Tartuffe oder Das Schwein der Weisen – Claudia Bauer setzt PeterLichts saftige Molière-Übermalung am Theater Basel in Szene
Tendenz zur Entgeilisierung
von Maximilian Pahl
Basel, 14. September 2018. Einige wenige gezielte Heilsversprechen braucht Tartuffe, wenn er im dritten Akt von Molières Komödie auftaucht, um Orgons Familie gefügig zu machen. Das Charisma und die Verheißung tun ihr Übriges beim Dreh an den feinen Rädern der groben Figuren im von vornherein aufgewühlten Milieu. In der Tartuffe-Überschreibung von PeterLicht trifft "Tüffi" eine noch viel gefälligere Opfergruppe, nämlich sieben verwirrte Barockpuppen mit Diskursköpfchen, die viel reden, sehr viel meinen und ihre Welt anhand des Begriffpaares "geil" und "ungeil" einteilen.
Okay-Reigen der Okay-Bürger
Der Grundzustand, soviel steht nach einer viertelstündigen Wechselrede für die Mehrheit der Puppen fest, ist "mitnichten geil". Für Heuchler sind sie also sehr empfänglich. Angetrieben und gebündelt von Katja Jung rasen die Figuren über die drei goldfarbigen Geschosse der Drehbühne, wuseln durch die Garderoben dahinter, bilden Chöre, korrigieren und repetieren ihre Aussage hier- und dahingehend, beschreiben sogar eine "Tendenz der Entgeilisierung" in dieser "ungeilen" Welt, die uns "ungeilerweise umgibt". Cléante äussert den pikanten Verdacht, die anderen seien in Wahrheit Schauspieler. Doch wer ist schon Cléante, wenn Max Rothbart dahinter steckt und höchst wechselhaft und präzise auf Tempo spielt – durchgehend mackenhaft und fremdgesteuert, so wie hier eigentlich alle spielen.
Mitnichten geil: Das Okay-Heim der Okay-Bürger. Bühne von Andreas Auerbach © Priska Ketterer
Was auch immer nun passieren könnte, wird erst einmal witzig plattgeredet, bei künstlichster Verrenkung in natürlichster Sprache, bis zum Auftritt der grossartigen Diva "Orgi": Florian von Manteuffel wird vom Schminktisch aus gefilmt, beklagt inständig das Mittelmaß, den "Okay-Reigen" der "Okay-Bürger" und sein fabelhaftes pinkes Kostüm (Vanessa Rust) kommt erst beim Bühnenauftritt ganz zur Geltung. Er lässt sich feiern, schmachtet und ziert sich, singt ein Lied über Lutschbonbons und steigt ins Geplauder ein.
Erschütterndes Ur-Rüsseln
Mit allem Nicht-Mittelmäßigen kann Tartuffe hier also schon punkten. Etwa mit künstlich verlängerter Nasenbehaarung, worüber länger diskutiert wird. Sowieso ist aber alles an diesem Schwein natürlich "geil" und als solches erscheint Tüffi. Und wie der noch stumme Nicola Mastroberardino da im schmutzigen Schweinekostüm mit matschigen Schrittgeräuschen hereinkommt, entsteht ein unübertroffener Moment in Claudia Bauers Inszenierung: Der Ekel sowie die Faszination für dieses von außen Kommende werden greifbar, denn da fordert es gebieterisch sexuelle Dienste ein.
Und es spricht außerweltlich: Myriam Schröder versteht kein Wort von diesem "Geschabe an den Gutturalwülsten", wenn das Schwein seinen angeschnallten Penis herausholt – doch "kein Problem" für alle, und sowieso "okay", Rothbart hat untenrum auch schon ausgepackt. Er scheint den Sound des Schweins zu verstehen, dieses erschütternde Ur-Rüsseln aus Henning Nierstenhöfers verzerrter Posaune, mit der es kurz weit unter die Textflächen des Stückes hinabgeht.
