Hedda Gabler - Tilmann Köhler gibt den gelangweilten Norwegern in Dresden moderne Technik in die Hand
Hedda, die Egoshooterin
von Matthias Schmidt
Dresden, 12. Januar 2012. Ihre Smartphones noch in der Hand, treten die Spieler aus dem Publikum auf die Bühne. Die Bühnenrückwand ist ein Spiegel. Das sind also Leute wie wir: die Hedda Tesman, geborene Gabler, und ihr Ehemann, der Jörgen. Die Thea und ihr Geliebter, der Autor Eilert Lövborg. Sie sind gekleidet wie wir und können auch auf der Bühne die Finger nicht von ihren iPhones lassen. Wie wir. Die Egoistin Hedda spielt, auf einem Flügel fläzend, ein Egoshooter-Spiel, ballert weg, was sich ihr in den Weg stellt und teilt ihrem Mann kühl mit, dass sie auf ein Pferd und ihre Pilates-Stunden auch dann nicht verzichten werde, wenn er die erhoffte Professorenstelle nicht bekommt. Immer mal wieder nervt die Tante Julle mit ihrem fürsorglichen Stolz auf das Erreichte. Wir sehen Glück, das keins ist und wackeligen Wohlstand, der zudem langweilt. Kennt man ja alles, wenn nicht aus dem eigenen Leben, dann vielleicht aus den Büchern von Sybille Berg.
Eindeutigkeiten, die langweilen
Tilmann Köhlers Inszenierung von Thomas Freyers aktualisierter Fassung der "Hedda Gabler" überrascht zunächst dadurch, dass sie ungewohnt plakativ und eindeutig beginnt. Was schnell verstanden ist und dafür sorgt, dass die folgenden rund 70 Minuten zunächst wenig Erkenntnisgewinn bringen. Die Konfliktanbahnung wirkt wie ein Standbild im Fernsehen. Hedda scheint auf ihrem Flügel zu wohnen. Sie langweilt sich mit ihrem mediokren Mann, und indem sie darüber spricht, bleibt einem fast nichts weiter übrig, als auf die Uhr zu schauen.

Zwei lange Akte lang plätschert die Handlung so dahin. Ina Piontek als Hedda und Christian Friedel als Jörgen sorgen mit dezenter Komik für phasenweise Aufhellungen. Antje Trautmann als Thea Elvsted und Christian Erdmann als Eilert Lövberg gesellen sich dazu, werden aber, wie die gesamte Inszenierung, erst gegen Ende ihre stärksten Szenen haben. Holger Hübner als Richter Brack begeistert mit einem nicht enden wollenden Lachanfall, aber das Spiel um Neid und Hass und Sehnsucht und Lust verläuft allenfalls mäßig spannend.
Die Psychologie der Figuren, sie geht nahezu unter. Dass auf der Spiegelwand zusätzlich zum Egoballern und Fotos aus der Dritten Welt nun auch berühmte Zitate zum Thema Krieg zu lesen sind, jedenfalls für die, die sehr schnell lesen können, und immer mal wieder ein Song eingespielt wird, der "Wir sind frei" heißt – nun ja, auch das enthält als zynischer Kommentar zur Mittelstandslangeweile der Protagonisten keine wirklich neue Botschaft.
Das Drama beginnt im 3.Akt
Die Haltungen der Personen zueinander bleiben bis zum Akt drei relativ schwammig: warum Eilert Lövborg wieder zu trinken begann und deshalb in der Zechnacht sein Buchmanuskript verliert, warum sein Konkurrent Jörgen Tesman es seiner Frau Hedda übergibt, ob die Gesellschaft ursächlich für das Unglück der Menschen ist oder die Menschen für deren Zustand – man könnte fragen: Was war zuerst da, das Ei oder das Phone? – hier bleibt der Abend hinter Ibsens Text zurück.
Sei's drum, die Handlung nimmt Fahrt auf, und vor allem Christian Erdmann als verzweifelter Lövborg sorgt nun dafür, dass Emotionen und Motivationen definierbarer werden. Endlich ist das Spiel ein existentielles, und der Stillstand wird zum Drama. Die Bühne wird variabler eingesetzt, es wird vor und hinter dem nun transparenten Spiegel gespielt, wodurch beeindruckende Bilder entstehen.
Kleinlicher Generaleinwand
Ein Risiko bleibt, wenn man das Stück ins Heute verlegt. Es mag kleinlich wirken, aber: Das gesamte Finale basiert darauf, dass Lövborgs verlorenes Manuskript ein Unikat war – 19. Jahrhundert eben. Indem er es verliert, habe er sein Kind verloren, sagt er. Hedda verbrennt es schließlich, und damit nimmt bei Ibsen die wahre Tragödie ihren Lauf. Nachdem die Inszenierung aber so stark darauf setzt, dass alle permanent mit ihren iPhones fuchteln und piepen und fotografieren und chatten, wir also mitten im Copyandpaste-Zeitalter sind, fällt es sehr schwer, an einen solchen prä-digitalen Verlust zu glauben. Hier bekommen Naturalismus und Symbolismus ein Problem miteinander. Wer sich zu Beginn darauf eingelassen hat, dass dies zumindest rein äußerlich ein Abend "über uns" sei, der brauchte nun ein ordentliches Maß an Vertrauen in die theatrale Illusion, um dem Geschehen weiterhin zu folgen.
Das Premierenpublikum hatte dieses Vertrauen. Nachdem ein spätsilvesterlicher Feuerregen aus dem Bühnenhimmel die zwei Stunden beendete, applaudierte es kräftig.
Hedda Gabler
von Henrik Ibsen
In einer Neufassung von Thomas Freyer
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüm: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Licht: Andreas Barkleit, Dramaturgie: Beret Evensen.
Mit: Christian Friedel, Ina Piontek, Helga Werner, Antje Trautmann, Holger Hübner, Christian Erdmann, Christine-Marie Günther.
www.staatsschauspiel-dresden.de
Wenig begeistert zeigt sich Tomas Petzold in den Dresdner Neusten Nachrichten (14.1.2012) von dieser Inszenierung, die "voll von widersprüchlicher Symbolik und Metaphern" stecke. Die Inszenierung präsentiere "Neurotiker"; die "Wirkung direkter gesellschaftlicher Zwänge" auf die Figuren sei zurückgenommen. "Die gespaltene Persönlichkeit lebt im Widerspruch zwischen höchstem Streben und dem immer stärkeren inneren Zwang, alles aufzugeben, wegzuwerfen, zu zerstören." Diese innere, neurotische Anspannung zeigten die Figuren in unterschiedlichen Schattierungen, allen voran Hedda Gabler, die per Videogame und Joystick über ihren "Spieltrieb" definiert sei.
Köhler habe mit diesem Ibsen ein "Drama der Vereinzelung" für die "Generation I-Phone" entworfen, schreibt Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (14.1.2012). Doch leider sei es "so wie schon in mehreren Köhler-Inszenierungen, dass der Regisseur sich einen Anker in dem Drama sucht, für diesen treffende Bilder findet, sich darüber hinaus aber nicht tiefer auseinandersetzt." So folge aus der reizvollen Anlage lange Zeit "Lethargie", und das Geschehen bis zur energetischeren zweiten Hälfte sei "zäh".
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