Flüchtlinge fressen - Nach knapp zwei Wochen Aktion und Diskussion entlässt das Zentrum für politische Schönheit die Tiger vorm Maxim Gorki Theater Berlin aus dem Show-Käfig
Skandale ungewisser Größenordnung
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 28. Juni 2016. Spoiler alert! Die Tiger haben niemanden gefressen, zumindest nicht öffentlich. Die Erwartung, dass es dazu wirklich kommen würde (die seit dem 16. Juni 2016 geschürt wurde), wird dem zahlreich erschienenen Publikum vorm Maxim Gorki Theater auch ein bisschen zu gewaltsam attestiert von May Skaf, Schauspielerin aus Syrien, die sich bereits vergangene Woche bei einer Pressekonferenz im Gorki Theater der Öffentlichkeit vorstellte als "erster Flüchtling, der bereit ist, sich den Tigern zum Fraß vorzuwerfen". "Nicht Poseidon entscheidet über unser Schicksal, sondern Sie", schmetterte sie da als Stellvertreterin des Leids dem Publikum als Stellvertreter*innen der demokratisch legitimierten europäischen Abschottungspolitik an die Köpfe.
Der Countdown des Untergangs ist abgelaufen
Nun steht May Skaf, wieder mit Asche auf dem Haupt, auf der Treppe vorm Gorki. Der Tigerkäfig ist mit schwarzen Holzbrettern verrammelt, es ist also unklar, ob die Biester überhaupt noch anwesend sind. Der "Countdown des öffentlichen Untergangs" ist abgelaufen, und Skaf verliest einen "Brief der Tiger an die Menschen", in dem sich die Tiger dafür entschuldigen, dass die erwartete Sensation ausbleibt – sie hätten abgestimmt und sich dagegen entschieden, "eurer Logik des Tötens zu folgen". Der Brief enthält außerdem Sätze wie "Aus unserer Festung sahen wir auf eine Landschaft des Friedens ... ein ordentliches Pflaster, das Blut nicht mehr kennt" oder "Wir waren das falsche Bild in euren Augen, eine Störung".
Später entschuldigt Skaf sich in einem "persönlichen Statement" auch selbst noch einmal dafür, dass sie die Erwartungen des Publikums enttäuscht – "es gibt nichts Schlimmeres für eine Schauspielerin". Ihr kontrolliertes Pathos ist schwer auszuhalten, sie bricht genau an den richtigen, also total falschen Stellen in Tränen aus, legt lange, bedeutungsschwangere Pausen ein, in denen sie sich sammelt zur größeren Authentizität der auf arabisch gehaltenen Rede, deren deutsche Übersetzung vom Band eingespielt wird. Trotzdem oder gerade deshalb macht sich eine ehrliche Beklemmung breit, in die Skafs finale Aufforderung tief hineinfällt: "Vergesst mich und die Tiger. Denkt an euch und daran, was für Menschen ihr sein wollt."
Es ist viel von Zynismus gesprochen worden die letzten anderthalb Wochen – das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) wirft der Politik Zynismus vor, die Politik wirft dem ZPS Zynismus vor, das ZPS gibt den Vorwurf zurück. Ping-Pong-Ping. Aber auch aus dem Theaterpublikum, zum Beispiel im nachtkritik-Kommentarforum, schallt immer wieder der Zynismus-Vorwurf (v.a. ans ZPS). Sitzt das Wort bei allen ein bisschen zu locker?
Oder ist das nicht doch bezeichnend, dass man sich gegenseitig die ultimative Schuld zuschiebt? Hat das ZPS hier vielleicht doch, ultimative Künstler-Eitelkeit hin oder her, einen Nerv getroffen? In seiner (übrigens total Gorki-typischen, aus den Inszenierungen von Yael Ronen bekannten, diesmal aber extremen) Fallhöhe von gekünstelter Darstellung und Selbst-Preisgabe der Darstellerin – Skaf war in Syrien ein Fernsehstar und wurde 2011 zum Symbol der Revolte gegen Assad; nach ihrer Verhaftung und Wieder-Freilassung floh sie nach Frankreich – ist der Auftritt von May Skaf ein überraschend wahrhaftiger Moment, der den Horizont tatsächlich bis aufs Mittelmeer öffnet.
