Open For Everything - Constanza Macras eröffnet die Wiener Festwochen 2012 mit ihrer Compagnie Dorky Park und tanzenden Roma
Feuer im Teich
von Martin Pesl
Wien, 10. Mai 2012. Mind-Map: "Die Roma". Und los! Da schießt einem gleich allerlei in den Kopf, und das Anfangsbild in Constanza Macras' neuer Großproduktion "Open For Everything" fasst vieles davon zusammen: Ein Auto fährt ein, eine alte Rostschüssel, hübsch folkloristisch dekoriert, darin so viele Roma wie sich hineinpressen können. Sie sind ständig unterwegs, aber arm, sie sind Familienmenschen, es gibt unzählige von ihnen, und der herkömmliche Gadscho-Ignorant, also der Nicht-Roma, tut sich schwer, sie auseinanderzuhalten. Klischees! In Wirklichkeit sind die Roma "wie andere Europäer auch, nur mit einem besseren Rhythmusgefühl", sagt Constanza Macras im Programmheft, und da sie Choreografin ist, beweist sie es uns in erster Linie anhand von Tanz und Musik.
Rhythmus und Ekstase
Nachdem die Wiener Festwochen ihre Zuschauer mit der Eröffnungsproduktion im Vorjahr, Christoph Marthalers Grönland-Elegie +-0, mit Mut zur Sperrigkeit begrüßten – und so nicht wenige davon auch prompt wieder verloren –, gönnen sie sich diesmal zum Einstieg ein Bisserl fürs Herz. Niemand kommt auf die Idee, aufzustehen während dieser hundert Minuten, und wenn, dann nur, weil die Schenkel zucken und einen die furios in Ekstase trommelnde Musik aus den Sitzen katapultiert.
Unterstützt von einer energiegeladenen fünfköpfigen Live-Band ertanzen ein gutes Dutzend Roma und sechs Mitglieder der Macras'schen Tanzcompagnie Dorky Park zum Beispiel, wie ein Mann einem Zwölfjährigen sein Taschengeld raubt – der Junge ist Laie, der Räuber Profitänzer. Die Rauferei im Roma-Ghetto ist das reinste Ballett, und bei so viel Rhythmus rundherum wird selbst die beiläufige Schultermassage an einem Zeitung lesenden älteren Herren zur Choreografie. Neben der erwarteten Roma-Folklore darf es auch mal beherzter Discotanz zu Popstar Adele sein – damit wir ja nicht dem Klischee erliegen, die würden nix anderes kennen.
Manchmal ist der Themenbezug dieses optischen und akustischen Feuerwerks offenkundig, etwa wenn Hyoung-Min Kim ihre Seelenverwandtschaft mit den unablässig wandernden Roma durch ein Tänzchen mit einem offenen und nur halb gepackten Koffer zum Ausdruck zu bringen versucht. Hauptsächlich ist da aber einfach zeitgenössischer Tanz, und der ist verspielt, sauber choreografiert, mit einer bemerkenswert geringen Schere zwischen Profis und Laien, schön anzusehen und mit eingebauter Szenenapplausautomatik.
Politische Brisanz verpufft
So weit, so wow. Für den Faktor Inhalt sorgt eine zwischengeschaltene zweite Ebene: klassischstes Dokutheater im Stile von Rimini Protokoll. Da hören wir von zwei Frauen, wie ihre Männer Drogen nahmen und sie mit Kindern sitzen ließen, und Fatima berichtet, dass sie zum Zeitpunkt des Castings noch Rajmund hieß. Norbi, 14, behauptet, er sei ein gewisser Adam und 19 und gebe Hiphop-Unterricht, sein toter Großvater habe ihn ermuntert, bei diesem Projekt mitzumachen. So rührend das ist, es kratzt immer wieder doch am "Mitleidstheater", das die Choreografin ablehnt.
