Wassa Schelesnowa / Die Mutter - Tom Kühnel gibt in Freiburg den Theater-DJ und inszeniert ein Gorki-Medley
Die Nichtsnutze und das Biest
von Steffen Becker
Freiburg, 28. Januar 2017. "Hast du mal darüber nachgedacht, warum alle Männer so sind, als hätte sie keine Mutter geboren, sondern als wären sie bloß von den Vätern gemacht?" Fragt die Fabrikantin Wassa Schelesnowa, räkelt sich auf einem der beiden Flügel, wirft ihr Haar nach hinten und demütigt weiter ihre Söhne – auf dass sie nicht vergessen, von wem sie abhängen. Den Sohn von Pelagea Wlassowa trifft es unwesentlich besser. Auf der Flucht vor den Schergen des Zaren sieht er letztmals seine Mutter. Fürs Butterbrot-Schmieren fehlt ihr allerdings die Zeit, der Druck revolutionärer Flugblätter duldet keinen Aufschub.
Regisseur Tom Kühnel lädt in Freiburg zum Erzeugerinnen-Treffen und bringt mit "Wassa Schelesnowa / Die Mutter" zwei Gorki-Stoffe auf die Bühne. Er nennt es einen Theaterabend "mit einer gewissen Herausforderung. Das ist, als ob man zwei Filme hintereinander schaut". Inklusive einer Mash-Up-Phase, bei der sich der Regisseur als Theater-DJ mit einem Händchen für Übergänge betätigt.
Knappe Röcke, dicke Pelze
Es beginnt mit "Wassa Schelesnowa", von Gorki als Abgesang auf die (groß-)bürgerliche Klasse geschrieben. Entsprechend lässt Kühnel seine Schauspieler zu Beginn vor einer Leinwand mit Sklavenmotiv den Text herunterleiern – so als wäre eh schon alles egal. Ausstaffiert sind sie als gängige Vorstellung neureicher Russen – knappe Röcke, dicke Pelze. Und sie reden auch so – affektiert, aggressiv und sehr unterhaltsam. Das (unsichtbare) Familienoberhaupt liegt im Sterben, die Mutter (Melanie Lüninghöner) will das Firmenvermögen vor dem Zugriff missratener (weil von ihr wegstrebender) Kinder retten.
Lüninghöner zieht als Wassa alle Register der Biestigkeit. Sie faltet einen Sohn mit knarrender Stimme zusammen, bis er sich im Flügel verkriecht. Sie wirft sich in verächtliche Posen, trägt die Nase hoch und kokettiert mit der Last, nur Nichtsnutze als Erben zu haben. Den Zoff ums Erbe kann man als krass überkandidelte Show genießen – und wenn's tiefgründig sein muss, als heutig inszeniert akzeptieren.
Tigerkleid und grauer Filz
Eine Übung, die bei der Brecht-Bearbeitung von Gorkis "Die Mutter" kaum gelingen kann: Der angepriesene Kommunismus hat im Gegensatz zum korrumpierten Bürgertum der "Wassa Schelesnowa" nicht überlebt. Die Unwirklichkeit des Stoffes wird unter dem Stichwort "sich neu erinnern" auch im Programmheft angesprochen – und von Kühnel in Szene gesetzt. Im Übergang der beiden Stücke stöckelt Lüninghöner irritiert durch die nahezu gleiche Szenerie – kaum glaubend, dass sie nun in ihrem Tigermuster-Kleid die Sätze einer Arbeitermutter zu sagen hat. Und die Suppe, die sie ihrem Sohn in die Fabrik mitgibt – igitt, mag sie kaum anfassen.
Am Ende steht sie jedoch im grauen Filz als melancholische Revolutionärin mit Flugschriften in der Hand da. Diese Metamorphose und die Überlagerung der Rollen sind das eigentlich Besondere an der Inszenierung und die herausragende schauspielerische Leistung des Abends. Aber auch das kann nicht verdecken, dass der "Mutter"-Teil der Inszenierung die Freiburger Bühne wenig rockt – trotz einer Regie, die aus einem Lehrstück eine Revue von Hanns Eisler-Liedern macht (inklusive eines eigens engagierten Chors). Im Vergleich zur "Wassa" wirkt "Die Mutter" allzu sehr aus der Zeit gefallen.
Riesenbaby und Klassenkämpfer
Zudem gehen die anderen Schauspieler "verloren". Lediglich Martin Weigel als Sohn in beiden Stücken bleibt gleichermaßen präsent – einmal als wütendes Riesenbaby, einmal als nüchterner Klassenkämpfer. Andere wie Lena Drieschner brillieren im ersten Teil des Abends – als Tochter, die Melanie Lüninghöner in punkto Manierismus in nichts nachsteht. In "Die Mutter" verschwindet sie in der grauen Uniform eines unbedeutenden Polizisten. Als Highlight bleibt da ein kurzer "Wassa"-Einbruch bei der "Mutter" hängen – als eine Gruppe von Frauen jene ob der Nachricht vom Tod ihres Sohnes bedauert, allerdings in den Kostümen und im Rollenmuster der Wassa-Sippschaft. Das ist Unterhaltung, die Lust macht auf einen Ausflug zum nahen Russen-Hotspot Baden-Baden.
Wassa Schelesnowa/Die Mutter
von Maxim Gorki und Bertolt Brecht
Regie: Tom Kühnel, Bühne, Kostüme: Viva Schudt, Musikalische Leitung: Mihai Grigoriu, Dramaturgie: Viola Hasselberg.
Mit: Melanie Lüninghöner, Lena Drieschner, Jürgen Herold, Martin Weigel, Marie Bonnet, Lisa Marie Stoiber, Holger Kunkel, Victor Calero, Stefanie Mrachacz.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.theater.freiburg.de
Zwei Stücke hintereinander, ist das wirklich so, als wenn man zwei Filme hintereinander sehe, wie Tom Kühnel vor der Premiere erklärte?, fragt Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (30.1.2017) und antwortet: "So ist das nun aber gerade nicht. Ihm ist auf wirklich staunenswerte Art und Weise gelungen, einen fließenden Übergang zwischen den sehr unterschiedlichen ästhetischen Entwürfen von Gorki und Brecht hinzubekommen und die zwei Teile eng zu verschränken." Das mit einer grandiosen Hauptdarstellerin Melanie Lüninghöner als Dreh- und Angelpunkt. Das outrierte Treiben in "Wassa" habe einen sehr hohen Unterhaltungswert, "allesamt werfen sie sich Gemeinheiten und Unverschämtheiten an den Kopf, die gelegentlich in Schlägereien und Mordanschläge ausarten". Die Stimmung falle im zweiten Teil naturgemäß aus der überdrehten Spaßigkeit in den Ernst eines pädagogischen Projekts. Fazit: "Ein toller, ein umjubelter Abend."
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