Lied über Lutschbonbons: Ulla von Frankenberg, Florian von Manteuffel, Mario Fuchs, Max Rothbart, Myriam Schröder, Pia Händler, Katja Jung, Leonie Merlin Young © Priska Ketterer
Gefangen in ihrer Vagheit, zwischen in die Luft gemalten Gänsefüßchen, sind sie alle diesem Schwein verfallen, wollen die "Hände in das Flackern der Abstandslosigkeit" hineinhalten und sich als "Bürger des Reichs der Mitte der Gesellschaft entgrenzen". Doch aus dem Schweinekostüm steigt letztlich ein Mensch heraus, ein "hundskommuner Sex-Schamane", der auch wie alle anderen zu reden beginnt und sich die Sprache dabei noch penisförmig vorstellt. Von der "Ausstülpungslogik des Kapitalismus" handelt sein Monolog, er befürwortet den frei gelebten Fetisch und das Männliche in allen Geschlechtern – die "Tüffi School of Ausstülpung" sei hiermit eröffnet. Alle stecken inzwischen nur noch in Unterwäsche und erscheinen demaskiert als jemand anderes, bleiben aber dennoch dieselben, es ist egal geworden.
Der Schwärze entkommen
Das Ex-Schwein fordert Geld für die bereits besuchten Workshops, wie im gerafften Disclaimer zuvor angedroht. Doch auch so findet man zusammengekauert rauchend in der Garderobe eine Einigung oder zumindest neue Bedingungen, und diese zu erfüllen ist dann wieder "kein Problem". Es läuft unter anderem darauf hinaus, das ganze Spiel nochmals mit der ersten Szene zu beginnen, nur schaut diesmal von Manteuffel vertieft und leer in die Linse der Kamera, wieder wartend auf seinen Auftritt.
Es ist das dritte Mal, dass der Kölner Liedermacher PeterLicht ein Molière-Stück neugedichtet hat, Claudia Bauer hat in Basel bereits Der Menschen Feind von ihm inszeniert. In "Tartuffe oder das Schwein der Weisen" blieb nicht viel mehr als die Kosenamen von den Figuren übrig. Sie knüpfen sich als atomisiert denkende Einheit den Kapitalismus vor, kommen aber nicht weit über ein ausschweifendes schönes Sprachspiel hinaus. Sie sprechen von "kontextualisieren" und meinen Sex, sie sind unscharf, haben unklare Bedürfnisse, aber sie versuchen, der Schwärze zu entkommen. Und der Tisch, über den sie einander ziehen, ist lang.
Tartuffe oder das Schwein der Weisen
von PeterLicht nach Molière
Regie: Claudia Bauer, Bühne: Andreas Auerbach, Kostüme: Vanessa Rust, Musik: PeterLicht, Video: Cedric Spindler, Musikalische Leitung: Henning Nierstenhöfer, Dramaturgie: Constanze Kargl, Licht: Cornelius Hunziker, Maske: Elisabeth Dillinger-Schwarz.
Mit: Katja Jung, Florian von Manteuffel, Myriam Schröder, Mario Fuchs, Leonie Merlin Young, Max Rothbart, Pia Händler, Nicola Mastroberardino, Henning Nierstenhöfer, Julian Gresenz.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.theater-basel.ch
Von einer "hanebüchen überbordenden, durch und durch verpoppten Molière-Überschreibung des Kölner Musikautors PeterLicht, die keine einzige originale Zeile, sondern nur den Grundrhythmus und die Stimmungstendenz des Stücks übernommen hat", berichtet Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.9.2018). "Quatschklumperei" sehe man in Basel, "völlig abgefahren und losgelöst, aber geschickt und streckenweise auch unterhaltsam gemacht. Allerdings sind die meisten Gags für den Moment gemacht. Die Schauspieler, die man für ihre Textbeherrschung sehr bewundern muss, sprechen hier so viel und so schnell, als hätten sie Angst davor, dass die Bedeutung der freien Rede noch während ihres Sprechens verschwände."
Für Christian Gampert vom Deutschlandfunk (15.9.2018) sind Claudia Bauer und PeterLicht ein "starkes Duo, deren Gesellschaftskritik sitzt". Die "dreistündige, neo-dadaistische Performance" habe zwar "ab und zu Hänger, aber langweilig ist es nie. Im Gegenteil: Licht kondensiert aus all dem Seminargefasel und Campus-Gewäsch wunderschöne Neologismen und Sprach-Loops, die manchmal nerven, meistens aber lustig sind – und oft auch der pure Nonsens. Philosophie-Parodie." Claudia Bauer inszeniere "mit Lust am Chaos und viel Wackelkamera". Kurzum: Dieser "Tartuffe", ist "trotz diverser Leerstellen so super, dass er das Zeug zum Kultstück hat".
