Irgendwas stimmt nicht

6. Oktober 2023. Ein Märchen um zwei Schwestern beginnt zu ranken – hinein in die Vision vom Ende der bekannten Welt. Theresa Thomasberger inszeniert Svenja Viola Bungartens neues Stück als hochtouriges Krisen-Szenario.

Von Steffen Becker

"Die Zukünftige" von Svenja Viola Bungarten, Regie Theresa Thomasberger, am Nationaltheater Mannheim © Maximilian Borchardt

6. Oktober 2023. "Kennen Sie das, wenn Ihnen etwas so bekannt vorkommt, dass Sie kurz das Gefühl kriegen, Sie hätten es schonmal geträumt? Wir nutzen nur zehn Prozent unseres Gehirns. Was denken Sie, was die restlichen neunzig Prozent machen?", fragt die eine Tochter in "Die Zukünftige" das Publikum. Geht es nach dem Werk von Svenja Viola Bungarten suchen diese 90 Prozent im Nationaltheater Mannheim nach der Zukunft in den universellen Erzählungen der Vergangenheit. Klingt verschwurbelt, ist es auch – zumindest für die 10 Prozent Gehirn, die eine lineare Geschichte erwarten.

Im trocken gelegten Mittelstandsparadies

Immerhin ist das Szenario eingebettet in den plakativen Kitsch eines pink gedeckten Hexen-Häuschens. Rein in die Welt von Hänsel und Gretel, die in Mannheim aus dem Mittelstandsparadies von Pool und Monopoly-Spielen vertrieben werden. Es ist Klimakrise, der Pool trocken gefallen, die Umgebung ein Waldbrandgebiet und die Hypothek drückend, seit den elterlichen Zahnärzten das Narkosemittel knapp wird. Das Haus muss brennen für die Versicherung. Aber weil der Betrug schiefgeht, trennen sich die Eltern.

Die Zeit steht still

Die Zwillinge springen von Grimm zu Kästner und werden zu doppelten Lottchen, die in unterschiedlichen Welten groß werden, nur noch über passiv-aggressive Briefe kommunizieren und irgendwann gar nicht mehr. Bis der Chef der Medizin-Stipendiatin sich mit einer Spindel in den Finger sticht und stirbt. Die Zeit steht still und neue Möglichkeiten tun sich auf. Die Zwillinge tauschen die Rollen und bereits erzählte Geschichten bekommen eine neue Wendung. Verwoben sind die Szenen, Ebenen und Zeiten durch das Grundgefühl der Krise.

Vorm pinkfarbenen Hexenhäuschen: Larissa Voulgarelis und Antoinette Ullrich © Maximilian Borchardt

Was im Text noch stark zugespitzt ist auf Klimathemen – Hitzetote auf Beerdigungszeremonien, vertrocknete Bäume, die auf SUVs knallen – wirkt in der Inszenierung von Theresa Thomasberger mehr wie eine allgemeine Chiffre für Angst. Die Figuren spüren, dass etwas nicht stimmt. In ihren Träumen kündigt sich eine Katastrophe an. Die Märchen beschreiben die urmenschlichen Erklärungsmuster und Reaktionsweisen auf eine Umwelt außer Kontrolle. Flucht in Resignation oder ein neues Leben. Glaube an Schicksal (Dornröschen) – das aber durchbrochen werden kann (doppeltes Lottchen) – aber auch nur scheinbar (das Stück heißt nicht umsonst in der Einzahl "Die Zukünftige").

Die Rollen der zwei Schwestern, Vater, Mutter und ein paar Nebenfiguren lässt Regisseurin Thomasberger rotieren. Jeder kann alles sein. Die jungen Schwestern treten auf in männlichen und weiblichen, in älteren und juvenilen Körpern, aber immer pink gepanzert, um die Zumutungen einer kollabierenden Welt draußen und die eigene Verzweiflung drinnen zu lassen. Das geht dank eines gut aufeinander abgestimmten Ensembles auf.

Die Zukunftige 2 Maximilian BorchardtJeder kann alles sein – aber gepanzert: Boris Koneczny, Almut Henkel, Antoinette Ullrich, Larissa Voulgarelis, Maria Munkert und Eddie Irle © Maximilian Borchardt

Die Uniformen erzeugen Gleichförmigkeit, aber jede und jeder der sechs Darsteller findet in den verschiedenen Rollen seine eigene, wenn auch konsequent überzogen-absurde Note. Soli gibt es keine. Aber die Nuancierung der Inszenierung schafft gerade genug Abweichung für die Grundaussage des Stücks: Schon kleine Änderungen können ein Schicksal verändern. Nicht unbedingt zum Guten. Eher verändert sich die Art des Zugrunde-Gehens. Das ist manchmal nicht nur märchen-bedingt plakativ.

Ein durchgeknallter, stiller Rückblick

Auch das Bühnenbild hält sich mit gestapelten Autoreifen und rausgerissenen Sitzen nicht mit subtilen Andeutungen auf. Eher horcht man, ob sich im Text noch ein Mad-Max-Zitat versteckt. Da herrscht zwar Fehlanzeige. Aber das hochtourig-durchgeknallte Szenario überrascht dafür mit einem fast stillen Rückblick, der andeutet, dass die Protagonisten ihren Krisen auch ganz anders begegnen könnten – mit Hilfe der 90 Prozent. Auch um Stück und Inszenierung zu genießen, sollte man sie aktiviert bekommen.

 

Die Zukünftige
von Svenja Viola Bungarten
Regie: Theresa Thomasberger, Bühne & Kostüme: Mirjam Schaal, Licht: Björn Klaassen, Musik: Oskar Mayböck, Dramaturgie: Annabelle Leschke.
Mit: Larissa Voulgarelis, Eddie Irle, Boris Koneczny, Maria Munkert, Almut Henkel, Antoinette Ullrich.
Premiere am 6. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 Kritikenrundschau 

Svenja Viola Bungartens Stück beschreibe "eindringlich, was mit einer Familie passiert, die zerbricht weil um sie herum die Welt kollabiert", so Marie-Dominique Wetzel im SWR2 (6.10.2023). Regisseurin Thomasberger verpacke "das alles in ein rasantes, oft grotesk-komisches Schauspiel. Wobei sie die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler abwechselnd in alle Rolle schlüpfen lässt. Denn wer weiß schon, wer hier wessen Geschichte in welcher Version erzählt".

"Eine absolut bemerkenswerte Leistung des durchweg überzeugend aufspielenden Ensembles ist es, hier Takt und Übersicht zu (be)halten", lobt Martin Vögele im Mannheimer Morgen (7.10.2023). Mit dem "enorm hohen Tempo" "auch der dem Stück eingeschriebene, tragikomische Witz an Fahrt; und in den Kernfiguren leuchten während der rasanten Personalkarussell-Fahrt immer neue Charakteraspekte auf".

"Willkommen also auf diesem Jahrmarkt der schaurig-schönen Schrecknisse, die in der nahen Zukunft spielen", ruft Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (7.10.2023). Man "könnte sagen, dass in diesem Stück, für das die
Autorin vor einem Jahr den dritten Else Lasker-Schüler-Stückepreis erhalten hat, die Letzte Generation in einem Albtraum versinkt". Die Regisseurin drücke "auf die René-Pollesch-Tube und lässt ihr sechsköpfiges Ensemble den kunsthandwerklichen Wortschwall immer einen Tick zu schnell und einen Kiekser zu hoch aus den Kehlen schallen". Man würde sich "am liebsten auf dem Zuschauersitz anschnallen", so der Kritiker.

Kommentar schreiben