Zerstörerisches Wahrheitsserum

20. Januar 2024. Karin Boyes Roman "Kallocain" erschien bereits 1940. Trotzem ist die brillante Überwachungsstaat-Dystopie der schwedischen Autorin bis heute ein Geheimtipp. Swen Lasse Awe hat sie für die Bühne adaptiert und die Handlung in Konstanz in ein Sixties-Setting verlegt.

Von Julia Nehmiz

"Kallocain" © Ilja Mess

20. Januar 2024. Jeder kontrolliert jeden. Jeder verdächtigt jeden. Und jeder in diesem Weltstaat könnte schuldig sein. Vertrauen? Menschlichkeit? Selbstbestimmung? Es ist, als würden noch nicht einmal diese Begriffe existieren. "Kallocain" von Karin Boye entwickelt einen unglaublichen Sog. Es ist völlig unverständlich, warum der Roman hierzulande kaum bekannt ist. Die schwedische Schriftstellerin hat ihn 1940 verfasst. Sie habe Angst vor ihrem eigenen Roman, schrieb sie nach Fertigstellung einer Freundin. Es sei am Ende die pure Qual für sie gewesen. Ein Jahr später beging sie Suizid.

Mit "Kallocain" nimmt Karin Boye eigentlich Orwells "1984" vorweg. Boye denkt die Auswüchse eines totalitären Staats radikal zu Ende. Hier werden nicht nur Taten und Worte kontrolliert, sondern Gedanken. Boye lässt Chemiker Leo Kall aus der Retrospektive erzählen. Von seinem Dienst in der Chemiestadt Nr.4 in diesem ominösen Weltstaat, von dem niemand weiß, wie groß er ist, wo die Hauptstadt liegt, was die anderen in den anderen Städten machen. Informationen gibt es nicht. Nur Gerüchte über einen möglichen Krieg. Und totale Überwachung. Sogar im Schlafzimmer.

Zellen im Organismus des Staats

Der Weltstaat ist allumfassend. Er sorgt für alle seine Bürger, nein, sie heißen nicht Bürgerinnen und Bürger, sie sind Mitsoldaten. Jeder bekommt eine Wohnung zugewiesen, Kleidung zugewiesen, Arbeit zugewiesen. Arbeiten, dann kurz Familie, dann Militär- oder Polizeidienst, dann schlafen. Die Kinder werden in staatlichen Einrichtungen indoktriniert, damit alle zu funktionsfähigen Mitsoldaten werden. Man sei eine Zelle im Organismus des Staates, so beschreibt es Chemiker Leo Kall. Er ist ein funktionierender Mitsoldat, der nicht hinterfragt, sondern die Doktrin verinnerlicht hat. 

Kallocain4 IljaMessIngo Biermann als Leo Kall © Ilja Mess

Da gelingt ihm eine Erfindung, die nicht nur sein Leben, sondern den gesamten Weltstaat verändert: Er entwickelt ein Wahrheitsserum. Wem es injiziert wird, gibt seine geheimsten Gedanken und Wünsche preis. Mit ihm kann man Menschen aufbrechen wie eine Konservendose. Kall benennt es nach sich, Kallocain. Und wie Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, wird Kallocain das Leben von unzähligen Mitsoldaten zerstören. Auch das von Leo Kall, der die Erkenntnis gewinnt, dass es doch etwas anderes gibt als nur den Dienst am und für den Staat.

Totalitarismus-Dystopie 

Das Theater Konstanz gibt diesem zu Unrecht hierzulande unbekannten Roman eine große Bühne. Endlich, möchte man ausrufen. Doch die Inszenierung wird der Vorlage nicht gerecht. Regisseur Swen Lasse Awe hat aus dem fast 270 Seiten starken Roman die Fassung fürs Konstanzer Theater extrahiert. In knapp eindreiviertel Stunden quetscht er eine überquellende Handlung. Dabei bleibt nicht nur die beklemmende Welt, die Boye detailliert beschreibt, auf der Strecke. Sondern auch Enge und Gefahr, die das Lebensgefühl im Weltstaat beherrschen – und die Allgemeingültigkeit, was totalitäre Systeme mit und aus Menschen machen.

