Jerusalem - Staatstheater Augsburg
Ratten zu Putten
11. September 2022. Jez Butterworths "Jerusalem" scheint zunächst die traurige Geschichte einer Aussteiger-Welt zu erzählen, die vom Kapitalismus zerstört wird. Doch mit der Kraft der Phantasie lehnen Ex-Stuntman Johnny und seine Leute sich gegen den Lauf der Dinge auf, und André Bückers Augsburger Inszenierung lässt eine tolle Utopie explodieren.
Von Christian Muggenthaler
11. September 2022. Ach, was gibt es Tristeres als ein Reisemobil, das nicht mehr reisen kann; einen Wohnwagen, in dem sich zwar noch wohnen, mit dem sich aber kein Ausflug mehr wagen lässt; einen Caravan ohne Motor, der bildhaft eine Ortsgebundenheit festnagelt, in der und aus der heraus nichts mehr geht. Ein solches Gefährt – die Rücklichter immerhin funktionieren noch – prägt die mega-realistisch eingerichtete Bühne im Augsburger martini-Park, in die Bretter regelrecht hineingezimmert wie ein Meteor besserer Tage, umgeben von Müll und Bäumen und noch mehr Müll. Ist Jez Butterworths Stück "Jerusalem", in Großbritannien ausgiebig gefeiert und jetzt am Staatstheater Augsburg erstmals ins Deutsche exportiert, also eine Erzählung über eine krachend gescheiterte Existenz, eine abgestürzte Utopie, ein Gehtnichtmehr im Fernverkehr?
Sommernachtsalptraum
In der britischen Tradition der working class-Stücke könnte mit dem 2009 in London uraufgeführten Stück eine Art Ende aller Hoffnungen signalisiert sein, eine Sackgasse im Tory-Brexit-Land. Immer noch geht es hier um die Arbeiterschicht und die gesellschaftlich Abgehängten, jetzt aber scheinbar endgültig auf Null gestellt. Statt einer soliden solidarischen Alternative haben sich in "Jerusalem" die buckligen Verwandten aller Utopie breitgemacht: der Alkohol, das Nikotin, die Drogen. Um Israel geht's hier übrigens gar nicht; "Jerusalem" ist das idealisierte England alter Zeiten aus William Blakes gleichnamiger Dichtung. Johnny Byron, genannt "Rooster", einstiger Motorrad-Stuntman, lebt in seinem Wohnwagen im Wald, inmitten einer selbstgeschaffenen Müllhalde, zieht die örtlichen Teenager an, die bei ihm saufen, koksen, kiffen können und bietet ihnen immerhin einen letzten Freiraum an. Fast wie eine Art Christiania im ur-englischen Irgendwo.
Es tut sich dort aber nicht viel. Die Leute sitzen herum, machen Party, kläffen und versuchen, sich zu spüren. Aber schon brandet der Kapitalismus heran. Einer Neubausiedlung in der Nachbarschaft ist das "Rooster"-Refugium ein Ärgernis, die Behörden übermitteln dem Herrn des Schandflecks eine Abmahnung: Er möge binnen 24 Stunden verschwunden sein, sonst wird zwangsgeräumt. Noch dazu ist ein junges Mädchen verschwunden und Johnny, der Dealer, der Säufer, der beunruhigende Giftmischer im Walde, steht unter Verdacht. Schließlich suchen ihn unentwegt diese jungen Menschen auf, die er selbst "Ratten" nennt; zuletzt hängt ihm jemand – wie süß – sogar noch einen Goldfisch im Plastikbeutel an die Tür. Dem Mann laufen sogar die Fische zu.
Phantasie als Utopie
Zu diesem Zeitpunkt ist man aber schon weit drin im Verdacht, dieses ganze Stück könnte auch eine komplett andere Richtung nehmen, raus aus der Hoffnungslosigkeit: Johnny als Märchenmeister in einem Land voll des magischen Realismus. Als abgestürzter Prospero. Als verkrachter Oberon in immerhin immer noch seinem Zauberwald. Denn in all dem Armuts-Realismus, den Bühnenbildner Jan Steigert zur naturalistisch scheinenden Wirklichkeit gebracht und Kostümbildnerin Lili Wanner pittoresk ummäntelt hat, befinden wir uns doch in einem in sich geschlossenen System. Ein System, in das – Autor Butterworth macht das großartig – immer mehr Legende, Märchen, Sage tropft. In ganz starker Sprache – und starker Übersetzung durch Michael Raab – wird hier inmitten eines auf den ersten Blick zerplatzten Traums eine zweite, in sich viel stabilere Wirklichkeit gebaut. Mit einem Riesen-Ende.
