Der Besuch der alten Dame - Viktor Bodó überzieht den guten alten Dürrenmatt mit drastischen Bildern
Spiel mir das Lied von Güllen
von Valeria Heintges
Zürich, 11. Dezember 2015. Spiel mir das Lied vom Tod, scheinen die vier alten, grauen Männer zu sagen, die da am Bahnhof auf den Besuch warten. Einer vertreibt auch noch die Fliege, wie die Cowboys am Beginn von Sergio Leones Italowestern. Auch im Zürcher Pfauen steigt der Tod aus dem Zug, in Gestalt der Multimilliardärin Claire Zachanassian, die den Ort ihrer Jugend besucht. Und scharf geschossen wird auch in Viktor Bodós Version von Friedrich Dürrenmatts "Besuch der alten Dame".
Der Ungar Bodó liebt solche drastischen Bilder, er liebt es überhaupt drastisch. Und komisch. Da drücken lautstark die Mägen, werden Koffer und Blindenstöcke jongliert, läuft der Butler mit dem Schweinekopf herum. Und Claire Zachanassian, der das Leben in mehr als einer Beziehung übel mitgespielt hat, bleibt mitten im Lachanfall stecken und wiederholt wie eine LP mit Kratzer das ewig gleiche Hahaha. In vielen Unfällen kamen ihr die Körperteile abhanden, ihr Herz verlor sie schon als Klara Wäscher in Güllen an Alfred Ill. Und so quietscht es lautstark, wenn sich Friederike Wagner bewegt: Nach einem Bad werden ihre Gliedmaßen von der Leine geholt, Zähne und Augen aus dem Aquarium gefischt und sie Stück für Stück wieder zusammengesetzt.
Altbekannt und gekonnt gekürzt
In Güllen bekommt diese Frau den ganz großen Bahnhof. Denn Güllen ist völlig verarmt, alles ist heruntergekommen und ruinös. Die einzige Hoffnung: Die berühmte Frau möge einige ihrer Millionen dalassen. Und dann kommt ihr Angebot: Eine Milliarde gegen eine Leiche: Alfred Ill ließ sie einst schwanger sitzen und auch noch vor Gericht verleumden. Das hat sie ihm nie verziehen. Und nun will sie Gerechtigkeit kaufen. Wagner spielt die alte Dame genau auf dieser Grenze zwischen süßer Erinnerung und galliger Rachsucht.Zum Glück gibt's in Güllen noch Recht und Gesetz! © Toni Suter / T + T Fotografie
Die Geschichte ist altbekannt, darum auch konnten die Dramaturginnen Anna Veress und Karolin Trachte sie radikal und sehr gekonnt kürzen. Keine elendslangen Journalistenschelte mehr, dafür der Fokus auf der perfiden Entschuldigung der Güllener, Ill habe sich etwas zuschulden kommen lassen damals und habe sich also seine Ermordung selbst zuzuschreiben. Neu ist auch die Methode nicht, reichlich verstaubte Stoffe mit Gags aufzumotzen. Kein Schauspieler bewegt sich noch normal: Der Polizist rast sozusagen mit Blaulicht durch seine Sätze (Benedict Fellmer macht das bravourös), Ills Tochter Ottilie ist strohdoof und tolpatschig, stößt ihren Kopf an allen verfügbaren Vorsprüngen, die beiden Diener Loby und Koby sind nicht nur blind und kastriert, sondern auch total verblödet.
