Wildes Spiel mit Strumpfbändern

7. Oktober 2023. Mit Shakespeare hat der Regisseur Christian Weise den idealen Stoff gefunden, um mit Illusionen, Realismus und Verwirrspielen umzugehen und ganz bei sich zu sein. Jetzt inszeniert er "Was ihr wollt" in Mannheim und treibt das Geschlechter-Verwirrspiel im Sauna-Nebel auf die Spitze.

Von Katharina Kovalkov

William Shakespeares "Was ihr wollt" von Christian Weise am Nationaltheater Mannheim inszeniert © Christian Kleiner

7. Oktober 2023. Eine kahle hölzerne Wand verläuft über die gesamte Bühne. Mehr nicht. Visuellen Prunk erwartet man beim Anblick dieses flächendeckenden Bühnenbilds schon mal nicht. Doch inmitten dieser Wand öffnen und schließen sich plötzlich Drehtüren, durch die allerlei exzentrisch gekleidete Gestalten ein- und ausgehen, umhüllt von orangefarbenem Licht und Nebel. Und die karge hölzerne Kulisse wird kurz darauf zur überdimensionalen Leinwand für szenische Videoprojektionen. Ein wahres Feuerwerk aus pittoresken Landschaftssequenzen, vor denen und auf denen die Schauspielerinnen und Schauspieler lustwandeln und ihre Charaktere verkörpern, sich durch wütende Meeresstürme an Land retten oder durch die zwitschernde Atmosphäre eines Waldstücks flanieren.

Das ist die Szenerie, in die Regisseur Christian Weise sein Publikum hinein wirft und mit Projektionen und überraschenden Charakteren durchbricht. So ein bisschen, als wäre man in eine riesige Sauna gesperrt, hinter deren Holz sich plötzlich eine Bar und eine Bühne auftut und in der völlig unerwartet eine abgedrehte Kostüm-Party losbricht, mit Tüll, Strass, Saufgelagen, Schwertkämpfen und gesungenen Liebesschwüren.

Sauna-Vernebelung 

Die temporeiche Verwechslungskomödie "Was ihr wollt" gehört zu den meistgespielten Stücken des Shakespeare-Repertoires. So ganz weit ab vom Schuss geht Christian Weise in seiner couragierten Fassung nicht, die vor Charme, Witz und Poesie sprudelt. Und doch findet der Regisseur eine Perspektive, die in dieser Art noch nicht durch das shakespearische Kaleidoskop gepresst wurde – höchstens von ihm selbst bei seiner früheren Inszenierung des Stücks in Stuttgart im Jahr 2010.

Wer verhüllt hier das Gemächt? Jessica Higgins als Orsino in Christian Weises Inzenierung von "Was ihr wollt" in Mannheim © Christian Kleiner

Auch hier und jetzt erleiden die adligen Zwillinge Viola und Sebastian Schiffbruch und werden getrennt voneinander an die Küste Illyriens gespült. Viola verkleidet sich als junger Mann namens "Cesario", um am Hofe des Herzogs Orsino Arbeit und Zuflucht zu finden. Und obwohl sich Viola – also "Cesario" – in den Herzog verliebt, bleibt sie lediglich ein Bote von dessen Liebesbekundungen an die Gräfin Olivia, die vom Herzog nichts wissen will und sich stattdessen in den Boten "Cesario" – also Viola – verliebt. Ein Dreiecks-Liebesspiel, das nach der Ankunft von Violas optisch identischem Zwillingsbruder Sebastian am Hof noch weitaus verwirrender wird. "Nichts ist so wie es ist", heißt es korrekterweise im Stück.

Komplizierte Begierden

Und dann gibt es ja auch noch den zweiten Handlungsstrang zwischen Gräfin Olivias dauerbetrunkenem und notgeilem Onkel Sir Toby (Rahel Weiss), ihrer dauergewieften Zofe Maria (Sarah Zastrau), dem tölpelhaften Ritter Sir Andrew (Rocco Brück), dem sich selbst überschätzenden und dauergemobbten Hofmeister Malvolio (Patrick Schnicke) und dem einfallsreichen Narren (Sandro Sutalo). Dieses flinke Quintett reiht einen Slapstick-Gag an den anderen, holt das Publikum mit kollektiven Gesängen und Wanderungen durch die Sitzreihen mit ins Geschehen. Mit improvisierten Textabweichungen versuchen sie, einander aus dem Konzept zu spielen. Etwa wenn Sandro Sutalo als Narr bei dem Kanon "Halt's Maul, du Sau" partout seinen Einsatz nicht geben will und Publikum wie Bühnenkollegen minutenlang auf die Folter spannt.

