Pig Boy 1986-2358 - Theater Plauen-Zwickau
Schwein-Sein zum Tode
31. März 2022. Gwendoline Soublins satirisches "Replay der Menschwerdung" wurde in Frankreich preisgekrönt und war in Deutschland bereits als Hörspiel erfolgreich. Nun kam die böse Fabel aus dem Reich der Massentierhaltung in der Regie von Charlotte Sofia Garraway zur deutschsprachigen Erstaufführung.
Von Michael Bartsch
31. März 2022. "Du musst ein Schwein sein in dieser Welt", konstatierten 1995 die "Prinzen" nach nur fünf Jahren Kapitalismuserfahrung. "Schwein sein", wohlgemerkt, nicht "Schwein haben". Mit keinem anderen uns nahestehenden Tier verbinden sich solch kollidierende Assoziationen wie mit dem grunzenden und sich suhlenden Fleischlieferanten und Glücksbringer. Seit Anfang März dieses Jahres der erste Patient mit einem genveränderten Schweineherz immerhin erst zwei Monate nach der Transplantation starb, ist eine weitere Dimension hinzugekommen.
Wir behandeln sie wie die Schweine, aber sie bleiben uns seltsam nahe. Auch mit diesem Satz könnte man den Dreiteiler "Pig Boy1986-2358" der 35-jährigen Französin Gwendoline Soublin zusammenfassen. 2017 erhielt sie bei den Autorentheatertagen in Lyon dafür eine Auszeichnung. Unser spezifisches Verhältnis zum Schwein gibt dabei nur ein besonderes Beispiel für die ambivalente Behandlung der Tierwelt insgesamt. Schwanken wir doch zwischen skrupelloser Benutzung, ja Unterdrückung, und Partnerersatz.
Spiel mir das Lied vom Schweine- und vom Firmentod
In der Kleinen Bühne des Theaters Plauen beginnt die Aufführung nicht mit dem sauberen Schweine-Satzgesang der "Prinzen", sondern mit dem legendär-unvermeidlichen Mundharmonika-Solo aus "Spiel mir das Lied vom Tod". Denn das Sein ist nicht erst seit Heidegger, sondern beim Schwein seit jeher ein Sein zum Tode. Viertelsekundenkurze Videoblitze aus dem Schlachthof helfen dieser Erkenntnis nach.
Der Wildwestbezug hat aber auch etwas mit der Hauptfigur des ersten Teils zu tun. Theodor Bouquet heißt er bei der Autorin und will den ererbten Schweinehof nach traditioneller Sitte weiterführen. Sein Vorbild ist John Wayne, und die drei eifrig kommentierenden und illustrierenden Mitspieler tragen Fellhosen und Westernhemden. Sie sind hier nur nicht die traditionellen Cow-Boys, die um die Herden jagen und abends am Feuer singen, sondern die titelgebenden Pig-Boys. Zwischenfazit: Schweine mögen zwar sensibler, ja intelligenter sein, sind aber keinesfalls romantiktauglich.
Solche Romantik kommt auch nicht ansatzweise auf. Der Einzelkämpfer Bouquet verliert erwartungsgemäß gegen den Großen Fresskonzern PERTA und seine Massentierhaltung. Beginnend 1986, folgt der gar nicht fiktive Verfall der Fleischpreise 2014, bis 2026 schließlich der Gerichtsvollzieher kommt. Bouquet ringt um den Sinn seiner Arbeit, um ethische Ansätze. "Du weißt nicht mehr, wer du bist!"
Irgendwie stecken alle vier vehement und leidenschaftlich agierenden Schauspieler in einem noch viel größeren Käfig als in dem zentralen des arenaartig kahl belassenen Raumes. Unter ihm bilden "Tortenstücke" ein variierbares Podium, mit Blumenornamenten und ländlichen Idyllen bemalt. Die Machart des ersten Teiles hat auch etwas mit American Style zu tun. Atemlos getrieben ist der Schweinebauer, atemlos dreschen die drei Kommentatoren auf die Szene ein, ständig werden Publikum und Akteure mit Eins-Zwei-Alternativen konfrontiert. Eins: Du bist ein Schwein, Zwei: Du bist ein Mensch. Und so weiter.
