Hamlet - Theater Heidelberg
Hamlet mit Handycam
18. Juni 2023. Es ist eines der berühmtesten Theaterstücke aller Zeiten: die Geschichte vom dänischen Prinzen Hamlet, der nach dem Tod des Vaters aus der Uni in Wittenberg nach Hause kommen muss, und die Welt aus den Fugen findet. In Heidelberg hat Holger Schultze das Drama nun auf die Bühne gebracht.
Von Thomas Rothschild
18. Juni 2023. Manchmal kommt Fortinbras am Ende, um das Debakel zu begutachten, das Shakespeare da angerichtet hat. Manchmal wird er auch weggelassen. Am Theater Heidelberg kommt er und sieht Ophelia verdammt ähnlich. Kein Wunder. Ist es doch die selbe Schauspielerin, die beide Rollen verkörpert.
Es ist Hamlet, der von allen Figuren der Theatergeschichte am meisten zur Kennzeichnung des mittlerweile fast obligatorischen Verfahrens herhalten musste, ein Drama aus der Zeit der Handlung in die Gegenwart zu verlegen. Ein Hamlet, der aussieht wie Alexander Moissi oder Asta Nielsen auf dem berühmten Foto und in der Folge noch Sir Laurence Olivier oder Innokentij Smoktunovskij, ist heute allerdings kaum mehr denkbar. Moissi war (zumindest im deutschsprachigen Raum) wahrscheinlich der Erste, der in dieser Rolle das historische Kostüm gegen einen Frack ausgewechselt hat. Mehr als dreißig Jahre und einen Weltkrieg nach Moissi trug Hardy Krüger die adäquate Kleidung eines deutschen Industriellen, zu dem Helmut Käutner den dänischen Prinzen in seiner sehr freien Filmversion verwandelt hat.
Soziale Umschichtung
In der Regie von Holger Schultze trägt Hamlet jetzt eine schwarze Strickmütze, einen roten Pulli, eine graue Windjacke, eine hellblaue Jogginghose und Sneakers. Der Heidelberger Intendant hat "Hamlet" nicht nur in die Gegenwart transportiert, sondern auch sozial deklassiert. Claudius, Gertrud und Hamlet sprechen zwar von sich als König, Königin und Prinz, aber sie spielen sie nicht. Von wem also redet Ophelia, wenn sie sich an einen "Staatsmann" erinnert? In Heidelberg kommt kein Staatsmann vor. Ort der Handlung ist ein steriler fensterloser Raum, in dem eine Rolltreppe und ein Fahrstuhl enden und Obdachlose lungern. Es könnte eine U-Bahn-Station sein. Hinten links spielt Simon Mazouri diverse Perkussionsinstrumente, wenn er nicht gerade als Horatio auftritt.
Wer da meint, es sei doch langweilig, die immer gleiche Geschichte von dem Prinzen zu hören, der vor lauter Grübeln nicht dazu kommt, den Mord an seinem Vater zu rächen, dem sei versichert, dass bei heutigen Abgängern aus deutschen Schulen eine gute Chance besteht, dass sie "Hamlet" nie gelesen oder gar auf der Bühne gesehen haben. Wenn man also Änderungen vornimmt, muss man sich fragen lassen, wozu sie gut sind. Und so wird auch in Heidelberg nicht ersichtlich, was die soziale Umschichtung für den Stoff einbringt.
Klasse und Macht
Regie und Dramaturgie sind dabei nicht konsequent. Auf die Fechtszene vor der Ankunft von Fortinbras wollen sie nicht verzichten. Sie wird auf kreisender Bühne zelebriert wie zu Zeiten von Moissi und Asta Nielsen. Die Inszenierung als Ganze bietet dabei keine plausible gesellschaftliche Verortung an. Es ist anders, als gewohnt, aber mit welchem Ziel? Der Frack hat immerhin noch kenntlich gemacht, dass das, was faul ist im Staate Dänemark, etwas mit Klasse und Macht zu tun hat.
Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass Hamlets Zögern nicht, wie oft suggeriert, am Charakter der zentralen Figur liegt, sondern nachvollziehbare Gründe hat. Im Widerstreit der zu Shakespeares Zeit herrschenden Weltanschauungen konnte Hamlet nicht mit letzter Gewissheit entscheiden, ob der Geist, der ihm erschienen war und einen Auftrag erteilt hatte, tatsächlich der Geist seines Vaters oder Teufelswerk war. Die Darstellung dieses Geistes ist eine Herausforderung für jede moderne "Hamlet"-Inszenierung.
In Heidelberg erscheint der Geist wie ein heruntergekommener Schlafwandler, der sich hierher verirrt hat. Polonius im Trenchcoat und mit schwarzer Aktenmappe ist nicht so sehr intrigant wie ein wenig vertrottelt. Und Hamlet selbst? Er spricht zwar Shakespeares Worte, aber Leon Maria Spiegelbergs Körpersprache ist nicht die eines Zögernden. Er ist, eher hyperaktiv als nachdenklich, in Gestik und Mimik mehr Truffaldino als Hamlet.
Ein Mensch sein, oder nicht: das ist die Frage?
"Die Zeit ist aus den Fugen" rezitiert Hamlet in seine Handykamera, und das wird auf drei große Monitore unterhalb der imaginären Decke projiziert. Dort sieht man auch, stark verkürzt, die "Mausefalle" mitsamt den royalen Zuschauern, während Hamlet und Ophelia allein auf der Bühne zurückbleiben. Die Wirkung dieser zentralen Szene über die Aufdeckung der Wahrheit verpufft.
In Heidelberg hat man sich für die Übersetzung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch entschieden, die, wenn der Eindruck nicht täuscht, die Übertragungen von Rudolf Schaller, Erich Fried oder Frank Günther und die von Wieland und Schlegel sowieso zunehmend von den deutschen Bühnen verdrängt.
Da erledigen Rosencrantz und Guildenstern einen "Job" und Laertes warnt seine Schwester vor einem "Techtelmechtel". Bei Schanelec/Gosch beginnt der wohl vertrauteste Monolog der Dramengeschichte so: "Ein Mensch sein oder nicht, das ist die Frage". Immerhin hat der Ersatz für "Sein oder Nichtsein" den Vorzug der Treue zum Metrum des Originals. Schultze aber wollte das Publikum wohl nicht allzu sehr vor den Kopf stoßen und hat die Stelle zurückkorrigiert zum bewährten "Sein oder Nichtsein".
Und die Kürzungen? Über die kann man immer streiten. Aber um Yoricks Schädel, der in Heidelberg nur auf dem Papier existiert, ist es schon schade. Dafür hätte es doch neben den beiden Totengräbern in weißen Overalls noch Platz gegeben.
Hamlet
von William Shakespeare
Übersetzung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch
Regie: Holger Schultze, Bühne und Kostüme: Lorena Díaz Stephens, Jan Hendrik Neidert, Dramaturgie: Lene Grösch.
Mit: Leon Maria Spiegelberg, Marco Albrecht, Katharina Quast, Hans Fleischmann, Jonah Moritz Quast, Simon Mazouri, Esra Schreier, André Kuntze, Daniel Friedl, Andreas Seifert, Steffen Schortie Scheumann.
Premiere am 17. Juni 2023
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause
www.theater-heidelberg.de
Ein kühner architektonischer Wurf ist die Alternative zum Hamlet-Schloss in Helsingør. "Gut so, denn ein plumper Historismus täte diesem Werk nicht gut. Das wissen die Ausstatter genauso wie der Regisseur Holger Schultze", schreibt Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (19.6.2023). Das garantiere einen "Hamlet" frei von Pathos, aber dennoch mit tieferer Bedeutung. "Dass Olaf Scholzens 'Zeitenwende' indirekt mitschwingt, gehört zum Mehrwert dieser Inszenierung." Die Titelpartie meistere Schauspieler Leon Maria Spiegelberg mit "kontemplativer Kraft, der richtigen Portion Verrücktheit und einer starken Bühnenpräsenz".