Schade auch, dass Macras die politische Brisanz, die ihrem Thema per se innewohnt, verpuffen lässt: In einigen Einzelerzählungen klingt zwar an, dass es bei der derzeit herrschenden Stimmung in Ungarn geradezu zum guten Ton gehört, über die "cigányok" zu fluchen und sie zu diskriminieren. Die immer wieder verübten Anschläge gegen ihre Siedlungen und deren Folgen werden aber übersprungen.
Getanzte Mind-Map
Platz findet dafür ein Rückblick in die Geschichte, wenn Leni Riefenstahl und ihr Film "Tiefland" erwähnt werden, für den in den 1940ern Hunderte Roma aus einem Zigeunerlager als Statisten zwangsrekrutiert wurden. Grundsätzlich scheint Constanza Macras also offen für alles zu sein, was irgendwie mit ihrem Thema zusammenhängt. Die einzelnen Inhalte verbleiben jedoch im Stadium der Mind-Map. Es ist weniger ein Abend über als vielmehr einer mit Roma, ein bisschen so wie "+-0" nicht eigentlich ein Stück über Grönland war.
Hier nehmen mehr Menschen an einem Macras-Projekt teil als je zuvor, viel wurde recherchiert, viel Virtuoses komponiert: Man sieht "Open For Everything" an, dass es gerne ein Opus magnum wäre. Dazu ist es jedoch zu freundlich in seiner Selbstironie, zu lieblich in seiner rührigen Offenheit für alles. Dieses Feuer, das eine tschechische Romni nach der Schilderung des chaotischen Begräbnisses ihres Vaters in einem Teich entzündet und das dann am Ende in gebannter Erwartung des tosenden Schlussapplauses noch eine Minute flackern darf – für solche Gesten ist dieses Werk nicht groß genug.
Open For Everything
von Constanza Macras
Inszenierung und Choreografie: Constanza Macras, Dramaturgie: Carmen Mehnert, Bühnenbild: Tal Shacham,
Kostüme: Gilvan Coêlho de Oliveira, Fotos: Manuel Osterholt,
Licht: Sergio de Carvalho Pessanha,
Ton: Mattef Kuhlmey, Stephan Wöhrmann,
Bildtechnik: Tobias Götz,
Musikalische Beratung: Kristina Lösche-Löwensen,
Folklortanz: Monika Balgová, Vladimír Balog
Von und mit: Emil Bordás (HU), Hilde Elbers (NL), Anouk Froidevaux (CA), Fatima Hegedűs (HU), Ádám Horváth (HU), László Horváth (HU), Hyoung-Min Kim (ROK), Denis Kuhnert (D), Viktória Lakatos (HU), Zoltán Lakatos (HU), Iveta Millerová (CZ), Elik Niv (ISR), János Norbert Orsós (HU), Monika Peterová (CZ), Rebeka Rédai (HU), Marketa Richterová (CZ), Ivan Rostás (HU), Magdolna Rostás (HU), Viktor Rostás (HU)
Musiker: Marek Balog (SK), Milan Demeter (CZ), Milan Kroka (CZ), Jan Surmaj (CZ), Petr Surmaj (CZ)
www.festwochen.at
www.dorkypark.org
Mehr zu den Arbeiten von Constanza Macras finden Sie im Lexikon.
Nur auf den ersten Blick biete Macras' Abend "Futter" für "ein aufgeklärtes Publikum, das sagen kann: Ja, so denken wir auch", schreibt Helmut Ploebst im Standard (12./13.5.2012). Tatsächlich "weigert sich" die Choreografin, "Ambivalenzen zugunsten der linearen Botschaft auszuklammern". Ihre Darsteller seien "echte Charaktere", in einem "elaborierten Setting" und einer "berührenden Show". Eine "Musik, die ihr folkloristisches Klischee zersägt und so Identität zeigt", sei hier zu erleben, "ebenso wie ein Tanz, in dem sich Zeitgenössisches mit Tradiertem mischt". Fazit: "So gut kann politische Kunst rüberkommen."
