Und alle Tiere rufen: dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr - Kunstfest Weimar
Sound of Extinction
von Harald Raab
Weimar, 28. August 2021. Trommelfell gefährdendes Dröhnen eines Schlagzeugs. Scheinwerfer, die dem Publikum grell ins Gesicht leuchten. Ein weißer Vorhang, der an einer schief vom Schnürboden baumelnden Stange hängt. Und damit es auch der letzte Bühnengläubige kapiert, die Warnung in der Vorrede: "Das hier ist kein Theaterstück. (...) Das hier will niemanden beeindrucken." Und dann provozierend vor den Latz geknallt: "Das hier will allen zu nahe treten. Das hier will alle vor den Kopf stoßen."
Scham, ein Mensch zu sein
Nun ja, dies ist Thomas Köck bei der Uraufführung seiner großen Bußpredigt "Und alle Tiere rufen: dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr" im Rahmen des Weimarer Kulturfestes eindrucksvoll gelungen. Wer noch ein Gewissen hat, der schämt sich nach dieser Seelenmarter mit Aufzählung aller Todsünden wider die Natur und Vorführung aller Folterinstrumente, ein Mensch zu sein. Noch dazu ein Europäer. Wie schrecklich.
Köck stilisiert sich ja seit geraumer Zeit als Savonarola der aktuellen Theaterszene. Nach der Klima-Trilogie paradies fluten/ paradies hungern / paradies spielen nun sein "Reqiem-Manifesto" der ausgestorbenen und nicht mehr das Licht der Welt erblickt "haben werdenden" Tiere.
Anklage mit voller Pulle. Freilich, das Genre ist so neu nicht. Vanitas-Untergangsszenarien sind nicht erst seit der Barockzeit ein probater Kulturtopos. Nestroy jagte der Wiener Biedermeier-Gesellschaft Schauer über den Rücken: "Die Welt steht auf kaan Fall mehr lang." Der Unterschied: Der Spaß ist heute blutiger Ernst. Die Moral von der Geschicht' wird schnell klar: Tiere sind doch die besseren Menschen. Es ist höchste Zeit, dass der Mensch, dieser blutrünstige Beutegreifer, vom Erdball verschwindet und das desaströse Anthropozän ein Ende hat.
Live-Hörspiel zum Anschauen
Regisseurin Marie Bues sieht es wohl als vergebliche Liebesmühe, diese Endlosschleife der Anklage mit Action sinnlich zu bebildern – sieht man von einem miauenden imaginären Kätzchen ab, das von einer der Schauspielerinnen gesucht, gefunden und gefüttert wird. Ansonsten wohnt das Publikum der Aufnahme einer Hörfassung des Stücks bei. Deutschlandfunk Kultur ist Koproduzent und Anouschka Trocker zeichnet für Hörspielregie verantwortlich.
An vier Mikrophonen sind in wechselnder Besetzung Astrid Meyerfeldt, Sarah Sophia Meyer, Nico Link und Janus Torp zugange, ihre Manuskriptseiten abzuarbeiten. Klingt fad. Aber gerade in der sprachlichen Umsetzung des Köck-Textes läuft die Chose zu einem brillanten Hör-Erlebnis auf. Die Sprechkompetenz der beiden Frauen und zwei Männern und die Regie lassen Köcks Sprachgewitter, seine intelligenten Worterfindungen leuchten. Hier wird der "sound of extinction" mit Glanz und Gloria, Trauer und Zorn zelebriert. Große Sprachoper. Der Text wird zu einem gewaltigen, farbenprächtigen Bildtableau im Kopf, zum Weltuntergangstheater barocker Überwältigungskraft.
Da es dem Autor wichtig ist, die Zeit von der Zukunft her zu denken, gibt er uns auch eine Lektion in den Fährnissen der deutschen Grammatik. Beispiel: "Dies hier ist eine Erinnerung an all die Leben, die hier einmal existiert haben werden und nun für alle Zeit verschwunden sein werden."
Klageführer: Weißfußkaninchenratten
Welchen Tieren ist wann und wo der Garaus gemacht worden? Es klagen an: die Elefantenkuh und die Zwergameisen, der Harlekinfrosch und die Weißfußkaninchenratte nebst Wüstenwarzenschwein, Wüstenhalbnasenbeutler, Madagaskar-Kronenadler, afrikanischer Blaubock und und und. Gefühlt über 100 ausgestorbene Tierarten. Opfer des menschlichen Gierkapitalismus, verantwortungslosen Raubbaus plus Luftverschmutzung und der daraus resultierenden Klimakatastrophe.
