher – ein harter Brocken. "Schichten", die Eröffnungsproduktion der Treibstoff Theatertage in Basel, ist denn auch, materiengetreu, von statischer, leiser und eben zeitvergessener Natur. Das Theater-Kollektiv hinter der Produktion, den angewandten Kulturwissenschaften in Hildesheim entwachsen, ist mehr beobachtend denn sprechend, eher unbewegt als rasend, evozierend statt provozierend. Ihre Körper formen Stillleben (Steinlandschaft), sie stolpern mit heiligem Ernst durch Slapstick (Stein im Weg), und imaginieren die versteckte Bewegung im Unbeweglichen (Stein, natürlich). Steine sind nun nicht gerade diskurssüchtig. Die einzige große Geste dieser Inszenierung bleibt das Erbasteln einer überlebensgroßen Amphore, angesichts derer wiederum eingehend kontempliert wird.
"Schichten" ist eine von sieben Projekten junger Performance- und Theaterkünstler, die in diesem Jahr von den Treibstoff-Programmmachern aus zweihundert Bewerbungen ausgewählt wurden. Es ist eine geologische Recherche in down-tempo, die mit Hang zum Absurden und Appell an die Vorstellungskraft zu erwärmen weiß. Bisweilen sind die Bilder jedoch allzu museal: Die Betrachtenden zu betrachten, sich die Vorstellung vorzustellen, ermüdet nicht nur, weil die Darstellenden kaum interagieren, charakterlos bleiben und es sich stattdessen in der verdichteten Stille gemütlich einrichten. Nein, die Geschichte fehlt, der Biss. An der Imagination des Findlings haben sich Kollektiv und Publikum schlicht die Zähne ausgebissen.
Zwischen Schlachten-Reenactment und Sportevent
So stolz und nutzlos wie ein Findling, steht die Schlacht zu St. Jakob in den lückenhaften Quellen heroisch-verklärter Historie der Eidgenossenschaft. Wo heute Fußball gespielt wird, kämpfte 1444 eine Handvoll minderjähriger Land-Eidgenossen erfolglos gegen eine Armee französischer Söldner – lange wurde dieses blutige Gemetzel als Rettung Basels gefeiert. Die Gruppe Helium x inszeniert "Die große Schlacht" im Stadion Rankhof als eine Mischung aus historischer Forschung in up-tempo, Schlachten-Reenactment und atemlos kommentiertem Sportevent.
Was historisch inzwischen mindestens umstritten ist, wird hier vor Gewitterkulisse und im Gleißen der Stadionscheinwerfer als künstlerisches Faszinosum inszeniert. Die vier Darstellenden in Sportklamotten versuchen auf den Weiten der Rasenfläche Choreographie in das Chaos des Kampfes zu bringen: Sie ordnen lautstark widersprüchliches Quellenmaterial, stecken die Gefechtszone ab, üben den virtuosen Opfersprung, veröffentlichen Gesten von Sieg, Schmerz und Schwäche und geraten sich doch enthemmt in die Haare. helium x probt den Krieg im Stadion – und kommt zum Schluss: So kann man das heute eigentlich nicht mehr erzählen. Auch hier überfordern die historischen Dimensionen die Imagination.
Zu den Fahnen! Zu den Waffen!
Auf der Suche nach der Echtheit des Kampfgetöses, nach authentischen Gefühlen und klaren Fronten wird Verstärkung von weiteren Performer*innen eingefordert. Zu den Fahnen! Zu den Waffen! Maßstabgetreu muss geklärt werden: Wer zieht hier eigentlich gegen wen ins Feld? Kategorien wie Herkunft und Geschlecht werden einander gegenüber gestellt und wieder verworfen. Bald brennt der erste Feuerwerkskörper und roter Rauch steigt auf. Eine Requisitenschlacht mit Truppengebrüll, begleitet von kriegsrhetorischen Begriffen, dient Helium x zur atemlosen Durchdeklination zeitgenössischer Kämpfe, von Demonstrationen bis zu Maschinengewehrsalven. Als die Letzten im Kampf fallen, wird das Stadion dunkel. Das Publikum wird auf das Feld gebeten und trotz Unterbruch und Verzögerung wirkt das verwirrte Herumstapfen auf dem stillen Schlachtfeld – das schlafende Stadion, die am Boden liegenden Körper und die verbrannte Erde – surreal und beklemmend.
Das Publikum probt den Krieg im Stadion mit. Wer hier letztlich wem applaudiert, bleibt chaotisch und diffus. Helium x hätte das Feiern verdient, auch wenn manches an "Die große Schlacht" vielleicht zu offensiv, zu durchschaubar ausfiel.
Schichten
Konzept und Performance: Adele Dittrich Frydetzki, Kristina Dreit, Marten Flegel, Anna Froelicher, Manuel Melzer, Szenografie: Niklaus Bein, Produktionsleitung und dramaturgische Beratung: Hannah Pfurtscheller, Felix Worpenberg, Sounddesign: Nicolas Schneider.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
Die große Schlacht
Konzept und Performance: Philippe Heule, Friederike Falk, Elina Wunderle, Patrick Oes, Szenografie: Léonie Süess, Produktionsleitung: Sarah Buser
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.treibstoffbasel.ch
"Wie lange ein einstündiger Theaterabend sein kann, wenn nicht wirklich etwas geschieht auf der Bühne", lasse sich bei "Schichten" erleben, schreibt Dominique Spirgi in der Tageswoche (4.9.2015), und: "Will man in einem zerdehnten Akt von geologischer Selbstreflexion vorgespielt oder nachgestellt bekommen, wie sich die Zusammensetzung und Struktur der Erde in Jahrmillionen verändern? Nicht wirklich." "Die grosse Schlacht" hingegen sei "vielleicht nicht unbedingt der grosse Theaterabend, der lange nachhallt", so Spirgi: "Aber es ist ein erfrischend keckes Theaterexperiment, das Vergnügen bereitet und zugleich ein erhellendes Licht darauf wirft, wie historische Schlachten heute noch zu Symbolen des patriotischen Selbstverständnisses emporstilisiert werden."
Im Schweizer Radio und Fernsehen (3.9.2015) berichtet Rahel Walser über "Die große Schlacht": "helium x inszenieren das Stück lustvoll." Es gelinge ihnen, "das viel zu grosse Stadion mit Wortwitz und effektvollen Gesten zu füllen, beim Zuschauer Bilder im Kopf zu erzeugen, obwohl sie diese nur andeuten, und gekonnt zwischen Ironie und Ernst hin und her zu wechseln".
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