Sie rühren die Luft um

31. Mai 2022. Einen Sturm können sie beenden: Theatermacher und Musiker Damien Rebgetz zeigt bei den Wiener Festwochen eine Lecture über Glocken – ihren Klang, ihre Sprache, ihre Rolle in der Gemeinschaft. Vieles ist hier in Ironie gehüllt, aber da ist auch heiliger Ernst.

Von Gabi Hift

“We Had A Lot of Bells” von Damian Rebgetz bei den Wiener Festwochen © Matthias Heschl

31. Mai 2022. "Es gibt ja viel Nostalgie für den Sound von Glocken, aber ich bin nicht nostalgisch bei Glocken", sagt Damien Rebgetz gleich zu Beginn mit seinem charmanten australischen Akzent. "Wenn ich akustisch nostalgisch werde, dann beim Geräusch von Deckenventilatoren." So distanziert er sich von vornherein von Sentimentalität oder gar Ehrfurcht. Aber wenn man ein Interview mit ihm zu dieser Inszenierung liest, denkt man: Das stimmt doch nicht so ganz. Rebgetz ist ein in der Szene seit vielen Jahren präsenter Performer, Theatermacher und Musiker, zuletzt war er von 2015 bis 2020 an den Münchner Kammerspielen. Und nun hat er sich in seinem eigenen Stück dem Phänomen der Glocke, ihrem einzigartigen Klang und ihrer Rolle in der Gemeinschaft gewidmet.

Die Glöcknerenni berichten

Als Vorlage diente ihm das Buch des Historikers Alain Corbin: "Die Sprache der Glocken", aus dem große Passagen präsentiert werden, in einer Mischung aus Lecture und absichtlich naivem Spiel. Nach einem Vorspiel, bei dem die neun auf der Bühne hängenden Glocken verschiedener Größe nur wenig Zeit bekommen, ihren Klang zu entfalten, verkleiden sich Damien Rebgetz und die beiden Ensemblemitglieder vom Schauspielhaus, Sophia Löffler und Til Schindler, in Glöcknerenni. (Die Übersetzerin, Dichterin Ann Cotten, benutzt eine von ihr erfundene, lustige Form des Genderns, sie nennt es "Polnisches Gendern", angelehnt an den Ausdruck "Polnischer Abgang". Dabei kommen die für alle Geschlechter nötigen Buchstaben in beliebiger Reihenfolge ans Wortende.)

Und diese Glöcknerenni erzählen nun in einer Litanei von den Sitten und Gebräuchen Glocken betreffend in ihrem Dorf im 18. Jahrhundert – noch ist die Französische Revolution nicht ausgebrochen. Das Dorf ist ein begraster Papphügel auf einem Podest, von dem aus drei Musikerenni, Cello, Klarinette und Keyboard, den Singsang musikalisch begleiten (Komposition: Robert Schwarz). Man erfährt allerlei über die Sprache der Glocke. Zum Beispiel, wie bei verschiedenen Anlässen geläutet wurde: bei der Geburt eines ehelichen Jungen, bei der eines ehelichen Mädchens (kürzer, höher), wenn eine gestorben ist, bei Hochzeiten, beim Angelusläuten, bei Gefahr. Nur bei Selbstmördern und bei unehelichen Geburten blieben die Glocken stumm. Und man lernt, wodurch über Stunden anhaltendes Glockenläuten einen Sturm beenden kann: Das Läuten rührt die Luft um.

WeHadALotOfBell2 c MatthiasHeschl uMusikerenni und die Sprache der Glocken © Matthias Heschl

Dann, nach der Revolution, sollen die Glocken auf einmal per Dekret abgeschafft werden – nur eine pro Kirche bleibt erlaubt. Der Rest soll verschwinden, zum Zeichen der Befreiung von der Autorität der Kirche. Aber die Dorfbewohner wehren sich stur, Adel und Revolution sind ihnen gleichermaßen egal, ihre Glocken bedeuten ihnen alles. Sie verstecken sie vor den Söldnern, die sie zu Kanonen einschmelzen wollen. Natürlich muss man an die schräge Spiegelung denken: Schwerter zu Pflugscharen versus Glocken zu Kanonen.

