Türkische Trauerspiele. Ibrahim Bassa / Ibrahim Sultan - Johannes Schmit organisiert eine Besichtigungstour in die doppelte Fremde von Daniel Casper von Lohenstein
Mit Pluderhosen in die ferne Fremde
von Esther Boldt
Mainz, 12. Januar 2013. Nichts entzündet die Fantasie so wie das Fremde: Die Oberflächenerscheinungen anderer Kulturen und Landschaften, unlesbare Chiffren für das Auge des Betrachters, sind dankbare Projektionsflächen für Ängste, Wünsche und Begehren, die mehr vom Eigenen erzählen als vom Fremden. Wie sich Kulturen begegnen und verstehen können, ist im beschleunigt-globalisierten 21. Jahrhundert ein allgegenwärtiges Thema nicht nur für Politiker, Feuilletonisten und Philosophen, sondern auch für die Kunst. Diese durchsuchte in den letzten Jahren beispielsweise mehrfach die koloniale Vergangenheit Europas, um die Erfolgsstory des Westens zu dekonstruieren.
Rhetorik und Orient-Fantasie
Eine historische Texthebung in diesem Sinne möchte das Staatstheater Mainz betreiben, wenn es nun zwei barocke Trauerspiele ausgräbt, "Ibrahim Bassa" von 1640 und "Ibrahim Sultan" von 1673, verfasst von dem schlesischen Dichter, Juristen und Diplomaten Daniel Casper von Lohenstein. Beide sind barocke Sprachungetüme, in denen sich geschmeidige Rhetorik an unbändigen Orient-Fantasien bricht. Sprachgewalt ist ein Spezialgebiet des Regisseurs Johannes Schmit, der in Mainz unter anderem Kathrin Rögglas "Machthaber" inszenierte. Nun führt er unter dem Titel "Türkische Trauerspiele" eine Textcollage aus den beiden Lohenstein-Stücken auf.
Die Texthebung, die hier vorgenommen wird, ist keine philologische, sondern eine mit den Mitteln des Theaters: Im Deck 3, der kleinen Experimentierspielstätte des Staatstheaters, reihen sich Schulbänke aneinander, optisch bis ins Unendliche verlängert durch einen bemalten Bühnenprospekt. Darauf kreist eine Videoprojektion, die Sterne des europäischen Banners drehen sich zur Spirale ein, verschwinden taumelnd in der Mitte, um am äußeren Rand wieder zu erscheinen.
"Türkische Trauerspiele" in Mainz: Nicole Kersten, Karoline Reinke, Mathias Spaan © Bettina Müller
Mit Spaß und Schnabelschuh
Im derart besternten Klassenzimmer treffen sich vier Schauspieler in prächtigen Multikulti-Gewändern, mit Pluderhosen und Rüschenhemden, Schnabelschuhen, Schoßröckchen und Krawatte. Sie spielen nicht Lohensteins Dramen, nein, sie spielen eine Leseprobe: Mit dicken roten Textbüchern ausgestattet, üben sie die richtige Betonung der seltsam klingenden Worte, bei Fehlern unterbrochen von einer Glocke und mahnenden Blicken der Kollegen. Sie genießen die Differenz zur zeitgenössischen Diktion, kosten die ganze sprachliche Fremdheit und Schönheit der Lohenstein'schen Texte aus, ihren barocken Zierrat, der Worte zu gewaltigen Gebirgen aufhäuft oder zu nur lose zusammenhängendem Wortgeröll – für das man tatsächlich sehr viel Geduld braucht bei der Lektüre oder, besser noch, einen Übersetzer.
