Fabian oder Der Gang vor die Hunde - Berliner Ensemble
Schlachthaus der Triebe
von Janis El-Bira
Berlin, 12. Juni 2021. Was lange währt, wird endlich lang. Jetzt also – sind wir noch in der vierten oder schon fünften Stunde dieser Geschichte aus dem alten Berlin? – sitzen Wolfgang Michael und Marc Hosemann oben auf dem Bühnendach am gedeckten Tisch. Zwei Krüge Bier und enorme Mengen Kartoffelsalat sind angerichtet. Während Michaels sonderbare Erfinder-Figur noch von ihrem Hang zum Übernachten in den Treppenhäusern anderer Leute berichtet, wird er bereits von fürchterlichen Hustenanfällen geschüttelt. Er prustet und rotzt über den Tisch, bis Hosemann sich mit der Senfflasche zur Wehr setzt, schließlich auch das Bier umschwappt und beide wie selbstvergessen auf dem längst weidlich verschütteten Kartoffelsalat zu rutschen und tanzen beginnen.
Kein Sittengemälde
Es ist zu diesem Zeitpunkt (des Abends und überhaupt) ein großes Glück, das zu sehen. Nicht nur, weil alles so schön kleckst und saut, sondern weil mit dem Zitat eines ikonischen Moments der alten Castorf-Volksbühne natürlich erbauliche Rede gehalten werden soll: Wisst ihr noch, das Engkontakt-Theater? Tot ist es nicht, hat nur geschlafen. Andererseits: Ist das alles, was denen noch einfällt? Henry Hübchens Uraltnummer vom Tanz auf dem Kartoffelsalat? Nicht ganz.
Nighthawks & Barflys auf der Bühne von Aleksandar Denić © Matthias Horn
Wie eigentlich immer beim späten Frank Castorf stellt sich auch dieses Mal die Frage, was das Viele, Lange und Laute kann, bevor alles endgültig zu viel, zu lang und zu laut wird. Beim "Fabian" am Berliner Ensemble lautet die Antwort: Eine ganze Menge. Das hat vor allem damit zu tun, dass Castorf Erich Kästners Bildungsroman (1931) vom moralischen Niedergang des Idealisten Jakob Fabian zwar mit ausgeprägter Skepsis begegnet, ihm aber auf einer ziemlich meta-vertrackten, man möchte sagen: masochistischen Ebene Sympathie entgegenbringt.
Zur Skepsis gehört, dass er der Vorlage beinahe sämtliches Kolorit, auch alles Neusachlich-Dokumentarische aus den Seiten schüttelt. Kein Sittengemälde, keine Satire von Habitus und Jargon der Weimarer Angestelltengesellschaft. Überhaupt wenig Vergnügen im Sinne des Romans, obwohl Aleksandar Denićs hochtürmende Drehbühne und Anna Wohlfarths Live-Musik alles tun, damit die Zeit Raum und Klang wird.
Politik und Puff
Stattdessen fängt Castorf weit hinten an, transponiert das Geschehen noch vor den eingesprengten Fremdtexten (Chamissos "Peter Schlemihl", Kästners "Inferno im Hotel") in einen langschattigen Film Noir der Nighthawks und Barflies und beginnt, wie man es macht, mit einer Leiche. Die liegt mit Kopfschuss im Bett und gehört zu Labude, Fabians Freund und geistigem Gegenspieler, der mit Andreas Döhler wie ein tragischer Franz Biberkopf aus dem falschen Text in die richtige Inszenierung gesprungen scheint. Labudes Freitod aus akademischer Kränkung – verantwortlich zeichnet der einzig zum Berlinern befugte Jonathan Kempf – ist hier der Urknall einer konsequenten Erosion männlicher Egos.
Toxische Dandys? Labude (Andreas Döhler) und Fabian ( Marc Hosemann) © Matthias Horn
Sind Fabian und Labude bei Kästner mehr oder minder theorieverquaste Dandys, aus deren Abenteuern sich der Autor immer dort anspielungsreich ausblendet, wo das Triebhafte den Witz zernagt, gibt es bei Castorf kein Backen ohne Mehl. "Komm, wir gehen ein bisschen ins Bordell", sagt Döhlers Labude schon nach wenigen Minuten. Politik und Puff verlängern sich hier gegenseitig zur Herrschaftshaltung im vermeintlich konsequenzenlosen Raum.