Todesurteil gegen das allzumenschliche Vieh
Dieses mediale Dauerbombardement steigert sich im zweiten Teil ins kaum noch Verdauliche. Im Jahr 2056 wird ein spektakulärer Prozess vom Kanal "Translive" medial vermarktet. Das Schwein Pig Boy, gezüchteter Nachkomme aus der archaischen Zeit jenes Bouquet, ist ein Medienstar, aber wird in einem Hotel beim Sex mit einer zweifelsfrei menschlichen Dame erwischt. In einer künftigen Zeit, in der sich Tierisches und Menschliches offenbar vermischen, löst der Fall eine heftige Kontroverse aus. Für den Zuschauer plausibler erfassbar über eingeblendete Social-Media-Chats als in der Kontroverse der Spieler.
Es geht um die Verteidigung humaner Überlegenheit gegen solch abscheuliche Sodomie, gegen Schweine, "die auf den Teller gehören". Aber es geht auch um eine Gleichberechtigung der Tiere.
Die Verhandlung wird von "Translive" über Video als Show inszeniert, lächerliche Publikumsabstimmungen, ein Dauerbombardement an Pseudofakten und Meinungen. Extrem kurze Schnitte und Lichtwechsel. Bei diesem Tempo fühlt sich das junge Team der Inszenierung wie schon im ersten Teil offenbar wohl. Kaum eine Chance, der Wirkung des pausenlos verschossenen Schrots nachzugehen. Erst eine Ansprache des Konzernchefs, ein intensives Solo, bringt Nachdenklichkeit. Eine Art Selbstverpflichtung zum reinen Menschenwohl, zum "absoluten Menschen", so genetisch verwandt uns die Schweine auch sein mögen. Denn lieben können sie angeblich nicht. Es wirkt wie ein Kommentar zum Urteil gegen Pig Boy, der gehängt und verbrannt wird.
Als biologischer Ersatzteillieferant akzeptiert
Drei Jahrhunderte später warten vier trächtige Sauen im zentralen Käfig auf ihren Wurf. Sie sind offenbar gezüchtet worden, um als Hybride menschliche Organ-Ersatzteile zu liefern. Nur scheinbar haben sich Mensch und Zuchttier versöhnt. Ein Ausbruch aus dem Schweineleben, ja, aber ihren "Kindern" dürfen sie auch als Auserwählte nicht nahe sein. Also Flucht. Die Stimmung zum Finale ist eine völlig andere, stille, kontemplative, anrührende nach dem oberflächlichen medialen Dauerfeuer. Wie ein Apotheose im lila Licht wirkt die letzte Szene vor dem Abgang. Werden wir erst in drei Jahrhunderten mehr Empathie für die Kreatur entwickeln?
Pig Boy 1986-2358
von Gwendoline Soublin
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Charlotte Sofia Garraway, Bühne, Kostüme: Mayan Tuulia Frank, Video: Valentin Seuß, Dramaturgie: Isabel Stahl.
Mit: Else Hennig, Daniel Koch, Friedrich Steinlein, Andreas Torwesten.
Premiere am 30. März 2022.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theater-plauen-zwickau.de
Kritikenrundschau
Eine "beeindruckend stimmige Theaterarbeit" hat Maurice Querner für die Freie Presse (6.4.22) gesehen, sowohl hinsichtlich des Textes als auch der Inszenierung. "Pig Boy" sei "in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswert irritierendes Stück, das provozieren will", erkärt der Kritiker. Es stelle "kluge Fragen zu unserem Umgang mit dem Tier, Social Media und der Demokratie" – und zwar "kein bisschen didaktisch, sondern eher satirisch überhöht, komisch, schwarzhumorig, grell, aber auch beklemmend". Die junge Regisseurin Charlotte Sofia Garraway habe "Pig Boy" als "sehr intensives, dichtes, aber auch stark forderndes Stück inszeniert, das lohnt, sich auch ein zweites Mal anzusehen".
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