Diskussion um den abgesagten Flug mit syrischen Flüchtenden
Im "Salon zur letzten Schönheit" wird ihre letzte Aufforderung dann auch gleich noch einmal wiederholt, jetzt in auf konstruktiv getrimmter Atmosphäre: "Ihr seid jetzt die Schauspieler, die vielleicht etwas ändern können", sagt Yasser Alaamoun, der schon bei der die ganze Aktion einleitenden "Bundeserpresserkonferenz" auf dem Podium saß und jetzt eine kleine, alberne Fake-Revolution performt, indem er sich an die Stelle von Philipp Ruch setzt und Interviews führt mit einem Mann, dessen Angehörige in der "Joachim 1" nach Deutschland kommen sollten; der Flug ist am Dienstagmorgen von Air Berlin abgesagt worden mit dem Argument, dass syrische Staatsbürger ein Visum bräuchten, um nach Deutschland einzureisen.
Außerdem bittet Yasser noch Baian aufs Podium, eine junge Frau, die seit September 2014 in Deutschland ist. Sie erzählt, dass sie nach dem Sommer in Leipzig ein Studium der Politikwissenschaft beginnen wird und sagt, dass sie nach wie vor bereit sei, sich von den Tigern fressen zu lassen. "Seit zwölf Tagen warte ich darauf, dass diese Leute hier im Salon zu Gehör kommen", sagt Fake-Revolutionär Yasser mit zufriedenem Grinsen und übergibt das Mikro dann aber doch brav an den gerade noch explizit entthronten Philipp Ruch, der es sich nicht nehmen lässt, die Aktion persönlich – nicht abzuschließen.
Gerichtsverfahren angekündigt
Mit dem Crowdfunding-Geld für "Joachim 1" und mit den skandalösen Unterlagen, die man im Rahmen der Aktion gesammelt habe, wolle man vor Gericht ziehen und die Bundesregierung unseres "Unrechtsstaats" verklagen, sagt er und zitiert ein Schreiben des Bundesinnenministerium an einen Anwalt des ZPS, in dem es heißt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen, die Einreiseverweigerung für die Passagiere der "Joachim 1" außer Kraft zu setzen, nicht vorlägen – Ruch erklärt das für falsch, das Gesetz sehe vor, dass "humanitäre Gründe" für die Aussetzung einer Einreiseverweigerung genügten.
Außerdem beruft er sich auf das von einem B.Z.-Reporter gestreute Gerücht, Air Berlin habe den Chartervertrag auf politischen Druck aus der deutschen Botschaft in Ankara hin annulliert – die Tatsache, dass das Bundesinnenministerium die Absage des Fluges öffentlich verkündete, bevor das Schreiben von Air Berlin das ZPS erreichte, deutet darauf hin, dass da was dran sein könnte. Skandale über Skandale ungewisser Größenordnung also, wie das ZPS sie ja zuverlässig produziert – ob sie bis zum Bundesverfassungsgericht reichen, weiß Ruch selbst nicht, und selbst wenn, könnte es, so schätzt er, zwei bis drei Jahre dauern. Selbst, wenn es nicht funktioniert, wird das aber eine wahrlich raffinierte Wendung gewesen sein, und die Aktion hat sich selbst verlängert in eine ungewisse Zukunft.
Krachend gescheitert
Zunächst mal sei man allerdings "krachend gescheitert", sagt Ruch. Aber um Erfolg gehe es ja auch gar nicht, sondern darum, "den politischen Willen sichtbar zu machen". Was natürlich mal wieder stark in Richtung Pegida-Sprech geht. Sollen wir, das Publikum, "die Schauspieler", unsere Imperatoren nun stürzen (Merkel an den Galgen)? Oder emotional protestvotieren wie die Briten? Und das schlechte Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten, den kippligen Zustand der Demokratie, macht hierzulande zum Beispiel die AfD als Shooting Star doch eigentlich gerade gut genug sichtbar.
Es bleibt, nachdem Ruch den Vorhang für gefallen erklärt hat (wirklich!), der Eindruck, dass die finale Aufforderung ans Publikum, jetzt doch selbständig aktiv zu werden, bestürzend naiv ist – auch wenn die Aktion niedrigschwellig war in ihrer Anlage, niemand Eintritt bezahlen musste, um die (übrigens sogar per Livestream übertragenenen!) Tiger anzuschauen oder die Diskussionen im "Salon zur letzten Schönheit" mitzuverfolgen, hat die totale Vereinnahmung des ZPS aller Reaktionen in Wort und Tat den Möglichkeitsraum möglichst eng gemacht.