"Peter Licht hat die betuliche Sprache des Altmeisters nicht nur zerstäubt, er hat sie komplett entsorgt und durch ein Dada-Deutsch" ersetzt, berichtet Siegmund Kopitzki im Südkurier (16.9.2018). Claudia Bauer habe bei ihrer Uraufführung des Textes "an alles gedacht und jeden Schritt, jeden Umfaller, Lacher oder Seufzer, jeden Blick und jede Träne einstudiert. Sie schafft Bilder mit einem Detailreichtum, der sprachlos macht und zugleich nachdenklich: Vielleicht funktioniert das Stück und seine kryptische Botschaft – nur Zauberei kann uns retten – allein durch ihre Regie?" Finales Fazit der Kritik: "Ganz großes Theater! Was noch? Hingehen!"
Von "einer an René-Pollesch-Stücken geschulten Perma-Schwall-Performance" berichtet Stephan Reuter in der Basler Zeitung (17.9.2018). Wobei ihn der "Kurztrip nach Absurdistan" nicht überzeugt. Nach der Demaskierung des Tartuffe werde "die Story, je zäher sie sich dehnt, desto schmalspuriger. Die Groteske, mit der PeterLicht arbeitet, entlarvt sich selbst als Maskerade. Und der Regie, als geschäftsführender Schamanin dieser Flachsinnsveranstaltung, bleibt keine Wahl, als am Ende wieder alles auf Anfang zu stellen."
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Habe gute Sachen von Claudia Bauer gesehen, zum Beispiel den Don Quijote in Magdeburg oder 89/90 auf 3sat. Aber diesmal hat's mich nicht überzeugt.
Ich zappte vom ansonsten stumpfsinnigen deutschen Unterhaltungs-TV auf 3sat in diese Tartuffe-Adaption rein und dachte, das kann ja wohl nicht wahr sein, was für ein Niveau-Gefälle, wie kann man mir etwas so Gutes und Kompliziertes zumuten, ich komme gerade von RTL. Konnte mich der Wirkung dieses Stücks nicht entziehen. Ging nicht. Ich fand es dann doch schon einen ziemlich geilen Prozess, und die Mitte, die Mitte hatte ich ziemlich sicher, obwohl es an den Rändern ausfranste. Tausend Assoziationen, tausend Aha-Momente, oder eher ein Staunen und Erschauern. Ich bin zu dumm, um solche Stücke wirklich zu verstehen. Aber es war herrlich. Es ging aus meiner Sicht vor allem um den Gestus. Den Gestus der Kommunikation. Vielleicht bin ich auch zu sehr kontextualisiert, aber wie wäre es, wenn du etwas tust, was ich will; was ich will und du für dich eigentlich nicht willst, es könnte sich um Verschiedenartiges handeln. Brillant. Jenen Gestus, dem das Hohle innewohnt oder etwa nicht? Das Gestische wird entlarvt, diabolisch übertrieben, von einer Absicht in die nächste getrieben. Als Gegenpol das Sexuelle, als Hort der Selbstbehauptung und des Übergriffigen. Hat mich von Elfriede Jelinek bis Charles Bukowski durch die Manege meiner literarischen Erfahrungen geführt. An einem Nasenring, würde ich sagen. Seit der Publikumsbeschimpfung von Peter Handke habe ich nichts mehr gesehen, was mich so "anwichst", aber auf eine letztlich Katharsis-Art. Dieses Stück hat etwas Pornografisches, nicht wegen der impliziten sexuellen Thematisierung, sondern weil es den Tartuffe grillt, zuspitzt, aufs Ganze drängt und Fürchterliches über ihn berichtet. Wir alle sind viel mehr Tartuffe, als wir uns das eingestehen (wollen). Ein scheußliches Stück, weil es einen vor der Selbstentblößung nicht bewahrt, ganz im Gegenteil. Ich hatte danach einen Bärenhunger auf das Leben, das kann ich jedem Leser hier versichern.
