Und keiner rebelliert

4. Oktober 2023. Frank Wedekind hat in seinen Stücken vor über hundert Jahren die fatalen Verhältnisse der Geschlechter im Patriarchat vermessen. Wie sieht die Sache heute aus? fragt Katharina Stoll jetzt auf der Basis der drei Wedekind-Stücke "Frühlings Erwachen", "Franziska" und "Lulu". Hat sich etwas geändert?

Von Steffen Becker

"Spring Awakening" nach Frank Wedekind am Badischen Staatstheater in Karlsruhe © Felix Grünschloß

4. Oktober 2023. Aufgepasst Mädels, so geht das mit der Klitoris: "Du stimulierst sie am besten, wenn du sie gar nicht stimulierst. Taste dich langsam vor. Leg deine Hand auf, lass die Wärme deiner Hand die Durchblutung anregen. Massiere die äußeren Schamlippen. Manche Klitoris mögen es, wenn man sie erst sanft umkreist. Manch andere Klitoris mag es in kleinen Tupfbewegungen. Manche mögen es von oben nach unten. Gib nicht sofort alles. Berühr dich nur ganz leicht und wenn du so richtig heiß bist und denkst 'Jetzt leg ich richtig los‘, dann hörst du auf, hältst kurz inne und machst dann weiter. So werden die Orgasmen doppelt intensiv."

Die Schatten der Unterdrückung sind lang

Da hat's die Lulu uns also jetzt mal besorgt mit der Aufklärung. Weil wir nicht mehr Zeitgenossen von Frank Wedekind sind, führt die Masturbationsanleitung nicht zu einem Skandal am Staatstheater Karlsruhe. Seine bekannteste Figur Lulu geht auch nicht zugrunde. Ihr Appell, sich der weiblichen nicht-penetrativen Lust zu widmen, geht nur ins Leere. Ihre Tochter – Wendla aus dem Stück "Frühlingserwachen" – schämt sich trotzdem ihres Körpers. Und ihre Lektion wird unterbrochen von einem Mann, der darüber reden möchte, dass die fehlende Liebe seiner Mutter schuld an seinen Übergriffen gegenüber jüngeren Frauen ist.

In der Wedekind-Überschreibung "Spring Awakening" von Katharina Stoll muss Lulu sich zwar nicht prostituieren, dafür als Sexualtherapeutin erkennen, dass das Patriarchat subtil immer noch herrscht. Darüber kann die feministisch-hippe rosa "Barbie"-Referenz des Bühnenbilds nicht hinwegtäuschen – ein Klo neben dem Bett macht noch keine Befreiung von Scham. Das Dunkel, das den bespielten Raum umgibt, ist da nicht ohne Grund. Die Schatten der Unterdrückung sind lang.

Ohne Gegenvision

Das erleben auch die weiteren Figuren aus dem Wedekind-Universum. Auf der Karlsruher Bühne bekommt die Figur "Franziska" nicht das mephistophelisch-befristete Angebot, die Freiheiten eines Mannes zu erleben. Nein, das geht heute so: Werde feministische Rapperin, aber unterschreib Knebel-Vertrag, damit der Manager dich in die Bedeutungslosigkeit zurückstoßen kann. Was sich im Begleitheft noch so optimistisch liest – die Jugend wagt den Aufbruch ins Ungewisse und sucht jene Utopien, die sich Wedekind herbeigewünscht hat, aber nie vorstellen konnte – bleibt in der Inszenierung von Autorin-Regisseurin Katharina Stoll dann doch ganz in der Tradition Wedekinds: Eine positive Gegenvision zur Wirklichkeit gibt es in seinem Werk nicht.

Unglücklicher Patriarch mit Sextherapeutin: André Wagner und Ute Baggeröhr © Felix Grünschloß

Ergo sind auch auf der Bühne heute die Figuren unglücklich, nur anders als zu Wedekinds Zeiten. Sogar der Patriarch. Der kommt davon, findet aber keinen Zugang zu seinem Sohn. André Wagner gibt eine starke Kostprobe von Coolness, die Verunsicherung überspielt. Kein Kotzbrocken, sondern jemand der sich an neue Gegebenheiten anpassen will (wenigstens ein bisschen). Aber keine Ahnung hat, wie. Ute Baggeröhr überspielt als Mutter Lulu mit Coolness die Bitterkeit einer Frau, die das vermeintlich richtige tut, aber nicht erreicht. Resigniert zieht sie am Ende opulentes Hochzeits-Tüll unter der Treppe hervor, um es ihrer Tochter vor die Füße zu werfen

Auch Soraya Bouabsa als Wendla rebelliert nicht. Die bei Wedekind unaufgeklärte Figur flieht in Karlsruhe vor dem Druck der Aufklärung, alles ausprobieren zu müssen – in eine Vorliebe für Beige und schützende Unauffälligkeit. Mit ihrer tastenden Zerbrechlichkeit ist Bouabsa eine kongeniale Sparringspartnerin für Franziska. Alisa Kunina spielt sie als überwältigende Verkörperung von Wut – über die Verhältnisse, dass der Patriarch mit einem Sorry-Song für seine Übergriffe größeren musikalischen Erfolg hat als sie, die Mischung aus Lady Gaga und Tentakel-Monster.

Wo bitte geht's zu Wedekind?

Unter die Räder gerät denn auch nicht er, sondern sein Sohn Melchior, der doch alles nur richtig machen will. Jannik Mühlbeck spielt ihn als gefühligen Nerd, der in stillen Momenten das Zeug zum tragischen Helden des Stücks hat. Die Inszenierung macht ihm aber einen Strich durch die Rechnung mit Gimmicks wie der Projektion eines Comic-Pfirsichs, der ihn zu einem Masturbationsmonolog nötigt (starke American Pie-Vibes). Auch die Tirade gegen seinen Vater und dessen Boomer-Generation ist für Lacher gut in ihren Anwürfen, die Artensterben mit Sanifair-Bons und Rechtschreibreform mixt.

Das ist witzig gemeint, beschreibt aber zugleich unfreiwillig das Problem des Stücks. Man sitzt drin und fragt sich – verunsichert wie die Protagonisten – im Angesicht schneller Schnitte von Themen und Wedekind-Fetzen: Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Immerhin: Dass die Welt eine bessere wäre, wenn Frauen mit ihrer Klitoris umzugehen wissen und Sex besser wäre, wenn Frauen weniger und Männer mehr penetriert würden, das bleibt als These hängen. Und generiert die Lust, mal wieder Wedekind zu lesen.

 

Spring Awakening
eine Überschreibung von Katharina Stoll nach Frank Wedekind
Regie: Katharina Stoll, Bühne & Kostüme: Wicke Naujoks, Musik: Hannes Gwisdek, Video: Jule Roschlau, Dramaturgie: Hauke Pockrandt.
Mit: Ute Baggeröhr, Soraya Bouabsa, Alisa Kunina, Jannik Süselbeck, André Wagner.
Premiere am 3. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Kritikenrundschau

"Seit Frank Wedekind 1891 die literarische Vorlage, sein Stück „Frühlings Erwachen“, geschrieben hat, hat sich einiges getan. Aber so aufgeklärt, liberal und gleichberechtigt wie oft behauptet, ist unsere Gesellschaft auch heute noch nicht", so Marie-Dominique Wetzel vom SWR (4.10.2023). "Und auch wenn in Katharina Stolls jetziger Fassung keiner der Jugendlichen mehr unter der bigotten Gesellschaft zerbricht und sterben muss: Das Heranwachsen in unserer Zeit ist auch alles andere als ein Zuckerschlecken!"

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