Was ihr wollt 4 Christian KleinerPatrick Schnicke als Malvolio und Ensemble in den Kostümen und der Bühne von Joki Tewes und Jana Findeklee © Christian Kleiner

In Weises Inszenierung wechseln nicht nur die Slapstick-Einlagen und Kleider, sondern auch die Geschlechter. Denn Weise besetzt seine Figuren nicht nach Geschlecht, sondern nach Typen. Es reicht ihm nicht, Frauen in Männerrollen und Männer in Frauenrollen zu besetzen. Hier spielen Männer Frauenrollen, Frauen Männerrollen, Männer Männerrollen und Frauen Frauenrollen – und mit David Smith in der Rolle der Viola spielt sogar ein Mann eine Frau, die einen Mann spielt. Ein Verwirrspiel im Verwirrspiel, aber eines, das Weise und seine Akteure in jedem Moment beherrschen.

Keine Bescheidenheit

Was vor allen Dingen über die gesamten drei Stunden Handlung hinweg die Aufmerksamkeit beherrscht, sind die Kostüme, mit denen Joki Tewes und Jana Findeklee Klassik und Moderne in ein gewagtes Ganzes verweben. Untenrum meist luftig, mit nichts als Unterhosen und seidenen Strapsen als Beinkleid und halbnackten Einblicken – obenrum ebenso durchblickend. Wie sagt Sir Toby so schön im Ösi-Dialekt: "Wer kann sich denn in dieser Welt noch Bescheidenheit erlauben?" Und nein, bescheiden war man bei der Kostümwahl wirklich nicht. Passte zum komödiantischen Aspekt, lenkte aber auch hin und wieder ab. Zum Beispiel wenn Sir Andrew sich in gespreizter Beinpose zum Publikum hin auf den Boden legt und eine kleine Gabel aus dem Hinterteil zückt. Oder wenn Sir Toby, der Narr und Malvolio eindeutige Gesten in Richtung des Objekts ihrer Begierde machen.

Schauspielerisch halten sich weder die Haupt- noch die Nebenfiguren zurück. David Smith in der Rolle der verkleideten Viola schmachtet den Herzog Orsino, imposant und doch humorvoll gespielt von Jessica Higgins, so leidend an und wehrt die Annäherungsversuche von Gräfin Olivia – herausragend dargestellt von Leonard Burkhardt – innerlich so zerrissen ab, dass man in so keiner Sekunde etwas verpassen möchte. Auch nicht Burkhardts elegante Verkörperung der Olivia, die er mit Hingabe in jeder Bewegung und einer opulenten stimmlichen Darbietung zum Leben erweckte. Bei ihrem schönen Antlitz fliegt sogar Armor kurz durchs Bild und schießt seinen Pfeil. Omar Shaker in der Rolle des Sebastians hat mit nur drei bis vier vollwertigen Szenen im Stück zwar nicht viel zu tun, bietet jedoch ein perfektes komödiantisches Pendant zu Kapitän Antonio (Ragna Pitoll) und rundet das große Verwirrungschaos zum Finale hin perfekt ab.

Echter Showfaktor

Christian Weise kennt die Größe, Tiefe und Aktualität des Autors. Er zerrt den Klassiker aus den Fugen, löst die Geschlechternormen aus, lässt seine Akteure derb und spielsüchtig Tabus brechen, fokussiert sich auf die Komik im Kummer und auf das Verdorbene im Schönen. "Schönheit ist nur eine Eintagsfliege", schwadroniert der Narr, und "eine Mütze macht noch keinen Mönch".

Das verleiht dem Ganzen einen gewissen Show-Faktor und Aktualität. So glatt geschliffen und karg die hölzerne Kulisse bis zur Decke ragt, so funkelnd und prachtvoll vibrieren die Charaktere durch das Bild. Am Ende werden buchstäblich die Hosen fallen gelassen, Tatsachen entblößt und das derbe Verwirrspiel zu einem romantischen Ende geführt. "Glam" und "Drag" gibt es im Abgang. Man könnte es als Shakespeare-Stück in Strapsen bezeichnen. Doch das wäre der Inszenierung kaum gerecht, die mit krassen Bildern und reflektierenden Monologen als Geschenk verpackt daher kommt – mit der Schleife direkt auf dem Gemächt.