Es ist die Vorstellungskraft, die dieses Stück so wirksam macht. Seine Utopie ist die Phantasie. Und der Augsburger Theaterleiter André Bücker tut alles, um diese Kraft zu zeigen. Er nutzt die 75 Minuten des ersten Akts als langen Anlauf, um dann die Handlung wie einen Papierflieger in die Luft gleiten zu lassen, wo sie für den Rest des Abends dem Publikum als Bühnenwirklichkeit flugzeugartig über den Köpfen schwebt. Johnny vergisst die Abmahnung, weil sie für ihn schlussendlich keine Bedeutung hat, und es entsteht eine Welt des rasenden Tumults mit oft regelrecht gelallten Feuerwerks-Dialogen, die aus den Leuten platzen. Bücker legt das zwischendurch wie eine Messe an – da werden die Ratten zu Putten.
Abgedrehte Wald-Welt
Keine Längen in vier Stunden: Biografien prallen auf Biografien, Verzweiflung prallt auf Hoffnung, Traum auf Alptraum. Johnny reagiert auf die sausenden Schicksals-Neutrinos um ihn herum mit der zähen Eleganz eines Körpers, dem alles Gift der Welt nichts anhaben kann. Sebastian Müller-Stahl zieht als Zentralmuskel der Inszenierung alle Kraft seiner Figur aus dieser Zähigkeit. Er ist kein Held und kein Anti-Held, sondern schlicht ein humpelnder Irrwisch, der gerade aus seiner Schadhaftigkeit, seinen Fehlstellungen seinen ganz enormen Charme entwickelt. Ja. Dem kifft man aus der Hand.
Um ihn dreht sich ein Personal voll eigener Bedeutung innerhalb des Systems dieser abgedrehten Wald-Welt. Die Handlung ist hier gar nicht so wichtig. Der Möchtegern-DJ, der nach Australien Auswandernde, der Professor, der gern die Hosen runterlässt, die schrillen Girlies, der Fließbandmetzger: In Augsburg wird hinter all diese Existenzen geschaut, deren je eigenes Leben wirklich phantastisch ist. Und daraus wird eine tolle Utopie.
Jerusalem
Schauspiel von Jez Butterworth, Deutsch von Michael Raab
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: André Bücker, Bühne: Jan Steigert, Kostüme: Lili Wannert, Musik: Stefan Leibold, Licht: Marco Vitale; Dramaturgie: Lutz Keßler.
Mit: Sebastian Müller-Stahl, Paul Langemann, Klaus Müller, Alexander Küsters, Florian Gerteis, Kai Windhövel, Gerald Fiedler, Christina Jung, Nélida Martinez, Sarah Maria Grünig, Natalie Hünig, Felix Aaron Bücker/Mattis Leibold, Elif Esmen, Andrej Kaminsky.
Premiere am 10. September 2022
Dauer: 4 Stunden, zwei Pausen
www.staatstheater-augsburg.de
Kritikenrundschau
Von einem "Coup", dass dieses West-End- und Broadway-Stück nun in Augsburg zum ersten Mal in deutscher Sprache zu erleben ist, sprich Veronika Lintner in der Augsburger Allgemeinen (11. September 2022). Jez Botterworths "fluchgespickte Sprache" habe Michael Raab "mit Feingefühl für Grobheit" übersetzt. "Seine Ping-Pong-Tempo-Dialoge lassen die Figuren nicht platt klingen, sogar oft poetisch." Noch mehr Zauber zuckere Regisseur André Bücker "mit Lichtspielen herbei, ein mannshohes Polaroidbild in der Ecke lässt geisterhafte Bilder flackern." So kann das "schonungslos aufspielende Ensemble mit dieser deutschen Erstaufführung" aus Sicht der Kritikerin "einen Saisontraumstart" feiern, an der Schauspielleistung der Wald- und Partytruppe ließ ihrem Bericht zufolge auch der Schlussapplaus keinen Zweifel."
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Aber was sagt es über das Theater in Deutschland aus, dass dieses Stück 13 Jahre bis zur deutschsprachigen Erstaufführung gebraucht hat? "Jerusalem" gilt als eines der bedeutendsten britischen Stücke dieses Jahrhunderts, also auch Jahrtausends. Es hat Auszeichnungen erhalten und wurde auch erfolgreich in den USA gespielt. Warum also hat es so lange gedauert?
Ich habe mir damals die UA am Royal Court angesehen. Das war ein Starvehikel für einen wirklich tollen Schauspieler namens Mark Rylance, der dem damals bereits gescheiterten Widerstand des alten wilden UK's gegen den Neoliberalismus im Gefolge von Thatcher hinreissend Gestalt gab. Der Kampf war aber da wie gesagt schon verloren. Der Erfolg verdankte sich neben der Energie von Rylance der britischen Neigung zur Nostalgie.
