Deutschstunde - Württembergische Landesbühne Esslingen
Der Maler und seine Spitzel
von Verena Großkreutz
Esslingen, 12. Oktober 2019. Gespenster der Vergangenheit bändigen: Für Siggi Jepsen, den 20-jährigen Ich-Erzähler in Siegfried Lenz' Bestsellerroman "Deutschstunde", ist das die Triebkraft des Schreibens. In einer Nachkriegs-Erziehungsanstalt, in einer Zelle, versucht er im Rahmen einer Strafarbeit zu kanalisieren, was ihn kaputt gemacht hat. Manisch schreibt er Heft für Heft voll.
Dass er dort eingesperrt ist, weil er im Wahn Gemälde seines malenden Patenonkels Nansen entwendet und versteckt hat, ist eine nahezu absurde Situation. Denn eigentlich müssten die dort sitzen, die verantwortlich sind für sein zwanghaftes Verhalten: vor allem seine nazi-ideologisch völlig verdorbene Mutter und sein pflichtversessener Vater – einst "nördlichster Polizeiposten" im Dritten Reich. Der hatte das Malverbot, das über den "unerwünschten" Maler Nansen verhängt worden war, zu überwachen – was er mit voller Inbrunst tat, nicht ohne seinen Sohn Siggi als Spitzel zu missbrauchen.
Renaissance des Stoffes
Dass "Deutschstunde" erst kürzlich, über 50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, ins Kino gekommen ist (just am symbolträchtigen 3. Oktober), zeigt, dass es offenbar nicht ganz einfach ist, dieses prosaisch bis ins Abstruse sich ausbreitende Werk in eine dramaturgisch überzeugende Form zu zwingen. Christian Schwochows Verfilmung besticht dann auch weniger durch vielschichtige Durchleuchtung der Protagonist*innen, als durch ihre starke symbolische Bildkraft, evoziert durch eine stürmische, kalte, menschenleere Nordseelandschaft.
Es ist reiner Zufall, dass zeitgleich auch die Landesbühne Esslingen sich dieser Geschichte angenommen hat. Aber funktioniert "Deutschstunde" im Theater? Die Regisseurin Laura Tetzlaff hat auch die Textfassung geschrieben. Ganz konventionell: Zentrale Szenen des Romans, die den Grundkonflikt zwischen Siggis Vater und dem Maler umreißen, werden auf die Bühne gebracht. Die beiden Zeitebenen, Rückblick (1943–45) und Gegenwart (Nachkriegszeit), werden durch die Figur Siggi (Benjamin Jansen) verdeutlicht, der einerseits als Erzähler fungiert, andererseits in die Szenen "hineinspringt" und mitspielt.
In expressionistischer Farbgebung
Auf der kargen Bühne – eine sich perspektivisch verengende Rampe, darüber an der Decke eine breite Stoffplane, alles verschönert durch ein expressiv hingepinseltes, grell buntes Farbenmeer – schwanken und taumeln, streiten und giften, quälen und leiden sie, die Menschen, die in diese Angelegenheit verwickelt sind.
Es gibt starke Szenen: Wenn die Personage zu surreal verhallter Akkordeontanzmusik eine Zeitlupenpolonaise tanzt – geisterhaft, jenseitig. Oder am Ende, wenn der Polizist Jepsen (Christian A. Koch) von britische Soldaten abgeführt wird und die walkürenhafte Mutter Jepsen (Nina Mohr) die Arme theatralisch ausbreitet und ihrem Mann beim Umarmen ein Giftfläschchen zusteckt. Den Wink mit dem Zaunpfahl wird er ignorieren. Es gibt ja noch etwas zu tun: nämlich nach der Entlassung genauso weiterzumachen wie zuvor.
Aber der Spannungsbogen wird im Verlauf des zweieinhalbstündigen Abends flacher und flacher. Das liegt nicht am Ensemble, das seine Sache so gut macht, wie es eben geht, wenn man holzschnittartig gezeichnete Charaktere zu verkörpern hat. Zu sehr dreht sich die Handlung im Kreis: Der penetrant obrigkeitshörige Polizist schaut dem Maler (Oliver Moumouris) ständig auf die Finger; der Maler – mit stürmisch verwirbelter Haartolle – bietet ihm, dem stets strammstehenden Uniformierten, mit gediegener Arroganz und Überlegenheit Paroli.
