Presseschau vom 20. Juli 2011 – Der ägyptische Regisseur Salam Yousry über seine Bürgerchöre

Seine eigenen Regeln machen

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Seine eigenen Regeln machen

München, 20. Juli 2011. In der Süddeutschen Zeitung spricht Jonathan Fischer mit dem Kairoer Maler, Schriftsteller und Theaterdirektor Salam Yousry. Seit 2010 hat er das Konzept der Beschwerdechöre in der arabischen Welt popularisiert, weil er "in einen Diskurs mit Menschen aller Klassen und Herkunft treten" wollte, nicht nur mit dem Bürgertum: "Deshalb hatte ich bereits 2002 die Theatertruppe Al Tamye - das bedeutet übersetzt Nilschlamm - gegründet. Das Konzept der Complaints Choirs schlägt in dieselbe Kerbe. Die Idee kam mir zusammen mit einer Galeristin und einem Stand-up-Comedian, nachdem wir Aufnahmen von europäischen Complaints Choirs auf YouTube gesehen hatten: Jeder kann mitmachen, jeder kann seine Beschwerden und Einfälle einbringen. Wir haben dann ganz ohne Anleitung gearbeitet. Schließlich ist das Befreiende an so einem Chor, dass er seine eigenen Regeln macht."

Zunächst hätten sich vor allem Schauspieler, Künstler und Aktivisten für den Beschwerdechor interessiert. "Später kamen Menschen aus allen Schichten dazu. Ihre Themen waren dieselben wie im postrevolutionären Ägypten: Zensierte Nachrichten, korrupte Politiker, straflos prügelnde Polizisten. Aber es ging eben nicht ausschließlich um Politik. Sondern auch um Taxipreise, spuckende Menschen auf der Straße oder Hämorrhoiden. Sobald sich ausländische Fernsehteams anmeldeten, wurde die Staatssicherheit nervös und drohte der als Trägerverein fungierenden Townhouse Galery."

Inzwischen existieren neun verschiedene Chöre in Kairo, Yousry veranstaltet seine Workshops von Alexandria bis Amman. Dennoch will er sie nicht von vornherein mit Politik verknüpfen. "Aber da Politik so ein wesentlicher Teil unseres Alltags ist, kommt sie unweigerlich zur Sprache. Vor allem geht es um den gemeinsamen Prozess. Hier kann jeder seine ureigene Stimme finden." Wichtiger als Revolutions-Slogans und -Lieder sei ihm aber das Stellen von Fragen: "Das erlebe ich im Westen mit seiner Konsum-Ideologie nicht anders als in der arabischen Welt. Der Chor ist ja eine Übung darin, aus den eigenen Denkzirkeln und Routinen auszubrechen: Diese Freiheit geht weiter als jedes politische Programm, sie ist die Hefe jeder gesellschaftlichen Erneuerung."

(geka)

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