Hosemann und Döhler stemmen gerade die erste Hälfte mit dementsprechend toxischen Bro-Vibes. Keinen Zweifel lassen sie allerdings daran, dass ihre Figuren eigentlich bloß geplatzte Männer-Würstchen zwischen den Beinen jener barbusigen, portalhohen Tänzerin sind, die mit ihrem elektrifizierten Hüftschwung die Bühne überragt. Was im Bordell gelingt, will im Beziehungsleben nicht klappen. Die Frauen lassen sich einfach nicht zwingen, sondern nehmen sich – wie Fabians Freundin Cornelia (Margarita Breitkreiz wie ein Sturm nach der Pause) – was sie brauchen.
Körper wie Mahnmale
Deshalb muss Fabian zur Kompensation auch immer wieder nach hinten in ein Schlachthaus laufen, um aus sexueller Frustration und sehr "Männerphantasien"-like Rindshaxen in blutige Klumpen zu hauen. Marc Hosemann, der stets mit dem Standbein Mephisto sein kann, während das Spielbein auf der Bananenschale des Boulevards ausrutscht, gibt Kästners Hauptfigur eine unheimliche Präsenz zwischen Trottel und Psychokiller.
Fabian und die Frauen: Madita Mannhardt, Marc Hosemann, Clara De Pin, Jonathan Kempf © Matthias Horn
Aber es tut dem Abend gut, dass vor allem in der zweiten Hälfte die Frauen die Dinge an sich ziehen. Und wie großartig sie sind! Die zornesglühende Margarita Breitkreiz. Sina Martens, die eine im Roman eher skurrile Beischlaf-Anbahnung in eine opiumdampfende Swinger-Sauna verwandelt. Clara De Pin, die gemeinsam mit der Burlesque-Tänzerin Madita Mannhardt nicht nur über den eisernen Vorhang und die ersten Sitzreihen herrscht, sondern später zusammen mit Frank Büttner auch so schutzlos nackt ist, dass ihre Körper wie Mahnmale gegen die Barbarei des bald heraufziehenden Krieges im Wind zittern.
Castorf-Frauen, oder besser: Castorfs Frauen, sind es auch, die diesem Abend seine seltsamste, weil private Dimension geben. An zwei Stellen spricht Marc Hosemann längere Texte, die zumindest vorgeben, als intime Briefe von einer mehreckigen Beziehungskiste aus dem Jahr 2018 zu berichten, in deren Mitte ein "Frank" steht. Es geht um Paris, München und Berlin, auch um persönliche Verfehlungen. Wer den Kantinentratsch kennt, weiß Bescheid. Ist das nun Selbstbezichtigung oder gar der Beginn der autofiktionalen Phase? Castorf selbst ein Fabian? Das gäbe glatt noch einmal neu zu denken. Auch über alten Kartoffelsalat.
Fabian oder Der Gang vor die Hunde
von Erich Kästner
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Sounddesign: William Minke, Licht: Ulrich Eh, Videokonzeption: Jens Crull, Andreas Deinert, Dramaturgie: Amely Joana Haag, Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink, Live-Kamera: Andreas Deinert, Kathrin Krottenthaler, Tonangel: Matthias Hofmann, Jonathan Bruns, Live-Schnitt: Jens Crull, Maryvonne Riedelsheimer.
Mit: Frank Büttner, Andreas Döhler, Marc Hosemann, Jonathan Kempf, Sina Martens, Wolfgang Michael, Margarita Breitkreiz, Anna Wohlfarth, Madita Mannhardt, Clara De Pin
Premiere am 12. Juni 2021
Dauer: 4 Stunden 50 Minuten, eine Pause
www.berliner-ensemble.de
Zwei Mal war Frank Castorfs "Fabian"-Inszenierung schon premierenreif. Jedesmal kam ein neuer Lockdown dazwischen. Sina Martens und Frank Büttner sprechen im Interview mit Christian Rakow über die Arbeit unter Corona-Bedingungen.