Fast ausschließlich wird "Ibrahim Sultan" verwendet, geschrieben anlässlich der Eheschließung von Kaiser Leopold und Claudia Felicitas, Erzherzogin von Österreich, am Wiener Hof. Doch die wüste Geschichte des sexbesessenen Sultans, der die Tochter des Mufti begehrt und auch vor Kindsmord und Vergewaltigung nicht zurückschreckt, spielt in Mainz kaum eine Rolle. Anfang und Ende der Inszenierung stehen fest, die restliche Dramaturgie folgt dem Zufallsprinzip: Der Musiker, Regieassistent und Inspizient Felix Harms zieht die Reihenfolge der Textfragmente in Form von Karten.
Nur am Ende ganz verzagt
Lose haken sich Versatzstücke des Textes ineinander, Liebes- folgen Gerichtsszenen, Todessehnsüchte werden ausgesprochen und Personenlisten verlesen. Worum es in dem Stück geht, erhascht man letztlich nur am Rande, irgendwas mit Liebe wird es sein. Bald wird das Theater zum Selbstzweck, Nicole Kersten, Karoline Reinke, Tilman Rose und Mathias Spaan lesen redlich ihre Texte, den Finger an der Zeile entlangführend, und mit sichtlichem Spaß am Sprachgeklingel. Die im Programmheft verkündete Aktualität des Konfliktes zwischen Christen und Muslimen, zwischen Europa und der Türkei wird nur am Ende seltsam verzagt angesprochen – als wäre der Regie nichts eingefallen, was dieser Sprachgewalt und Eigenwilligkeit der Barockdramen hinzuzufügen oder entgegenzusetzen wäre.
So frönt die Inszenierung unverhohlen selbst dem Exotismus, großäugig, gutgelaunt und lustvoll bis albern setzt sie zur Reise in die okzidentale Vergangenheit an, was hier vor allem heißt: in die so fremd, blumig und gewaltig klingende Muttersprache, deren Wortkuriositäten betont herausgespuckt werden oder langsam herausgetropft, und wenn Nicole Kersten am Ende einen soliden Wutanfall bekommt, weil ihr Karoline Reinke immer wieder naseweis-korrigierend ins Wort fällt, dann ist das witzig und charmant. Aber der Mix aus Klassenzimmer- und Probenatmosphäre trägt keinen Abend lang, die Nachbuchstabiererei und Korrigiererei wird bald ermüdend. Anstatt kulturelle Klischees zu dekonstruieren, werden nur neue installiert: vom Barock als einer uferlosen Welt beispielsweise, in der das Unmögliche möglich war und das Mögliche nicht von Interesse, von einer dunklen Epoche, rätselhaft und uneinholbar, Teil unserer Geschichte und doch vollkommen fremd.
Türkische Trauerspiele. Ibrahim Bassa / Ibrahim Sultan
nach Daniel Casper von Lohenstein.
Regie: Johannes Schmit; Bühne und Kostüme, Co-Regie: Markus Wagner; Wissenschaftliche Mitarbeit: Sebastian Kirsch; Musik, Regieassistenz und Inspizienz: Felix Harms; Licht: Jürgen Sippert; Dramaturgie: Lisa Dressler, Katharina Gerschler.
Mit: Nicole Kersten, Karoline Reinke, Tilman Rose, Mathias Spaan.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-mainz.de
Klug beschränke sich die Regie auf grelle Ausschnitte der überbordenden barocken Dramen, schreibt Dieter Bartetzko in der Frankfurter Allgemeinen (14.1.2014). Bartetzko erwähnt auch den überwältigenden "Schwung der Worte", das fesselnde wie bravouröse Spiel der vier jungen Darsteller. "Das Quartett jongliert mit Worten und Tonfällen, setzt mal funkelnde Pointen und mal den Leierton von Klippschülern, zeigt sich in einem Moment als Kumpan des Publikums und im nächsten entrückt in den Grammatik-Olymp". Der Kritiker bescheinigt den Schauspielern die körperliche Wendigkeit von Action-Darstellern. "Wenn dann zum Schluss C. G. Herings 'Sei doch kein Muselmann, der das nicht lassen kann' ertönt, ist die politische Korrektheit gottlob im Keller – und amüsierte Vernunft auf der Höhe."
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