Dass dieses Schwein sich nach der Pause als „ganz normaler Sex-Schamane“ entpuppt, tut der Verblendungsspirale keinen Abbruch. Eine irrwitzige Aufdeckungsorgie lässt die Besessenheit mit Wahrheit und Authentizität und Individualität immer groteskere – und zwerchfellerschütterndere Blüten treiben. Masken werden getauscht, Identitäten wechseln und verschwimmen, das fantastische Ensemble spielt sich in einen Rausch, der die Verwechslungskomödie bis zur Kenntlichkeit verzerrt, um abzubrechen, zu kippen in die sachliche Pseudoabgeklärtheit rundumoptimierterter Millennials, die vernünftig sich zurück in die eigene Verblendung diskutieren, denn diese zu akzeptieren, wäre ja kontraproduktiv. Da erweist sich „“Tüffi“ (wandlungsfähig: Nicolo Mastroberardino) als geschickter Manipulator, der die Gefangenschaft seiner Puppenkunden in gesellschaftlichen Normierungsnarrativen klarsichtig ausnutzt. Hier gibt es am Ende keine Entlarvung, sondern einen wahren Wiederanfang, eine genüsslich entsetzliche Rückkehr in die Ewige Betrugsschleife. Die eine des Selbstbetrugs ist, selbstgewählt und -gefällig, weil es einfacher ist, sich als Abziehbild zu definieren als herauszufinden, wer oder was, man, die Welt, dieses Lebensdingens sein könnte. Dann lieber Leihbonbons. Das Licht geht langsam aus und wieder an, Mastroberardino kehrt als Showman zurück, der gelangweilte Authentizitätsaffe braucht neuen Zucker und den bekommt er. Mit mehr bizarr verdrehten Küchenphilosophiephrasen auf der Showtreppe, ins Extrem gedreht, sodass sie ihre Bedeutungsfreiheit komplett auskosten dürfen, endet dieser bitterböse, zunächst unerträglich nervige, später eindrucksvoll hinterfotzige Abend. „Tüffis“ Workshops werden weiter gut besucht bleiben. Haben wir nicht gerade für einen gezahlt?
Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2019/05/15/leihbonbons-an-salatsose/
„Tartuffe oder Das Schwein der Weisen“ ist vor allem in einer Hinsicht bemerkenswert: bemerkenswert albern. In Barockkostüme gesteckte, aufgeregt plappernde Spieler*innen quälen sich und das Publikum durch möglichst sinnfreie Dialoge, was sie „geil“, „ungeil“ oder „okay“ finden. Zur Pause gibt es berechtigte Buhrufe, nach der Aufführung verhaltenen Applaus.
Wie bei Molière betritt die Hauptfigur erst im dritten Akt die Bühne: Tüffi ist ein triebgesteuertes Schwein mit angeklebtem Riesen-Dildo (Nicola Mastroberardino), das genauso sinnfreies Zeug faselt wie der Rest und sich als Sex-Schamane entpuppt, der seinen Kunden mit Selbstoptimierungs-Workshops das Geld aus der Tasche zieht. Als Running Gag verstecken sich alle Spieler*innen wie der leichtgläubige Orgon unter irgendwelchen Tischen und diskutieren anschließend mit dem Guru, ob sie den vollen Seminar-Preis zahlen müssen.
„Tartuffe oder Das Schwein der Weisen“ ist nach „Der Geizige“ (2010, Regie: Jan Bosse, Gorki Theater) und „Der Menschen Feind“ (2016, Regie: Claudia Bauer, Theater Basel) die dritte Molière-Bearbeitung von PeterLicht. Die skurrilen Songs wie das „Chipslied“ sind in ihrem Dada-Stil ganz hübsch. Ansonsten kommt die Klassiker-Veralberung aber nicht über eine flache Kapitalismuskritik und fade Gags hinaus. Ein ungeiler Abend!
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2019/05/15/tartuffe-oder-das-schwein-der-weisen-theater-basel-theatertreffen-kritik/