Hilde & Hilde – Jasmin Schädlers partizipatorisches Nibelungenprojekt am Theater Aalen
Im Hintergrund das Gebirge der Gendertheorie
von Thomas Morawitzky
Aalen, 28. Mai 2016. Sie alle sind Brunhild, sind Kriemhild. Die Kriegerin und das Heimchen sind zwei Gesichter jeder Frau – oder können es sein. Regisseurin Jasmin Schädler behauptet das und stellt sie einander gegenüber, spielt mit der Nibelungensaga, den Frauenbildern in Mythos und Alltag. "Hilde & Hilde" heißt ihr Stück, ihre Abschlussarbeit für die Akademie für Darstellende Kunst in Baden-Württemberg, nun zu sehen im Theater Aalen: Ein Experiment, das Darstellerinnen und Zuschauer fordert.
Faktenmaterial und Auskünfte
Zuerst sind da die Frauen aus Aalen. Über Inserate und Kontakte zu Theaterworkshops fand die Regisseurin ihre Laiendarsteller. "Hilde & Hilde" soll später auch bei den Nibelungenfestspielen in Worms aufgeführt werden. Dann werden andere Frauen, Wormser Frauen, diese Rollen spielen. Und sie werden ihre eigenen Recherchen vortragen: Faktenmaterial, Auskünfte zur rechtlichen Situation von Frauen, zum Sexualstrafrecht, zum Witwenrecht, zur Kunst des Damenreitens. All das wurde hier jetzt von den Laiendarstellerinnen aus Aalen gesammelt. Sie tragen es vor, am Rande des Spielfeldes, berichten von Interviews, von langen bürokratischen Wegen, von den Schwierigkeiten, auf die Frauen heute noch stoßen, im Berufsleben etwa.
Bei bloßen Lektionen zur Gleichberechtigung belässt es Jasmin Schädler nicht. Ihre acht Laiendarstellerinnen setzt sie als Chor ein: Erst noch füllen sie die Bühne aus, stehen dort zusammen, sprechen gemeinsam oder jede für sich. Sehr unterschiedliche Frauen, unterschiedlich gekleidet, mit sehr eigenen Stimmen sind es. Dann verlassen sie das Bild und die Schauspielerinnen treten auf. Doch die Frauen werden sich später immer wieder ins Spiel der beiden Schauspielerinnen Elisa Ueberschär und Godje Hansen einmischen.
Die starke Frau, die schwache Frau
Die Bühne im Theater Aalen besteht bei dieser Produktion aus nichts als einem Quadrat, mit weißen Klebestreifen auf schwarzem Holzboden markiert. Das Publikum hat auf gleicher Ebene Platz genommen. Zwei Truhen stehen sich verwittert gegenüber. Eine Truhe gehört Brunhild, die andere Kriemhild. Die Frauen aus Aalen haben darauf verschiedene Requisiten abgelegt, die sie ihnen zuordnen.
Elisa Ueberschär und Godje Hansen sind uniform in Schwarz gekleidet, barfuß, bewegen sich in sorgfältig gesetzten Schritten auf den weißen Linien entlang, sprechen Passagen aus dem Nibelungenlied. Ein Aktenwagen fährt auf der Bühne umher, aus ihm ziehen sie ihre Szenen. Nicht immer in der richtigen Reihenfolge, die Rollen werden scheinbar zufällig verteilt: Jede kann Brunhild sein, einmal sind sie beide Kriemhild; jede kann Hagen, Siegfried oder Gunther sein.
Spannung erhält das Stück durch das ungemein körperliche Spiel der beiden Darstellerinnen. Elisa Ueberschär ist jene, die harscher, selbstbewusster auftritt, Aggression ausstrahlt; Godje Hansen wirkt weicher. Sie ringen miteinander, liegen am Boden und drücken die Arme; sie lehnen aneinander, lassen sich aufeinander fallen, stützen sich, winden sich umeinander: Die starke Frau, die schwache Frau, beide verraten, beide verfeindet. "Brunhild und Kriemhild sind für mich das Beispiel dafür, was passiert, wenn Frauen fremdbestimmt werden und keine Freiräume haben", erklärt die Regisseurin im Programmheft. "Beide definieren sich zum Zeitpunkt ihres Streites über ihre Männer, obwohl ursprünglich beide gegen das Heiraten waren."
Gelungenes Experiment
Ein Abend, der unterhalten oder bezaubern will, ist das ganz sicher nicht. Hier geht es zunächst einmal streng und analytisch zu: Schwerer Text, alte Sprache, eine fragmentierte Handlung, viel Schweigen und im Hintergrund das Gebirge der Gendertheorie. Mehr und mehr entwickelt die Anordnung jedoch eine Dynamik, findet sich der Zuschauer mit den Rollensprüngen zurecht, fügen sich auch die Motive der Nibelungensage zusammen. Und zuletzt wird "Hilde & Hilde" dann eben doch zu einem spannenden, soll heißen: gelungenen Experiment.
Das liegt am intensiven Spiel von Elisa Ueberschär und Godje Hansen; das liegt aber auch daran, dass die Laiendarstellerinnen, die selbstbewusst auftreten, an der Gestaltung des Abends entscheidend beteiligt waren. Das Miteinander von Schauspielerinnen und Laien auf dieser kargen Bühne spiegelt, wie Mythos, Muster und Realität sich im Alltag überlagern. Die Frauen aus Aalen übten bei der Arbeit an ihrem Stück auch Kritik: "Ich war entsetzt darüber, dass die Vergewaltigung einer Frau im Mittelpunkt einer deutschen Heldensage steht", sagt eine von ihnen auf der Bühne.
Hilde & Hilde
von Jasmin Schädler
Regie: Jasmin Schädler, Ausstattung: Susanne Brendel, Dramaturgie: Tonio Kleinknecht, Bühne, Licht, Ton: Fred Wahl, Martin Obele, Holger Fried, Heinz Rieger, Kevin Sierra-Eifert. Schneiderei: Kay Linke.
Mit: Cornelia Bayerl, Désirée Edelbluth, Godje Hansen, Angelika Huber-Sommer, Katherina Kolb, Lynn Mülzer, Eva-Maria Markert, Anna-Sophie Pall, Adelinde Pfistner, Elisa Ueberschär.
www.theateraalen.de
www.adk-bw.de
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