"Schultze dekonstruiert Shakespeare nicht, aber er erlaubt sich den Hinweis, dass im Tragischen auch eine gehörige Portion Absurdität enthalten ist", so Eckhard Britsch im Mannheimer Morgen (21.6.2023). Exemplarisch werde dies in der Person des Hamlet gezeigt. "Schultze entlässt seinen Darsteller Leon Maria Spiegelberg aus dem nur selbstquälerischen Korsett und nimmt ihm hohles Pathos. Der berühmte Monolog, eingekürzt, kommt eher beiläufig daher wie ein memorierendes Gemurmel fern des Publikums, denn Hamlet spielt im wahrsten Sinne sich und den Mitmenschen etwas vor." So seien alle Figuren genau gezeichnet.
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Selten so eine Kritik gelesen, die konträr zu meinem Erleben stand.
Und ich habe einige Hamlet Inszenierungen gesehen inklusive der damaligen mit Angela Winkler als Hamlet.
Wie kann man die Leistung der Regie von Holger Schultze und die der Schauspieler:innen an diesem Abend so dermaßen ignorieren oder abwerten inkl. der Qualität von Leon Maria Spiegelberg als Hamlet oder Hans Fleischmann als Polonius.
Ich kann allen Interessierten nur raten, sich den Abend anzuschauen. Das ein Stadttheater eine Inszenierung auf die Beine stellt, die uneitel und angenehm und zurückhaltend gespielt ist, zieht einen schon nach der ersten Hälfte in den Bann. Spiegelberg, ein Ernst Busch Schüler brilliert nicht nur durch ein hohes uneitles Textverständnis, sondern ist durchsetzt mit einer flirrenden Energie, die Spaß macht! Dieser Hamlet ist unangenehm, gefährlich und in seinen Taten gnadenlos.
Gott sei Dank nicht nur der Denker und Fragesteller existenzieller Konstellationen, die der Kritiker vermisst, sondern jung, traumatisiert und von Rachelust durchsetzt.
Auch Polonius ist kein Depp wie von Herrn Rothschild suggeriert, sondern ein folgsamer Beamter mit durchaus komödiantschen Zügen, der sehr genau weiß, wie sehr er unter Druck steht, dem neuen König zu folgen. Hans Fleischmann macht das bravoröus.
Das Bühnenbild unterstreicht wie verloren dieses abgewirtschaftete Dänemark ist, wie heimatlos das ganze königliche Gefüge daherkommt und die Obdachlosen sind sehr wohl ein Bild für eine Gesellschaft die man nicht mehr ignorieren kann, die an den Rand gedrängte Klasse, die in den königlichen Hof drängt.
Gut, die Fechtszene. Keine Ahnung ob es das heute noch braucht. Geschenkt.
Und der Geist von Hamlets Vater, Andreas Seifert, braucht nur ein lapidares Taschenlampenlicht und kein Brimborium, um das Bedrängende, traumatische Tablet zu entwickeln.
Es gäbe noch einiges zu berichten, aber machen Sie sich ihre eigenes Bild. Der Abend hätte überregionale Aufmerksamkeit verdient.
Aber es wäre nicht die erst schlechte Kritik, die gerade das ermöglicht. Anschauen!
Der Nachlaß 1. Teil):
H a m l e t für eine Spitze des Menschlichen Geistes anzusehen, das heiße ich bescheiden über Geist und Spitzen urteilen. Vor allem ist es ein
m i ß r a t e n e s Werk: sein Urheber würde es mir wohl lachend eingestehen,
wenn ich`s ihm ins Gesicht sagte.
(Anmerkung: Und doch ist es die berühmteste und meistdiskutierte Tragödie der Weltliteratur. Zu besonders intensiven Auseinandersetzungen hat die Figur des Hamlet die deutschen Intellektuellen geführt, die sie phasenweise geradezu als
Sinnbild der eigenen nationalen Zerrissenheit deuteten.)
Kurt Tucholsky
aus-zu-drücken dass jeder sie verstehen nicht nur kann - sondern sie
verstehen muss.