Presseschau vom 7. Juni 2011 – Die Süddeutsche Zeitung über das gegenwärtige Klima füre gute Gegenwartsdramatik

Eine gewisse Entschleunigung

7. Juni 2011. Ein "momentan ganz gutes Klima für die deutsche Gegenwartsdramatik" registriert Christine Dössel, in diesem Jahr als Jurorin mit für die Auswahl für den Wettbewerb um den Mülheimer Dramatikerpreis zuständig, nach Inaugenscheinnahme von 119 Stücken.

Auch stellt sie eine "gewisse Entschleunigung des meist so heißlaufenden Uraufführungsbetriebes fest. Denn nahezu alle, in diesem Jahr zu den 36. Mülheimer Theatertagen geladenen Stücke seien bereits nachgespielt worden. Damit widerlegen viele der ausgewählten Stücke Dössel zufolge den üblichen Verdacht, eine Orientierung an der Aktualität bedeute zwangsläufig "Ex- und Hopp-Dramatik". Grundtenor aller ausgewählten Stücke sei die Brüchigkeit heutiger Arbeits- und Lebensverhältnisse, Anpassungsdruck und Angst, die weit über das Ökonomische hinaus tief ins Existenzielle greife. Aber auch soziale Fragen wie der Komplex Migration/ Integration oder das Verhältnis Europas zum schwarzen Kontinent.

Dössels Ausgangsfrage hatte gelautet: "Wie geht es eigentlich dem zeitgenössischen deutschsprachigen Drama? Existiert es noch - oder hat man es zu Tode gefördert in all den Autorenwerkstätten, Stückemärkten und Dramatiker-Workshops, in denen es in den letzten zehn, fünfzehn Jahren wie ein Pflegenotstandsfall gehätschelt, gepampert und für eine jeweils schnelle Uraufführung hochgezüchtet wurde? Hat es noch einen Wert aus sich heraus, eine Bedeutung, einen Bestand? (...) Hat es noch etwas zu sagen und zu wagen?"

Allersdings wirkt trotz der Solitäre der Mülheimer Auswahl (unter ihnen für Dössel speziell Elfriede Jelineks "Winterreise" noch einmal herausragend) das Gros der 119 geprüften Stücke auf die Kritikerin, "als gebe es in den Studiengängen für Szenisches Schreiben ein Handbuch für zeitgeistkompatible Mainstream-Dramatik, das die Absolventen brav und handwerklich versiert, aber weitgehend unbehelligt von großer Lebens- oder Leidenserfahrung befolgen - von der Kleinfamilien- oder Vier-Personen-Idealszenerie mit knapp umrissenem Konfliktpotential bis hin zu der anfangs oft abstrakt oder kryptisch daherkommenden, sich dann aber zu einer klaren Problemaussage kristallisierenden Dialogstruktur aus kurzen, coolen, markant gesetzten Sätzen, denen man ihre Reißbrett-Herkunft leider sehr oft anmerkt."

(sle)

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