Typen, wie wir sie kennen

von Robert Schröpfer 

Leipzig, 6. Juni 2007. Haus im Grünen statt Büro, Kinderwunsch statt Karrieredruck: "Geistig liegst du bereits im Bett" fährt Tom seinen Cousin Marcel an, der "vor der Lebensmitte rechtzeitig" den Job gekündigt hat, um mit Ehefrau Janine für Nachwuchs zu sorgen, und der die Verwandtschaft an diesem Wochenende im Dezember (19 Grad plus!) eigentlich nur zum Grillen geladen hatte.

Doch nicht nur, dass der kinderreiche Tom, der unentwegt vom Konkurrenzkampf mit "China" schwadroniert, obwohl er selbst längst arbeitslos ist, das Idyll durch Hausbau auf dem Nachbargrundstück stören will. Als Marcel seine Frau Janine und Tom nach küssender Umklammerung im Geräteschuppen verschwinden sieht und ihn die Brut des Vetters mit kunstblutbetankten Wasser-Pumpguns attackiert, stürzt Marcel in einen Angsttraum, in dem Tom mit Janine fünf Kinder und das Haus besitzt – und er selbst nur noch als "Sven", der tote Nachbar, geduldet wird.

Alptraum als Endlosschleife

Paranoia, Identitätsverlust und Selbstentfremdung sind die Themen in Lukas Holligers "Explodierenden Pottwalen", mit dem das Schauspiel Leipzig auf die Generation der Mitte 30-jährigen zielt. Denn das Stück des Schweizer Autors – zwischen Boulevard, Groteske und Traumspiel angesiedelt – lässt nicht bloß den Lebensentwurf seines Protagonisten wie den gestrandeten Pottwal der Titel gebenden Metapher platzen. Indem er Marcel im Epilog mit Haus, Frau und fünf Kindern die Eingangsszene wiederholen lässt und dessen Alp so in die Endlosschleife führt, hebt Holliger den Fall ins Allgemeine: Gibt es einen Ausweg zwischen beruflichem und familiären Leistungsdruck? Könnte Tom nicht ebenso in Marcels Lage stecken?

Die Herausforderung für die Uraufführungsinszenierung: die tatsächliche Spielbarkeit der vertrackt-verstiegenen Vorlage beweisen, die beim Heidelberger Stückemarkt und den Autorentheatertagen des Hamburger Thalia Theaters mit viel Vorschusslorbeeren ausgestattet wurde. Regisseur Wulf Twiehaus und das Ensemble schaffen dies zunächst recht unterhaltsam, wenn sie auf der großen Bühne hinterm Eisernen, die die Fassaden von Schuppen und Wohnhaus unter der Schwärze des Schnürbodens andeutet (Volker Thiele), das Farcenhafte der Szenen forcieren und den Abend im zweiten Teil dann gedimmt ins Surreale driften lassen

Als Chinesen maskierte Kinder besetzen das Haus

Es ist nicht ohne Komik, wenn Tom Janine Avancen macht und sie über ihn herfällt, wenn sie den Entblößten eiskalt auflaufen lässt und dessen Frau Nicole und Marcel die Szene missverstehen, wenn Nicole im Traum Marcel Avancen macht und die Kinder maskiert als Chinesen das Haus besetzen. Doch spätestens, als das Quartett Wirtschaftspreise verleiht und rote Teppiche für einen Ministerinnenempfang ausrollt, verlieren Stück wie Inszenierung zwingende Notwendigkeit, entsteht bloße Reihung, als gelte es, die Vielzahl der Motive aus dem ersten Teil der Vollständigkeit halber komplett zu spiegeln.