Unaufgeregt geht es zu

Diese Liebe zu einer inneren Ordnung in einer Dorfgemeinschaft, hergestellt durch den magischen Klang der Glocken, die, konservativ und archaisch, sich sowohl Fortschritt und Befreiung widersetzt als auch den Mächtigen Widerstand leistet – das wäre ein wirklich faszinierendes Thema. Aber allzu viel Begeisterung soll auf keinen Fall aufkommen, die scheut diese Form des Theaters wie der Teufel das Weihwasser (Glocken scheut der Teufel übrigens auch, lernen wir). Hier soll es vor allem unaufgeregt zugehen, freundlich und mild ironisch, niemand soll zu irgendwas mit- oder hingerissen werden. Was einmal eine Protesthaltung gegen ein aus allen Poren Pathos schwitzendes, altes Theater war – bloß keine übertriebenen Gefühle, lieber milde, entspannte Ironie – wirkt nun, 30 Jahre nach Beginn des Postdramatischen Theaters, ein bisschen verstaubt und ratlos.

"Warum sollen nur Glocken ernst sein? Ich will auch ernst sein", sagt Rebgetz irgendwann. Und in seinem Interview spürt man, wie fasziniert er von Glocken ist und davon, was ihr Klang hervorruft. Aber auf der Bühne herrscht Ironie und absichtliche Unterspannung, Ernstsein ist tabu, und so dürfen es die Glocken dann auch nicht sein. 

WeHadALotOfBell3 c MatthiasHeschl uSchwebende Songs für die Gemeinschaft © Matthias Heschl

Das langweilt irgendwann, aber es wird dabei nie ärgerlich, bleibt immer liebenswert und sympathisch. Auch von denen, die in steigender Zahl nach Hause gehen, geht keine:r Türe knallend, sie schauen freundlich und sind halt müde.

An die Pummerin kommt's nicht heran

Im dritten Teil ist die Revolution vorbei, die Glocken sind abgehängt, auf dem Podest steht jetzt ein bürgerliches Wohnzimmer mit Klavier und es kommen noch weitere Musikerenni dazu, die Band "Session in her room". Raihana Saeed singt wunderschöne, schwebende Songs, man sinkt immer tiefer in den Sessel und wünscht sich es gäbe Matratzen und was zu trinken. "Together we can swim in the river floating inside of us", singt sie, und die Vibes machen aus den Verbliebenen eine Gemeinschaft im Klang wie es auch eine Glocke täte. Aber an den Klang der Wiener Pummerin kommt das nicht heran, an der hängen viele Wienerenni genauso wie damals die Dorfbewohner in Frankreich im 18. Jahrhundert an ihren Kirchenglocken. Und über sie und ihren Klang hätten sicher viele an dem Abend gern etwas gehört.

 

We had a lot of bells
Von Damian Rebgetz
Deutsche Übersetzung von Ann Cotten
Regie, Text: Damian Rebgetz, Bühne: rk, Kostüm: Veronika Schneider, Musik: Damian Rebgetz, Robert Schwarz, Session in her room, Musiker:innen: Maiken Beer und Viola Falb (Studio Dan), Benjamin Saeed, Raihana Saeed und Ramy El Borollossy (Session in her room), Sachiko Hara, Dramaturgie: Lucie Ortmann, Licht: Oliver Mathias Kratochwill, Joseph Birkfellner.
Mit: Maiken Beer (Studio Dan), Ramy El Borollossy, Viola Falb (Studio Dan), Sachiko Hara, Sophia Löffler, Damian Rebgetz, Benjamin Saeed, Raihana Saeed, Til Schindler.
Koproduktion Wiener Festwochen, Schauspielhaus Wien
Uraufführung am 30. Mai 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.festwochen.at
www.schauspielhaus.at

 

Kritikenrundschau

Martin Thomas Pesl gesteht auf Deutschlandfunk Kultur (30.5.2022), der Abend habe ihn an die Grenzen seiner Neugier geführt. "Damian Rebgetz’ rührende Begeisterung für Glocken hat mich zwar zum Schmunzeln gebracht, aber mitgerissen hat sie mich nicht." Es sei Rebgetz nicht gelungen, eine Essenz für seine Performance zu finden, die anhand der Glocken noch auf etwas Allgemeineres verweisen könnte.  

Nach einem launigen Beginn kippe "das Gespräch über die historische Bedeutung von Glocken zunehmend in einen sinnentleerten Sprechchor", so Petra Paterno in der Wiener Zeitung (online 31.5.2022). Gegen Ende werde fast nur noch musiziert. "Der Theaterabend zerfranst, verliert an Kontur und Inhalt, wird etwas langatmig."

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