Kritikenrundschau
Trotz eines leidenschaftlichen Ensembles wird die Inszenierung auf Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.6.2021) überdehnt und nicht sonderlich inspiriert. Marc Hosemann und Andreas Döhler sind aus Sicht der Kritikerin "ein witziges, lässiges, hochenergetisches Duo", die Frauen eher dekoratives Beiwerk, "ob Margarita Breitkreiz als Fräulein Battenberg, das unbedingt zum Film will und dafür die Besetzungscouch in Kauf nimmt, oder Sina Martens als nymphomane Rechtsanwaltsgattin." Dieser Abend verläuft für Bazinger "gänzlich erwartbar – das heißt zum Beispiel, dass von Anfang bis Ende sinnfrei herumgeschrien wird."
Castorf lasse "kaum einen Kästner-Satz auf dem anderen, verdichtet und vertauscht Episoden und Figuren, schiebt zusätzlich Baudelaire-Gedichte ein sowie Adelbert von Chamissos Schlemihl, der seinen Schatten verkauft, und kommt diesem Fabian damit näher als Kästner selbst“, berichtet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (13.6.2021). "Denn vor allem bindet er das Nicht- oder nur Nebenbeierzählte, die sozialen Konflikte, politischen Radikalisierungen, auch die Geschichte nach der Geschichte viel stärker ein." Und das alles "ganz unaufgeregt leicht, wobei es fast ketzerisch klingt, wenn man von 'leicht' spricht bei einem Fünfstünder, in dem der Grundton die Schrei-Frequenz kaum unterschreitet und die Dringlichkeit jedes Dialogs einem Blaulichteinsatz gleicht".
Elmar Krekeler hingegen fragt sich in der Welt (online 14.6.2021), "ob für eine derart eitle Selbstbespiegelung, dieses selbstverliebte intellektuelle Bällebad das Theater tatsächlich wieder aufmachen musste." Es sei unmöglich, dem Stück zu folgen "weil immer gerade wieder was anderes passiert. Ein neues Zimmer vorbeikarussellt wird, ein Film gezeigt wird von hinter der Bühne oder von damals." Der Abend ertränke in Assoziationen und "hätte genauso gut "Labude“ heißen können, weil um dessen Selbstmord und die Gründe dafür sich eigentlich die ganze Szenendiskokugel dreht". "Das heiser geschrieene, verschwitzte, abgearbeitete Ensemble" werde zum Schluss aber verdient gefeiert.
In der taz (online 13.6.2021) hebt Simone Kaempf lobend das "filmreife" Bühnenbild von Aleksandar Denić hervor. Obwohl Glitzer und Glamour geboten seien, schaffe es die Inszenierung "die Armut, das Elend der Menschenmassen der zwanziger Jahre, die großbürgerliche Kälte in den Vordergrund zu rücken und doch ganz im Hier und Jetzt zu sein." Trotz und wegen eines "Overloads an ambivalenten Haltungen, gegensätzlichen Weltbildern und Abschweifungen" sei dies ein Abend "der beglückend ist, zumutend, ambivalent, auch hermetisch, voller Fragezeichen und im Fabian’schen Misstrauen dann doch bei sich: dass die herbeigesehnten Normalmenschen gar nicht wünschenswert sind."
Wolfgang Höbel bewundert im Spiegel (13.06.2021) "den Fieberschweiß, die komischen Verrenkungen und die Lust von Schauspielerinnen und Schauspielern, die offenbar gewillt sind, sich möglichst bis auf den letzten Energierest zu verausgaben." Im Gegensatz zur filmischen Umsetzung sei der Abend "bemerkenswert unkonzentriert." Man könne "große, lärmende Durcheinander des 'Fabian'-Spektakels" auch als Gegenentwurf zur im Programmheft erwähnten Erfolgsserie "Babylon Berlin" sehen. Mit "großartigem Ergebnis", findet der Rezensent.
In der Süddeutschen Zeitung (13. Juni 2021) bescheinigt Peter Laudenbach dem Regisseur Resistenz gegen aktuelles Weltgeschehen: Egal, welcher "Modernisierungsschub" kommt – "seine verlebten Lebemänner und High-Heel-Schlampen in Flitterfetzen werden sich auf immer und ewig in ihren Kaschemmen, Lotterbetten und Stadtlandschaften unter Filmplakaten und Neonschriften abschießen." Es sei ein Castorf auf Autopilot mit den "genreüblichen Kaputtheitsreigen" und schillere ab und zu "dank der Hochleistungsschauspieler". Als "stärkste und traurigste (und vielleicht die einzig ehrliche) Szene" hebt der Rezensent die Verlesung eines privaten Briefes an den Regisseur hevor.