Der Polizist und seine Nazigattin
Immer wieder versuchen gutmeinende Dorfbewohner (Florian Stamm) erfolglos, den Polizisten zur Raison zu bringen, schon längst ahnend, dass sich das Fähnchen bald in eine andere Richtung drehen wird. Und genauso oft gibt's Szenen, in denen der Polizist und seine strenge Nazigattin eines ihrer drei Kinder drangsalieren und demütigen, bis sie gar ihren ältesten Sohn (Markus Michalik), der sich durch Selbstverstümmelung von der Front retten konnte, an die Ledermantel-Nazis ausliefern.
Dagegen wird die Rahmenhandlung in der Jugendstrafanstalt nur vage angedeutet. Siggi, der in der "Deutschstunde" ja seine Geschichte erzählt, wird auf diese Weise degradiert zum Erzähler an der Rampe, der den Plot zusammenhält, aber gleichzeitig in einer beliebig gewordenen Geschichte verschwindet.
Angelehnt an die Biographie des Malers Emil Nolde
Dass Siegfried Lenz mit dem Maler Nansen eigentlich Emil Nolde meinte, der seine Biographie in der Nachkriegszeit schön weiß gepinselt hatte in Richtung Opferstatus, brachte dem Schriftsteller den Vorwurf ein, mit seinem Roman an dieser Legende mitgearbeitet zu haben. Denn eigentlich – das hat nicht erst die diesjährige Berliner Nolde-Ausstellung bewiesen – war der Maler selbst Antisemit und glühender Nazi. Ein Aspekt, den weder Schwochow noch das Esslinger Theater aufgegriffen haben.
Beide suchen im Stoff die zeitlose Parabel, gehen dabei aber – was die Antipoden Jepsen und Nansen angeht – der Schwarzweißmalerei des Romans auf den Leim. Nein, der Roman eignet sich nicht fürs Theater. Aber ein Künstler, der gleichermaßen verfemt wie selbst ein brauner Ungeist wäre, wäre zumindest eines: eine nicht ganz so langweilig eindimensionale Bühnenfigur.
Deutschstunde
von Siegfried Lenz
Bühnenfassung von Laura Tetzlaff
Regie: Laura Tetzlaff, Bühne & Kostüme: Frank Chamier, Musik: Timo Willecke, Dramaturgie: Marcus Grube.
Mit: Sabine Bräuning, Lara Haucke, Benjamin Janssen, Christian A. Koch, Markus Michalik, Nina Mohr, Oliver Moumouris, Thomas Müller-Brandes, Florian Stamm.
Premiere: 12. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.wlb-esslingen.de
Kritikenrundschau
Martin Mezger schreibt in der Eßlinger Zeitung (14.10.2019): Die Dramatisierung sei "nicht nötig" gewesen. In der szenischen Fassung der Regisseurin Laura Tetzlaff werde aus "erhellender Multi-Perspektivik" ein "recht eindimensionaler Theater-Funktionalismus". Die Rahmenhandlung gestrichen, werde Siggi Jepsen zu einer Art "Bühnenmanager" seiner Geschichte. In Frank Chamiers, eigentlich prima für den Stoff geeignetem Bühnenbild, komme nur ein "dünner Absud" der Geschichte auf die Bühne. Zwar strebe das Ensemble "nach Kenntlichkeit und Differenzierung", soweit das die gestutzten Figuren zuließen. Aber die "Deutschstunde" würde so nicht gesehen.
Markus Dippold schreibt in der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten (online 13. Oktober 2019, 16:22 Uhr): Laura Tetzlaff verwische in ihrer Fassung und ihrer Inszenierung die bei Lenz so wichtige Konstruktion von Rahmen- und Binnenhandlung. Sie rücke alleine die, hauptsächlich in der Nazi-Zeit spielende, Binnenhandlung in den Fokus. So vermisse man trotz ansprechendem Spiel "zu oft den spannungsreichen Kontrast von kindlichem Erleben und jugendlicher Reflexion". Lenz’ „Deutschstunde“ sei "noch immer relevant", doch Tetzlaff verschenke das Potenzial dieses Stoffes, den sie zwar als "szenischen Reigen in schneller Folge" bringe. Doch fließe der abend "seltsamerweise" dennoch "eher breit, beinahe zäh dahin".
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