Es bleibt außerdem der Eindruck, dass sowohl die rassistische Diskussion um "Wirtschaftsflüchtlinge" als auch die aktuell wiederaufgewärmte politische Debatte über "sichere Herkunftsländer", die dieser Tage beim EU-Gipfel in Brüssel geführt wird, hier vollkommen ausgeklammert worden sind und dass das hochproblematisch ist, wenn man an ein globalisiertes Gewissen appellieren will.
Es bleibt aber eben auch der Eindruck, dass die Deutungshoheit über das Wort "Zynismus" tatsächlich auf den Prüfstand gestellt worden ist. Das ist gar nicht wenig und, um noch ein anderes häufig missbrauchtes Modewort zu bemühen: hoffentlich nachhaltig.
Flüchtlinge fressen – das Finale
vom Zentrum für politische Schönheit
Mit: May Skaf, Yasser Alaamoun, Philipp Ruch und den Diskutant*innen Maher (?), Baian (?)
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.politicalbeauty.de
www.gorki.de
Über den Auftakt der Aktion "Flüchtlinge fressen" schrieb Sophie Diesselhorst am 16. Juni 2016.
"Bis zuletzt blieb offen, was da was instrumentalisiert (die Kunst die Politik oder die Politik die Kunst) und welchen Realitätsstatus das Ganze hat", schreibt Mark Siemons in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.6.2016). "Wer uns kennt und unsere Arbeitsweise, der weiß, dass wir halten, was wir versprechen", habe Philipp Ruch im Vorhinein erklärt. "Auf der Ebene einer solchen Ankündigungsästhetik war es daher nicht unproblematisch, dass sich die Aktivisten in eine Situation brachten, in der ihre Versprechungen überprüft werden konnten: Am Ende wurden Flüchtlinge eben weder ausgeflogen noch gefressen." Das sei nicht nur für die Binnenlogik des Projekts ein Mangel, so Siemons – "den man, wie es die dann rasch wieder die Kunstsphäre verlassenden Aktivisten gern tun, ebenso wie alle anderen Unstimmigkeiten und Brüche der Aktion für unbedeutend halten kann angesichts der Größe des dabei zum Thema gemachten Problems". Schwerer wiege, dass sich Ernst und Unernst, Wirklich und Unwirklich, Richtig und Falsch in dieser Konstellation des prinzipiellen Kunstvorbehalts generell nicht verlässlich unterscheiden ließen. "Das brauchen sie in der Kunst tatsächlich nicht, in einer Debatte aber, in der es wirklich um etwas geht, ist man darauf angewiesen. Das Flugreiseverbot für Flüchtlinge würde eine Diskussion verdienen, an der alle Beteiligten teilnehmen und Verantwortung für ihre Argumente übernehmen."
"Die Aktion, ein Appell an Empathie und Imagination, war ein Erfolg", schreibt Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung (30.6.2016). "Sie organisierte Aufmerksamkeit, verbaute, so gut es geht, den Ausweg in die Gleichgültigkeit." Aktionskunst, die sich an die allgemeinen Geschäftsbedingungen und den Amtsweg halte, sei belanglos, so Bisky, und (nachdem er selbst einige Schwächen aufgezählt hat, z.B. "Die allabendliche Show am Tigerkäfig zelebrierte (...) eine merkwürdige Vorstellung von Politik, als ginge es nicht um Mehrheitsbeschaffung, um Abwägen und das Austragen von Konflikten, sondern allein darum, eine hartherzige Exekutive zu Akten der Humanität zu überreden"): "Es ist leichter, die Schwächen der Aktion aufzuzählen, als das Thema, den alltäglichen Tod vor unserer Haustür, intelligent und wirksam zu behandeln."
Die Grenzen in der Kunst seien heutzutage aufgelöst, "und was radikal daherkommt, wie die Versuchsanordnung mit großen Raubkatzen, rutscht leicht ins Banale ab", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (30.6.2016). Und dennoch seien am Tigerkäfig des ZPS immer Schaulustige und nicht wenige Medienvertreter zugegen gewesen, "weil sie sich etwas erhofften. Sicher keine Circus-Maximus-Fütterung, aber vielleicht eine überraschende Volte, etwas Kunstvolles". "Sie wurden enttäuscht", so Schaper. "Die Aktivisten vom Zentrum beließen es bei einer schlappen Erklärung. Nichts ist passiert." Das sei spezialisiert auf Simulationen. Hier aber hätten sie Menschen in Not möglicherweise Hoffnung gemacht, "und das Geiern auf den Schauwert überlagerte die brennenden Fragen der Flüchtlingspolitik. Man darf sie nicht zusätzlich dramatisieren und aufladen mit angetäuschtem Menschenopfer."