Missgestimmter berichtet Sophia Felbermair im ORF (11.5.2012): "Getanzt wird zu folkloristischer Roma-Musik, abwechselnd melancholisch und lebendig, aber auch Flamenco, Bollywood-Rhythmen und westliche Popmusik werden herbeizitiert, um die Geschichten von Verfolgung, wechselseitigen Missverständnissen und sozialer Ausgrenzung erzählen zu können." Auch die Ausstattung "wühlt tief in der Klischeekiste". Zwar entstünden an diesem Abend "berührende Tanzszenen", aber dazwischen "gelingt es Macras nicht immer, das von ihr eigentlich abgelehnte 'Mitleidstheater' gänzlich zu umschiffen".
Die "kurzweiligsten 100 Minuten Tanztheater" hat Verena Franke von der Wiener Zeitung (12.5.2012) erlebt: "Schrill, bunt und laut wird gesungen, getanzt und gezankt – sitzen bleiben fällt oft schwer". Die "Einzelschicksale" der Roma würden "pathoslos" erzählt. Macras gelinge es, "die feine Grenze zwischen berührt sein, aber dennoch nicht in Mitleid zu verfallen, abzutasten und niemals zu überschreiten. Das Ergebnis ihrer zweijährigen Recherche ist ein Abend voller Lebensfreude und Musik, eine Roma-Revue, die dennoch selbstironisch in starken Bildern von Armut und Chancenlosigkeit berichtet."
Stephan Hilpold in der Frankfurter Rundschau (14.5.2012, im Artikel über Wien nach unten scrollen) schreibt, Macras wisse die Freiheit, die ihre Darsteller ihr gegeben hätten – "open for everything" - nicht wirklich zu nutzen. Dem ersten Bild, eine "Schrottlaube von Auto", in die sich so viele Roma als möglich hineinpressen, einem Klischee, versuche sie zwar immer wieder "realitätsnähere Aspekte der Lebenswirklichkeit" der Sinti und Roma entgegen zu setzen, am Ende jedoch werde das Klischee eher bestätigt als konterkariert. Der Abend sei zwar tänzerisch eingängig, vermische munter "Traditionelles wie Zeitgenössisches", bleibe am Ende jedoch "ziemlich schwachbrüstig" und "unklar".
In Deutschlandradio Kultur zieht Elisabeth Nehring in der Sendung Fazit (18.5.2012) zur Berliner Premiere nach: "Macras' Prämisse ist die Augenhöhe - keine Opferkunst, keine Romantisierung, sondern die Gleichwertigkeit aller Darsteller auf der Bühne möchte sie, und das gelingt ihr." So entstehe ein disparates aber dennoch nicht folkloristisches Bild des Lebens, wobei die Grenze zum Schmerzhaften gescheut werde. So entstünden zwar keine neuen Einsichten ins Thema, aber die Inszenierung mache Spaß.
In der taz (24.5.2012) schreibt Katrin Bettina Müller, dass es an diesem Abend um das Ummünzen von Bildern gehe. "Oft übernehmen die Performer von Dorky Park, dem Ensemble von Constanza Macras, die Rolle der mit rassistischen und romantischen Zigeunerklischees Beladenen." Gegen diese pauschalisierende Rede setze das Stück vereinzelte, fast immer bittere Erzählungen von jungen Frauen, die ihre Kinder allein durchbringen müssen und um Ausbildung kämpfen, von jungen Männern, die von Drogen und Gefängnis nicht wegkommen. "Manches davon bleibt in erschreckend dürren Worten stecken, anderes, wie Fatimas Geschichte, wandelt sich vor den Augen des Zuschauers in eine Performance der Selbstfindung." All diese Episoden und Miniporträts würden von Tanzszenen gerahmt, die stets nach und nach das ganze Ensemble aus Profis und Laien ergriffen.