Castorf beklage nicht länger, dass es keinen linken Heroismus und keine Utopien mehr gäbe. Er ziere sich auch nicht vor dem Sittenverfall, frage vielmehr nach dem persönlichen Preis für die moralistische Haltung, wenn sie denn mehr ist als der erhobene Zeigefinger, "er steigt hinab in die Psyche, wo sich die verworfene Welt abgelagert hat und der Ekel sich mit der Faszination vermischt". Castorf sammele das alles ein, walke und würge es und presse es auf der Bühne wieder aus, so Thomas E. Schmidt auf Zeit Online (16.6.2021). "Was herauskommt, ist ein Strom von Bildern und Texten, dramatischen Geräuschen und Gesten, Gelaber & Gebrüll, wie stets, aber doch weitergetrieben, um Grenzen noch weiter zu verwischen, zwischen dem Spiel und dem Video, zwischen Sinn und Nichtsinn, dem Bedeutungsvollen des Stücks und dem Autobiografischen."
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Ich habe viel Bekanntes gesehen: die wunderbare, detailreiche Drehbühne, die glamorösen Kostüme und Highheels der Frauen, die Live-Kamera, Videoleinwand, endlosen Monologe, Slapstick-Einlagen, Überblendungen von Kästners Text mit Fremdtexten usw. Fremdtexte, wie u. a. Chamissos Peter Schlemihl: Der Mann, der seinen Schatten, seine Identität, für Reichtum verkauft. Das kann man als larmoyante Selbstbeweihräucherung deuten. Es kann aber auch als Krise, als Verunsicherung gelesen werden. Stimmt mein Selbstbild noch? Es hilft, Kästners Roman zu kennen, um Szenen auf der Bühne wiederzuerkennen und im szenischen Geschehen nicht den Faden zu verlieren. Es hilft auch, mit Castorfs Befindlichkeiten und Haltungen vertraut zu sein, um der Inszenierung etwas mehr abzugewinnen, als das Fazit eines zähen Abends ohne großen Drive und ohne szenischen Bezug zu den von der Pandemie ausgelösten Veränderungen.
Frank Büttner ist zuverlässig zur Stelle, wenn es darum geht, Kästner-Fremdtext von der Rampe zu brüllen oder toxische Männlichkeit in Reinkultur zu performen. Auch Margarita Breitkreiz ist auf der Höhe alter Volksbühnen-Kunst und schreit sich in der zweiten Hälfte durch die Rolle der Fabian-Freundin Cornelia, die sich in der Filmbranche hochschläft. Neben den beiden Castorf-Stammkräften wirkt auch Sina Martens so souverän, als sei sie schon seit ewigen Zeiten am Rosa-Luxemburg-Platz dabei gewesen. Dieses Trio sorgt dafür, dass sich der Abend immerhin auf Castorf-Normal-Temperatur heranrobbt.
Ein typischer Castorf-Move ist der ironische Stinkefinger, den er den Feministinnen zeigt, die sich seit Jahren über sein Frauenbild beschweren. Die Burlesque-Tänzerin Madita Mannhardt und Clara De Pin tragen einen Hauch von Nichts.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2021/06/14/fabian-oder-der-gang-vor-die-hunde-frank-castorf-berliner-ensemble-kritik/
Ja einiges darf anachronistisch sein, aber karikiert sich dann von selbst wieder in Bruchteilen, wie schön nicht linear zu denken.
Fand in all diesen Gefühlspaletten, wie Ekel und Abscheu im Metzger Zimmer, Berührung wenn Heinz Rühmann so genial paradiert wird, totale Freude über Wolfgang Michaels Spielfreude, Eine großartige Sina Martens soviel Gründe warum Theater niemals so fehlen darf wie leider die letzten Monate... großartiger Theater Abend, tolles Bühnenbild, genialer Sound ...und nein man kann und darf nicht alles immer nur bewerten wollen!