"Ich fühle, wie ich zum Mörder werde"
Bodó setzt diese verschrobenen, verheerten Typen sehr genau auf die Bühne, baut beeindruckende Bilder im Halbrund des heruntergekommenen Bahnhofs, in dem ein Podest mal eben das, mal Bank, mal Brunnen ist (Bühnenbild Juli Balázs). Und über das die Milliardärin mit ihren vier schwarz gekleideten Männern hinabschaut wie der Herrscher in die Gladiatorenarena. Doch überschreitet Bodó die Grenze zum Klamauk zu häufig, so dass sich der Spannungsbogen in zu vielen Nebenwindungen um sich selbst dreht und verheddert.Matthias Neukirch als Lehrer im Kreise der lieben Mitbürger @ Toni Suter / T + T Fotografie
Nach der Pause ist die Stadt total korrumpiert. Längst haben sich alle neue Kleider, Möbel und Luxus gekauft, auch die Fenster des Bahnhofs sind neu. Nun braucht man nur noch die moralische Erklärung für das geplante Töten. "Ich fühle, wie ich zum Mörder werde", sagt Matthias Neukirch als Lehrer. Ihm nimmt man das verzweifelte Strampeln gegen die allgemeine Mordlust am ehesten ab, kommt ihm doch nicht nur die Rolle des Chorleiters, sondern auch die des letzten Humanisten zu. Er dirigiert einen großen Choral, lässt darin lateinisch den Richter zu Gericht sitzen.
Das Bittere im Klamauk
Aber das ist nur noch eine Farce, das Urteil längst gefallen: In einer starken Szene wird in einer gut schweizerischen Vernehmlassung die Meinung aller Beteiligten abgefragt, Vertreter der Parteien, Verbände, Interessensvertretungen dürfen ins Mikro schweigen – und Alfred Ill, den Klaus Brömmelmeier immer verzweifelter und erratischer gibt, wird nach und nach mit dem Kabel erwürgt.
Getötet im Rechtssystem – da ringt sich Viktor Bodó dann doch noch zu einer starken Aussage durch, lässt unter dem Staub des moralinsauren Stücks und unter all dem Firlefanz und dem Klamauk das Bittere durchschimmern. Da endlich ist er ganz bei sich.
Der Besuch der alten Dame
von Friedrich Dürrenmatt
Regie: Viktor Bodó, Bühne: Juli Balász, Kostüme: Fruzsina Nagy, Musik: Klaus von Heydenaber.
Mit: Amine Yacoubi, Klaus Brömmelmeier, Benedict Fellmer, Gerrit Frers, Philippe Graff, Christian Heller, Henrike Johanna Jörissen, Julia Kreusch, Claudius Körber, Matthias Neukirch, Nicolas Rosat, Friederike Wagner, Milian Zerzawy.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.schauspielhaus.ch
"Bodó lässt Dürrenmatts tragische Komödie zum 25. Todestag des Dramatikers wie ein schauriges Kasperletheater klackern", schreibt
Sein selbstreflexives Grand Guignol brauche weder die Journalistenszenen noch die bitteren pädagogischen Chöre am Ende. "Konsolidiert das famose Ensemble aus Komik-Cracks konservatives Texttheater? Eigentlich ja; und die auf die Spitze getriebene Komik fällt da und dort durchaus mal in den Dreck. Aber insgesamt war Bodós Rolle rückwärts eine clevere Flucht nach vorn."Der Regisseur aus Ungarn verleihe dem modernen Klassiker mithilfe seines Ausstattungsteams patinierten Retro-Charme und treffe punktgenau die miefige Atmosphäre der Allerweltskleinstadt, findet
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Ein guter, unterhaltsamer Dürrenmatt, auch dank eines guten Ensembles.
Das sich allerdings die Darstellerin der Clair hier besonders hervortuen würde ist eine etwas kühne Behauptung.
Der nicht endende Lachanfall von dem in der Kritik geschrieben wird, ist doch eher peinlich, weil er, eben nicht mit, für diese Art der Komik nötigen Energie und nicht mit der erforderlichen Waghalsigkeit gespielt wird.
Man erkennt die Absicht, aber es haut bei ihr nicht hin.
Erstaunlich, dass die Kritik dieses nicht zu differenzieren vermag, zugegeben, das ist etwas komplexer als eine verhaute Pointe zu erkennen, weil eine Pointe bei dieser Komik eben erst entsteht wenn der Spieler mit waghalsigem Mut über die Leitplanke des guten Geschmacks und der normalen Ordnung hinwegfliegt
Dann ist es entweder wirklich komisch, oder der Spieler wirktin seinem Bemühen peinlich.
Es aber mit schüchtern (oder geschmackvollen) angezogener Handbremse zu versuchen, das muss scheitern.