"Wäre diese Roma-Völkerschau nur eine ästhetische Katastrophe, ließe sich das verkraften", schreibt Dorion Weickmann anlässlich des Berlin-Gastspiels von "Opern for everything" (im HAU) in der Süddeutschen Zeitung (29.5.2012). Das eigentlich Obszöne seien die selbstgefällige Einfalt und der politisch fahrlässige Umgang mit einer verfolgten Minderheit. "Keine Spur von Würde, kein Respekt auf der Bühne, stattdessen lauter im Trashkakao zappelnde Folkloreheinis, lauter Dolce & Gabbana- oder auch Armani-Gucci-Schießbudenfiguren, die der Politpolitesse auf den Casting-Leim gegangen sind."
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nachtkritikvorschau
Meiner Meinung nach ist die Mind-Map-Variante die einzige Form, wie man so viele einzelne Leben (und die Roma sind mehr als Performer, sie sind Laien, die unglaublich viel von sich selbst einbringen) verbinden kann. Was sich zeigt, ist die unglaubliche Vielfalt, die in jedem dieser meist jungen Menschen steckt. Eine Unmenge an Freude und Leid - und genau das zeigt dieses Stück.
(ist nachgetragen/die nachtkritik-Redaktion)
http://www.berliner-zeitung.de/berlin/einwanderer-die-meisten-roma-wollen-in-berlin-bleiben,10809148,16600538.html
Warum wird Riefenstahls "Tiefland"-Film erwähnt, wenn der inhaltliche Bezug zum heutigen Kontext fehlt? Oder ist der Bezug da - siehe beispielsweise Kommentar Nr. 3?
Welche Aussage soll die sich viel zu lang hinziehende "Gucci, Prada, Armani, Versace usw."-Szene transportieren? Die Fälschung von Markenklamotten, den Markenfetischismus oder die Kritik am Konsumismus? Bleibt unklar.
Und die katholische Madonna in der Garage? Roma stehen also zwischen dem religiösen Glauben und dem (Pussy) Riot gegen die orthodoxe Kirche?
Was zeigt der Chorgesang in Bezug auf König David? Zumal der ja sowohl im Christentum als auch im Islam vorkommt. Wird da das Thema der Hoffnung auf Befreiung von Unterdrückung und Not aufgegriffen? Und so beschreibt ja auch Walter Benjamin die historische Konstruktion: Der Ort der Geschichtskonstruktion ist nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte, in welcher die vergangene und zugleich die zukünftige Zeit eingeschlossen ist.
Warum die zeitweise gefährlich dräuende Musik? Bezug auf den (angeblichen) Aberglauben der Roma? Auf Gewalt und Tod? Oder auf ein surrealistisches Traumbild nach Bunuel - das Zebra und die Nonne?
Thematisch alles sehr disparat, aber die Freude an Musik und Tanz war allemal ansteckend. Keine Spur von Ausbeutung der Roma durch die Choreographin.
Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com
"Wenn der Täter kein Unrechtsbewusstsein zeigt, kann sich der Zuschauer nicht mit ihm identifizieren, und wenn der Zuschauer sich nicht identifizieren kann, kann er die Tat auch nicht verurteilen."
Misha bekommt für diese Anpassung und Selbstverleugnung auch eine Gegenleistung. Zitat Lindemann:
"Am Ende meinte der Regisseur, Misha hätte das richtig gut gemacht. Und der Regisseur hat auch gesagt, dass er ein Wort einlegen kann für den Misha, bei der Ausländerbehörde."
Fazit: Vielleicht ist die (westliche) Öffnung in Bezug auf das Fremde doch nur ein Reflex auf den Ausschluss des Fremden. Es herrscht möglicherweise eben doch oftmals das Muster der narzisstischen Mitleidsmoral vor: Mit den Schwachen sympathisieren und alles tun, damit sie nicht aufhören, schwach zu sein. Das ist hier die Frage.