 

Was ihr wollt
von William Shakespeare, Deutsch von Jürgen Gosch und Angela Schanelec
Regie: Christian Weise, Bühne, Kostüme & Video: Joki Tewes/Jana Findeklee, Licht: Robby Schumann, Musik: Lotte Marlene Böwe/Lail Braslavsky, Choreografie: Jan Krauter, Dramaturgie: Lena Wontorra.
Mit: Jessica Higgins, David Smith, Omar Shaker, Ragna Pitoll, Leonard Burkhardt, Sarah Zastrau, Rocco Brück, Patrick Schnicke, Sandro Šutalo, Rahel Weiss, Annabel Gärtner sowie den Musikerinnen Lotte Marlene Böwe und Lail Braslavsky.
Premiere am 6. Oktober 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

Kritikenrundschau

"Für den turbulenten, temporeichen Show-Charakter seiner Inszenierung steht Weise ein prächtig agierendes Ensemble zur Verfügung", lobt Alfred Huber im Mannheimer Morgen (9.10.2023) – schränkt dann aber ein: Was in dessen "dreistündiger Inszenierung vor pittoresken Videoprojektionen kühn und mit viel Witz über die Bühne" tobe, such "nicht nach den Rätseln und Geheimnissen des Menschseins". Den Regisseur interessierten "die schwermütigen Seelen der Liebenden weitaus weniger als die manchmal überdrehten Slapstickeinlagen seines Komödienpersonals". Der Gefahr jedenfalls, "dass sich Shakespeares verwickelte Liebesgeschichten zwischen den
dick aufgetragenen Rüpel- und Clownsszenen verlieren", entgehe die Aufführung "nicht immer".

"Das mit Songs, Livemusik, Kampfszenen, spaßigen Projektionen und allerhand tollpatschigem Slapstick permanent gepushte Geschehen für psychologische Feinheiten herunterzudimmen, war kaum möglich", schreibt auch Dietrich Wappler in der Rheinpfalz (9.10.2023). Weise halte ich "mit Genderfragen" genauso wenig auf "wie mit dem Gefühlsleben von Shakespeares Figuren". Auf der Bühne stehe vielmehr "ein Käfig voller Narren". 

"Ein großer Trumpf der Aufführung ist der Ausstattung und den bezaubernden Videoeinspielungen (Jana Findeklee und Joki Tewes) zu verdanken", findet Monika Frank in der Rhein-Neckar-Zeitung (9.10.2023). Sie schüfen "stille Momente voll Poesie in der sonst überwiegend auf grellere Effekte setzenden Inszenierung". Weises Inszenierungsstil sei "nicht gerade zimperlich": "Ein bisschen Schaubude, Jahrmarkt und Zirkus mischt da atmosphärisch stimmig mit." Zuweilen gehe das zu weit in Richtung "Knallcharge", was am "begeisterten Applaus" des Premierenpublikums aber nichts habe ändern können.

Kommentare  
Was ihr wollt, Mannheim: Beeindruckt
Das Stück hat mich wirklich beeindruckt. Christian Weise, ein echter Kenner von Shakespeares Werken, hat es geschafft, dieses klassische Stück auf eine völlig neue Ebene zu heben - sinnlich, tiefgründig, leidenschaftlich, komisch.

Besonders faszinierend finde ich sein Spiel mit den Geschlechterrollen. Statt sich an die traditionellen Konventionen zu halten, setzt er auf Vielfalt und Experimentierfreude. Männer spielen Frauenrollen, Frauen spielen Männerrollen, und sogar ein Mann, David Smith, verkörpert eine Frau, die einen Mann spielt. Dieses Verwirrspiel innerhalb des Verwirrspiels beherrscht Weise und seine Schauspieler in jedem Moment meisterhaft. Das geschickte besetzen der Geschlechter zu den Rollen, ohne Dogma und Idiologie, mit großer Leidenschaft für die Figuren ist etwas das Weise m.E. besonders präzise und einzigartig beherrscht.

Die Schauspieler liefern herausragende Leistungen, und ich war beeindruckt von ihrer Fähigkeit, das Publikum in das Geschehen einzubeziehen und humorvolle Momente zu schaffen. Christian Weise zeigt, dass er nicht nur ein Meister der Regie, sondern auch ein Kenner von Shakespeares Werk ist, indem er die Tiefe und Aktualität des Autors erfasst und auf der Bühne zum Leben erweckt.

Die begleitende Musik der jungen Musikerinnen hat mich sehr berührt. So jung und so eigenständige Kompositionen. Sowohl das Referenz-System als auch die vielen eingesetzten Instrumente wirkten harmonisch und frisch. Brava!

Insgesamt hat mich das Stück mit seiner kreativen Herangehensweise und seinem Mut, die Grenzen des Theaters auszuloten, tief beeindruckt. Diese Aufführung ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie klassische Werke neu interpretiert werden können, um zeitgemäß und fesselnd zu sein.
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