Damit nicht genug: Als Opfer-Ankläger treten auch die Lebewesen auf, die aufgrund der Umweltzerstörung überhaupt nicht die Chance bekommen haben, auf der Erde in Erscheinung treten zu können. Die Liste der Phantasienamen ist zwar nicht ganz so lang, aber es muss ja auch einmal weiter gedacht werden an all die, die gelebt haben könnten und an das, was erblüht sein könnte, wenn man es gelassen hätte.
The Future is Gone
Es geht ums große Ganze und das heißt in Köcks Inferno-Szenarium: um das Nichts: "Weil wir nie werden existiert haben. Weil wir nicht gewesen sein werden." Was braucht es da noch Theaterstücke, Nachdenken, eine lyrische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gar, Kapitalismus-, samt Kolonialismuskritik schon gar nicht. Alles schnöder Schein. "Sie werden hier nicht erlöst werden." Nur "Erinnerung an all die Leben, die hier einmal existiert haben werden". "Die Erinnerung an genau die Zukunft, die wir nie mehr erreichen werden." The future is gone. Aus, Ende, Finito und keiner spricht vergebend ein erlösendes Amen. "Schafft euch doch endlich selbst ab."
Köck wäre aber nicht Köck, wären da nicht bei aller Finsternis auch aufklärerische Untertöne, moralischer Imperativ und ein letztes Katharsis-Angebot. Von hinten durch die Brust ins Auge zwar, aber immerhin und mit einer kräftigen Prise Sarkasmus. Wir haben nun einmal keine andere Zeit, die uns zur Verfügung steht. Wenn unser Verstand reicht – so der Autor –, uns das Ende einer Toilettenpapierrolle vorzustellen, warum nicht auch das Ende des Kapitalismus? Köck fordert ein neues Zeitverständnis mit voller Haftung für die Zukunft, "eine Ordnung der Zeit, die von der Zukunft her gedacht" und nicht auf wucherndes Wachstum fixiert ist. Auch in Köcks Kosmos stirbt halt die Hoffnung zuletzt.
Und alle Tiere rufen: dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr (UA)
von Thomas Köck
Regie: Marie Bues, Hörspielregie: Anouschka Trocker, Regieassistenz: Luise Heiderhoff, Bühne: Frank Holldack, Dramaturgie: Marlies Kink.
Mit: Astrid Meyerfeldt, Sarah Sophia Mayer, Niko Link, Janus Torp.
Premiere am 28. August 2021
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.kunstfest-weimar.de
"Anfangs plätschert der Abend vor sich hin. Gerade in der ersten Hälfte der Inszenierung entstehen einige Längen. Wenn Mantra-artig wiederholt wird, dass schon alles verloren ist, dass wir den selbstgewählten Kurs in den Untergang nicht mehr ändern können, fragt man sich, wozu dann überhaupt noch ein Stück darüber schreiben", sagt Thilo Sauer auf MDR Kultur (29.8.2021). "Doch dann nimmt die Intensität zu, das ist vor allem der schauspielerischen Leistung zuzuschreiben." So wirke die Inszenierung am Ende "auch nicht mehr wie Arbeitsverweigerung, sondern wie die einzige Möglichkeit das Ende der Menschheit zu bebildern: als ein Möglichkeitsraum in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer", so Sauer. "Die Menschheit hat so viele Arten von der Welt verschwinden lassen, dass die Bühne nur leer bleiben kann."
Von "Köcks sprachmächtig-bitterem Text" berichtet Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (2.9.2021) in ihrem Festivalüberblick zum Kunstfest Weimar. "Uraufgeführt wurde es von Marie Bues als eindrucksvolle, hörfunktaugliche Sprechoper, szenisch aber mit an Bilderverweigerung grenzender Sparsamkeit. Grelle Scheinwerfer, vier Schauspieler mit Kopfhörern, gelegentlicher Schlagzeuglärm. Nach den langen Monaten des Lockdowns hätte man sich vom Theater schon mehr Fülle gewünscht."
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„Und alle Tiere rufen: dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr“ ist ein kleiner Zwischenruf in die hitzigen Debatten um „Extinction Rebellion“, die Mahnungen des Weltklimarats und das Weiter-So der GroKo, gegen das im Frühjahr selbst das Bundesverfassungsgericht Einspruch erhob. Er lebt von den Fantasienamen der Tiere, die sich Köck ausgedacht hat und die in die Anklage ausgestorbener Tiere einstimmen, und vom Spiel mit gewagten Grammatik-Konstruktionen, die sich durch den stark verdichteten Text ziehen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/08/29/und-alle-tiere-rufen-dieser-titel-rettet-die-welt-auch-nicht-mehr-kunstfest-weimar-kritik/