"Am Ende bleibt eine Show übrig, die zeigt: De Maizière will keine Syrer mehr kommen lassen, und es ist ihm scheißegal, was aus ihnen wird", schreibt Christian Jakob in der taz (30.6.2016). Der dürftige Neuigkeitswert dieser Tatsache "ist dabei ebenso wenig das Problem wie die große Geste, mit der sie ausgebreitet wird." Nichts spreche dagegen, immer wieder an das Flüchtlingssterben zu erinnern, und für große Gesten ist Theater nun mal da. "Aber diese Aufführung ist, genau wie die Tigerfraßnummer und diverse Vorläufer, erkauft mit einem ins Obszöne reichenden Umgang mit den Flüchtlingen. In immer neuen Variationen werden Sterben und Töten echter Menschen als wüste Zitate der Realität hergenommen."
In der Berliner Zeitung (30.6.2016) schreibt Arno Widmann, der Witz des Theaters des Zentrums für politische Schönheit liege darin, dass Kunst und Politik nicht zu trennen sind. Air Berlin habe sich als getäuscht betrachtet von den Aktionskünstlern und in der Begründung der Vertragskündigung geschrieben, es handele sich in erster Linie nicht um den Transport von Theatermitarbeitern, sondern um den "Teil einer großangelegten politischen Kampagne". "Air Berlin hat recht. Und unrecht zugleich" schreibt Widmann dazu und endet mit offenen Fragen wie zum Beispiel dieser: "Gehört der Flug, also der wirkliche Transport wirklicher Menschen, zum Stück oder gehört das Scheitern dazu?"
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(Und es ist zu hoffen, dass von den Spendern aktiv und persönlich ein Einverständnis eingeholt wird, dass die für Flüchtlinge gespendeten Beträge jetzt für Anwaltskosten aufgewendet werden dürfen.)
Humanistisch ist, wenn man nicht das Schlimmste erwartet, sondern das Gute. Alles andere ist Schauspielerei, das heisst vor allem in der deutschen Übersetzung bzw. in der Art zu sprechen (Lea Draeger), wie ich meine. Denn niemand kann wirklich nachvollziehen, was ein anderer erfährt bzw. erfahren muss, wie ein anderer erlebt und fühlt. Das ist unser aller Zynismus, ob wir wollen oder nicht, ob wir nun Fussball schauen oder nicht. Man kann nur versuchen, sich hineinzuversetzen, das nennt man Empathie. Das kann jede/r, dafür muss man nicht kämpfen und sinnlose Ideologien aufbauen. Und das können auch nur Menschen. Tiere können nicht fühlen, was andere fühlen, Tiere reagieren nur auf das Verhalten anderer Tiere. Es gibt eine Demutshaltung von z.B. Hunden, wenn die auf dem Rücken liegen, dann gibt's da auf der anderen Seite eine Aggressions- bzw. Tötungshemmung. Empathie würde ich das aber nicht nennen, sondern eher evolutionär angepasstes bzw. kooperierendes Verhalten.
Menschen haben den Vorteil, dass sie miteinander sprechen können. Hat's denn jetzt nicht geholfen, dieses Gespräch mit dem Lengsfeld von der CDU, z.B.? Tja, ist schon ein Armutszeugnis für unsere Politik/er, denn im Leben haben Handlungen reale Folgen, anders als auf dem Theater. Alle reden immer nur, aber eigentlich interessiert's keinen wirklich. Das kennen sicher nicht nur "die Flüchtlinge". Auch andere gesellschaftliche Gruppen können da ein Lied von singen. Ich sage dazu nur: Gemeinsam wären/sind wir stärker.
Grundsatzfrage: Sind Theatermitarbeiter eigentlich irgendwie wichtigere Menschen als "normale Menschen"? Nein. Ist doch absurd, dass ein Flug verweigert wird, weil es sich um politischen Protest handeln soll. Na ja, aber Theatermitarbeiter schon. Wie bitte? Wie paradox ist das denn? Alle Menschen sind. "I have a dream that one day this nation will rise up and live out the true meaning of its creed: 'We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal.'"