Kallocain1 IljaMessBig Brother is watching you © Ilja Mess

Karin Boye hatte der ersten Fassung ihres Romans einen Untertitel gegeben: "Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert". Die Drohkulisse ihres Weltstaats ist erschreckend heutig. In Konstanz wird die Handlung in den 1960er-Jahren verortet, zumindest atmet das große Tonbandaufnahmegerät, in das Leo Kall (Ingo Biermann) seine Aufzeichnungen spricht, diese Zeit. Die Bühne selbst wird von drei wuchtigen Torbögen beherrscht, die in der Mitte eine runde Aussparung haben, als würde hinter der hintersten Wand ein riesiges Auge lauern (Ausstattung: Anna Bergemann). Die oberen Hälften der Torbögen werden ab und zu angehoben, dann wirkt es, als vergrößere sich das Auge, als würde der Staat noch mehr in einen hineinschauen. Doch diese Wirkung verpufft, wenn die Bögen wie beliebig mal hoch-, mal runterfahren. Der viele Bühnennebel kann da auch keine Beklemmung mehr herstellen.

Menschlichkeit im Zentrum

Das viel gravierendere Problem: Wer den Roman nicht kennt, ist schnell verloren. Kann bis auf Leo Kall und dessen Frau Linda (mit aufrechter Klarheit: Sarah Siri Lee König) die einzelnen Figuren, die die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler verkörpern, nicht zuordnen. Versteht nicht, was das Wahrheitsserum anrichtet. Was das überhaupt für ein totalitärer Staat ist. Dass am Ende Leo Kall vom angreifenden Nachbarstaat gefangengenommen wird. 

Kallocain3 IljaMessSarah Siri Lee König als Linda © Ilja Mess

Regisseur Swen Lasse Awe stellt die Menschlichkeit, nach der einige Figuren sich sehnen, ins Zentrum. Manche Momente überzeugen. Wenn Sarah Siri Lee König zum ersten Mal mit ihrem Mann redet und ihm offenbart, wie sie durch die Geburten ihrer drei Kinder ihrer selbst gewahr wurde. Wenn Leo Kall seiner Erinnerung gegenübersteht, und die Figuren der Vergangenheit sprechen seine Worte. Doch diese Momente sind rar. Und so ist diese Theaterkritik eine unbedingte Leseempfehlung: Lest Karin Boye, lest "Kallocain".

Kallocain
von Karin Boye
Übersetzung: Paul Berf
Deutschsprachige Erstaufführung
Textfassung und Regie: Swen Lasse Awe, Ausstattung: Anna Bergemann, Musik: Philipp Koelges, Dramaturgie: Lea Seiz.
Mit: Ingo Biermann, Anna Eger, Miguel Jachmann, Sarah Siri Lee König, Ruby Ann Rawson, Ioachim-Willhelm Zarculea.
Premiere am 19. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theaterkonstanz.de

 

Kritikenrundschau

Die schauspielerischen Leistungen seien zwar stimmig, schreibt Johannes Bruggaier vom Südkurier (22.1.2023). "Und doch, der Brückenschlag ins Hier und Jetzt will nicht glücken. Zu abstrakt erscheint das Szenario, zu schablonenhaft das Personal. Vieles bedarf einer tieferen Kenntnis des Originalwerks." Es verhalte sich mit Boyes Werk wie mit so vielen seiner Gattung: "Auf der Bühne bleibt das Gedankenexperiment in seinem imaginären Labor eingeschlossen. Gegen diese Distanz lässt sich mit noch so viel Bühnennebel, noch so düsteren Klangbildern nicht ankommen. Übrig bleiben banale Erkenntnisse: Privatsphäre ist wichtig, Totalitarismus gefährlich, welcher vernünftige Mensch wüsste das nicht."

'Kallocain' sei ein schweres, den Zuschauer belastendes Stück, schreibt Rolf Hürzeler vom St. Galler Tagblatt (21.1.2024). "Es lässt sich zwar im historischen Kontext als Dokument seiner Entstehungszeit lesen. Aber die Bezüge zur Gegenwart sind ebenso offenkundig." Die Inszenierung wirke beklemmend.

 

Kommentare  
Kallocain, Konstanz: Toller Abend
…teile die Meinung der Kritikerin nicht, fand die Inszenierung sehr wohl sehr beklemmend und eindringlich und sehr klug gemacht; wenn man aufgepasst hätte, wäre einem aufgefallen, dass die Bühne immer auf die Verhöre und die Ortswechsel reagiert hat; insgesamt ein sehr toller Abend, der durch die Musik auch nochmal einen starken Sog entwickelt hat und mich sehr nachhaltig beeindruckt hat.
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