Im November 2016 schrieb ich in einem unmaßgeblichen Kommentar: „Frank Castorf ist ein autonomer und unverkennbarer Zerrspiegel der paradoxen Welt mit ihrer Informationsflut, deren Wahrheitsgehalt immer unklarer wird, seine Stücke sind Welt- und Lebensbewältigung.“ Bei „Fabian“ durfte ich nun Anfang Februar 2023 ein Echo aus der Vergangenheit vernehmen, in den Worten Erich Kästners von 1950: „Der Moralist pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten.“
„Moralist oder Schweineigel?“, fragte eine lippenstiftverschmierte, spuckende Sina Martens (34) in provozierender Hocke an der Rampe. Ihr Gestus war Antwort genug.
Deutschland um 1900 boomte, es gab einen Geburtensegen. Diese Generation, zu der auch Brecht und Kästner gehörten, schrammte am Ersten Weltkrieg vorbei, erlebte aber wiederholt eine „Umwertung aller Werte“, um dann im Zweiten Weltkrieg doch reichlich geschröpft zu werden. Um 1930 waren sie – wie die Protagonisten Jakob „Fabian“ und Stephan Labude - 30 Jahre alt, reichlich desillusioniert, ohne dadurch den Lebenshunger verloren zu haben. Andreas Döhler und Marc Hosemann als Darsteller von Fabian und Labude sind um die 50. Bei Frank Castorf sind überraschenderweise nur die Männer überaltert.
Von den zahlreichen beschrieenen Problemlagen fiel mir eine besonders auf: die Zweckbeziehung des von Fabian geliebten Fräulein Dr. jur. Cornelia Battenberg zu dem deutlich älteren Filmindustriellen Edwin Makart. „Der Mann wirkte brutal und verschlagen, wie ein Teufel ohne Gymnasialbildung“, heißt es bei Kästner.
Harvey Weinstein und nachgestrudelte Me-Too-Targets lassen grüßen. Frank Castorf aber gibt den bockigen alten weißen Mann, der den Spieß umdreht. Man traut seinen Ohren nicht, was da auf einmal tönt. Wie war das noch mal mit Valery Tscheplanowa und Signalen Richtung Regietisch? Bei Castorf sind Schauspielerinnen zu allem bereit, um jegliches Hindernis auf dem Weg zu den Brettern, die ihnen die Welt bedeuten, zu überwinden. Und als Ausdruck des Regie-Trotzes stehen Clara de Pin (29) und Frank Büttner (63) wie Eva und Adam am Schluss an der Rampe: Seht her, geht doch!
NZZ bildet.
In einem aktuellen, insgesamt eher durchwachsenen Feuilleton-Artikel zu Michel Houllebecq wurde immerhin auf sein Gedicht „L’Amour, l’Amour“ verwiesen und die erste Strophe zitiert, die sich wunderbar auf das Theatererlebnis mit Castorfs „Fabian“ münzen lässt: Kurzatmige Rentner / Verfolgten ohne rechten Glauben / Das turbulente Spiel / Eine Handlung gab es nicht.
Sogar die NZZ-Wissenschaftsseite bietet Anregungen zur Reflektion, wenn gefragt wird: „Je freier Frauen bei der Partnerwahl werden, desto mehr Männer bleiben allein. Ist daran unsere Biologie schuld?“ Und schon der Eingangssatz rammt Pflöcke ein: „Männer und Frauen haben ein unterschiedliches Paarungsverhalten.“ Später weiß ein Evolutionsbiologe aus Konstanz: „Es ist der soziale Status, den Frauen wollen, denn der verspricht gute Chancen für den Nachwuchs“. Solche Männer würden sich mit mehreren Frauen fortpflanzen, das heiße „Bateman-Prinzip“.
Die Kehrseite sind Incel-Frustrierte, also Männer, „die keinen Zugang zu sexuellen Beziehungen haben“, gerade deshalb aber „der Idee einer hegemonialen Männlichkeit“ anhängen.
Castorfs „Fabian“ kann man auch als evolutionsbiologische Satire lesen. Am Schluss lässt der Regisseur durch Clara de Pin eventuell noch anwesende Incel-Frustrierte grüßen: Ätsch, für euch gibt’s nix!