Gespielt werden dabei Typen, wie wir sie kennen sollen: Michael Schrodt legt seinen Marcel zwischen Grimassen der Emphase und des Slapsticks eines Tölpels an. Hinter Toms Machoposen und Sprücheklopfen gibt Andreas Keller das arme Würstchen zu erkennen, wenn er nackt mit einem Spaten vor der Blöße auf der Szene steht. Und Jana Bauke als Nicole muss die Gärungsmetaphorik hier ganz buchstäblich bedienen: mit einer Bauchattrappe und dem Heißhunger der ewig Schwangeren rülpsend Kartoffelsalat in sich stopfen. Rollengerecht darf paradoxerweise allein Julia Berkes Janine in diesem kryptischen Stück so etwas wie ein Resträtsel behalten: ob sie ihren Mann aus Überdruss tatsächlich morden könnte oder sie das nur in seinen Gespinsten ausspricht. Aber das wäre vermutlich eine ganz andere Geschichte.

Explodierende Pottwale
von Lukas Holliger
Regie: Wulf Twiehaus, Bühne: Volker Thiele, Kostüme: Silvia Arabella.
Mit: Michael Schrodt, Julia Berke, Andreas Keller, Jana Bauke.

www.schauspiel-leipzig.de

Kritikenrundschau

Die Leipziger Volkszeitung (8.6.2007) feiert einen "Abend, der Reibung erzeugt". Hendrik Pupat hebt dabei vor allem auf die Motivlage "zwischen Ameisen- und Tigerstaaten" ab und fragt: "Geht es um Umweltschutz und Klimakatastrophe, um die Tragik des Jobverlusts und neoliberale Perversionen? Geht es um die Weltordnung der Zukunft, nach dem Motto: Im Osten geht die Sonne auf, in Alteuropa geht sie unter? Das alles bleibt etwas vage." Holliger habe jedoch ein raffiniert gebautes Stück geschrieben, bei dem spätestens in der zweiten Hälfte klar werde, dass es sich nicht um eine Komödie handle. "Der Basler Autor spielt mit klassischer Tragödienstruktur, bezieht sich auf Ovids Metamorphose ebenso wie auf Kafkas Angstwelten und formuliert dabei noch wunderbare Sentenzen. Wulf Twiehaus hat den Text rasant auf die Bühne gebracht. Und die Schauspieler? Sind wieder durchweg klasse!" Wenn das keine Lobeshymne ist.


Ganz anders dagegen Anna Postels in der Sächsischen Zeitung (8.6.). Sie konnte in dem Abend kaum mehr als "ein einziges verwirrendes Rätsel" erkennen. "In der Tat", schreibt sie, "geht es um ziemlich viel: das persönliche Glück, die Bedeutung von Arbeit, Klimawandel und die Bedrohung durch billige Arbeitskräfte in China, die Oberflächlichkeit und die Verlogenheit der Welt." Doch Holliger verpacke die Themen "in einer Komödie, in der sie zwischen den Alltagsproblemen beiläufig angesprochen werden." Durch die Spielweise "in der Art einer amerikanischen Sitcom" prassele "alles ungebremst auf das Publikum ein". "Was das alles soll? Weder Stück noch Inszenierung vermögen das zu klären." Und das nennen wir einen Verriss.

Hartmut Krug hielt zwar (auf Deutschlandradio vom 6.6.) dem vor "literarischem Ehrgeiz schrecklich gärenden" Stück von Lukas Holliger "Metaphernseligkeit" vor, sah aber dennoch eine "unterhaltsame Inszenierung", der es gelungen sei, den "verstiegenen" und "enorm konstruierten" Text über "lange Strecken wunderbar zu erden". Allerdings fand er den Abend insgesamt eher unübersichtlich: Die "surrealen Überdrehungen mit ständigen Rollenwechseln der Figuren sind allzu raffiniert ausgedacht". Sie vermögen zwar, "den Zuschauer kräftig zu verwirren." Allerdings würden "die in immer neuen Schleifen sich albtraumhaft verwirrenden Szenen (...) durch eine teils überdeutliche Schauspielerei nicht klarer".

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