Kasimir und Karoline - Theater Freiburg
Krisengeschöpfe aus King Kongs Stirnfalte
von Andreas Klaeui
Freiburg, 29. September 2019. Am Ende, nach ihrer fehlinvestierten Karriere-Nacht mit dem Kommerzienrat Rauch, wird Karoline zwar immer noch nicht mit dem Luftschiff geflogen sein, aber sie hat immerhin einen roten Herz-Ballon um den Hals. Mit einem schweren Stein dran. Den schmeißt sie weg – und macht es beim nächsten Mal besser. Frauen haben's nicht leicht, "Jennifer Anistons sind selten im wahren Leben", man kann nicht immer Rücksicht nehmen, nicht jeder ist der soziale Erfolg in die Wiege gelegt. Aber "man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich…".
Wettbewerbsvorteil: Cabrio
In Christina Tscharyiskis ohnedies stark auf sie fokussiertem Freiburger "Kasimir und Karoline" holt die Schauspielerin Hanna Binder aus zu einem feministischen Empowerment-Monolog, bevor ihre Karoline sich mit den bekannten resignativen Verabschiedungsworten in die Ehe mit Schürzinger begibt ("dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabeigewesen"). Bei der nächsten sich bietenden und mit dem Cabrio vorfahrenden Gelegenheit wird sie auch diesen Schürzinger stehen lassen. Dabei ist er der einzige einigermaßen authentische Mensch in einem ziemlich gruseligen Umfeld. Der Schauspieler Lukas Hupfeld findet für Schürzinger viel echtes Leben im falschen. Aber natürlich braucht auch er nicht lange, um seinen Vorteil zu erkennen und zuzuschlagen.
Christina Tscharyiski arbeitet sehr präzise und mit gewinnbringender Lust zur grotesken Vergrößerung die sozial- und genderkritischen Linien bei Horváth heraus und folgt seiner Fabel im übrigen mit aller Härte. "Kasimir und Karoline" ist ja das Stück zur Mutter aller modernen ökonomischen Krisen, zur großen Depression der 1930er Jahre; Tscharyiski stellt Horváths alte Fragen mit zeitgenössischem Interesse. Nach den Mechanismen der Entfremdung und dem Tauschwert von Liebe; am Beispiel dieses "abgebauten" Chauffeurs und seiner Noch-Verlobten. Karoline will sich vergnügen auf dem Oktoberfest, er ist aus nachvollziehbaren Gründen niedergeschlagen. Sie entzweien sich, versteifen sich, flüchten aus einer unmöglichen Beziehung in die nächste, immer auch den Warenwert der Liebe auf dem sozialen Aufstiegsmarkt im Auge. Aber sei es mit dem oder jenem, es bleibt das nämliche, und das Schicksal nimmt seinen mitleidlosen Lauf – oder, wie es Horváth etwas zynischer formuliert: "Die Liebe höret nimmer auf."
Lemurenhaftes im Zentrum der Gesellschaft
Das paulinische Stückmotto bekommt in Freiburg sehr eindeutig animalische Schlagseite. Ein Gorilla-Schädel und die dazugehörige geballte Faust dominieren das Bühnenbild von Sarah Sassen. Die Liebespaare treffen sich gern in King Kongs Stirnfalte; Rauch und Speer (Michael Witte, Henry Meyer) kriechen ihm auch mal ins Maul, drinnen muss sich so was wie ein Darkroom befinden. Horváths Oktoberfest hat bei Tscharyiski rein gar nichts Volksstückhaftes an sich, sie vermeidet das Horváth-Klischee und inszeniert statt dessen eine kleinbürgerliche Freakshow. Der Kommerzienrat und der Landgerichtsdirektor sind lemurenhafte Gnomen, besonders Michael Witte vermag übers ganze Gesicht ein Houellebecqsches Sabbergrinsen zu kultivieren. Sie sind der Rummelplatz-"Abnormitäten" (wie Horváth sie verlangte) genug und als diese mithin im Zentrum der Gesellschaft angekommen und nicht mehr an irgendwelchen exotischen Rändern zu vermuten.
Geschunkelt wird trotzdem, und zwar von einem unheimlich gemütlichen Burschen-Chor, der das einschlägige Repertoire vom Jägerlied bis "Eins, zwei, gsuffa" voll drauf hat und zu dem sich mehrere real existierende Männergesangvereine aus Freiburg und Umgebung zusammengefunden haben. Tscharyiski strukturiert die Groteske auch musikalisch, vermittels dreier Stränge: zum einen ebendieser faschistoid angehauchten Chor-Volkstümlichkeit, zum andern des rebellischen Bodybuilder-Punks von Rummelsnuff, der die sozialkritischen Linien musikalisch kommentiert, und zum dritten greifen auch Karoline und Schürzinger zum Mikrofon und zum italienischen Schlager, um die eskapistischen und sentimentalen Aspekte an ihrem Flirt herauszustreichen.
Der Kasimir von Thieß Brammer ist sehr brav, sehr selbstgerecht und etwas farblos. Die Lederhandschuhe, die er trägt, wirken überdimensioniert wie bei einem Kind, das in die Schuhe der Großen geschlüpft ist. Tscharyiskis Kasimir ist der Verlorenste unter all den Verlorenen, Verlierern, die sie gegen Ende wie im Motivations-Workshop skandieren lässt: "Besser! Besser! Besser!" Diesen Zwang zur Selbstoptimierung, den haben wir allerdings Horváths Zeitgenossen voraus.
Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie: Christina Tscharyiski, Bühne: Sarah Sassen, Kostüme: Moana Stemberger, Live-Musik: Rummelsnuff, Liederkranz Zähringen, Chorleitung: Florian Bischof, Dramaturgie: Anna Gojer.
Mit: Thieß Brammer, Hanna Binder, Michael Witte, Henry Meyer, Lukas Hupfeld, Tim Al-Windawe, Angela Falkenhan, Camilla Dania, Berina Musa, Rummelsnuff, Liederkranz Staufen, Liederkranz Zähringen, Männergesangverein Bischoffingen, Sängerbund Oberrotweil, O-Ton Bahlingen.
Premiere am 29. September 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theater.freiburg.de
"Horváths Stück folgt keinem Plot, es ist eine Aneinanderreihung von 117 Szenen, die zu nichts führen", schreibt Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (1.10.2019). "Die äußerst kurzweilige Inszenierung, die von einem glänzend aufgelegten Schauspielensemble getragen wird, akzentuiert und forciert diese Struktur noch. Es geht auf der Bühne eben zu wie im Leben."
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