Wie das auf den deutschen Sprachraum übertragbar wäre, erschloss sich mir damals nicht. Weshalb ich verzichtet habe.
Vielleicht haben die Augsburger ja eine feine Nase und das Stück funktioniert mittlerweile auch hier?
Darüber kann dann auch das kraftvolle Ensemble nicht hinwegtäuschen, das diese Suppe mit aller Kraft werktreu präsentieren muss. Ich bin aus Empathie mit dem Ensemble und aus Respekt vor der Leistung des Hauptdarstellers geblieben.
Aus meiner Sicht erscheint die Hauptfigur als ein abgehängter Käptn Blaubär, der seinen Jüngern und miniberockten handtäschenschwingenden Jüngerinnen absurde Heldentaten auftischt. Heldentaten nach Roosters-Definition sind z.B.: möglichst viele Frauen flachlegen, Leute schlagen, saufen. Was man in vierstündiger Dauerschleife miterlebt sind Dialoge von abstoßender Kraftmeierei. Oft müssen sich die Schauspieler*innen mit billigen Kalauern ins Rampenspielen retten („Hilfe, meine Frau schlägt mich! Seht her! Ich kann Wodka mit Ei auf Ex trinken, hoho - ich bin ein Kerl!“). Das ist schmerzhaft. Peinlich. Ganz peinlich das Frauenbild: Da bietet sich eine Frau einem Mann mit folgenden Worten an: "Lee, das mit dem Gratis-Fick war ernstgemeint, wenn Du mit mir schläfst, hast Du keine Verpflichtungen, auch nicht wenn ich schwanger werde." So einen Satz kann nur ein Mann im Jahr 2009 zu Blatt bringen. Und man fragt sich dann - was da wohl in ihm vorgegangen sein mag, als er das schrieb. Die Psychologie der Figur, der er diese Worte in den Mund legt, ist mehr als dürftig. Der derart Umworbene lehnt übrigens ab, worauf die Dame seine Sexualität angreift und ihn als "Schw" beschimpft. Ja der Text kann political incorrectness.
Die Inszenierung feiert das mit einem anbiederndem pseudorealen Voyeurismus - Mit Bühnenrealismus, der überraschenderweise immer dann versagt, wenn er in Widerspruch zu Miniröcken und Highheels gerät: Welche 15jährige Person würde sich ernsthaft erblöden, beinfrei auf Stöckelschuhen im Wald herum zu stapfen? Hallo Insekten? Jugendliche auf dem Land tragen nach meinen Recherchen heute mit Vorliebe sündteure, schlabberige Waldarbeiter-Klamotten - dieser Realismus interessiert hier aber keinen. Viel zu weit weg von der männlichen Lolita-Fantasie.
Ich finde es nicht anrührend, wenn ein alter Sack von den sexuellen Vorzügen einer 15jährigen zu schwärmen beginnt und die ihn dann einige Zeilen später hoffnungsfroh anschmachtet. Wogegen sich der Arme dann ja leider nicht wehren kann. Denn erstens ist er ja alkoholisiert und zweitens ein Mann und die hören ja angeblich zu denken auf, sobald Erregung ins Spiel kommt. Echt jetzt?
Für mich sind das unreflektiert auf die Bühne geklotzte männliche Projektionen.
Ich hab da gesessen und mit jeder Minute mehr gemerkt, wie leid ich es bin, selbstgerechten weißen prä-impotenten Männern dabei zuzusehen, wie sie einen Freiheitsbegriff feiern, der im Wesentlichen darin besteht, sich mit Alkohol zuzudröhnen, mit Bierdosen um sich zu schmeißen und wenn der Drang kommt lustvoll gegen die nächstgelegene Birke zu pissen.
Was ich gesehen habe, war ein arg in die Jahre gekommener Text aus dem Jahr 2009, inszeniert als hätte es gesellschaftliche Aufbrüche wie #metoo, Feminismus und Inklusion nie gegeben. Ich versteh gut, dass Butterworth offenbar nicht viel daran liegt/lag, in übersetzt auf die Bühne zu kriegen. Zumal sein eigener Beitrag zu #metoo ein offener Brief an Harvey Weinstein war, in dem er dessen Machtmissbrauch angreift und sich klar auf die Seite der Frauen schlägt. Wahrscheinlich ist Butterworth das Haltbarkeitsdatum seines Textes selbst bewusst, vielleicht weiß er auch wie sehr er mit seinen aus der Zeit gefallenen Figuren und der realistischen Fabel hinter die Errungenschaften des Blood&Sperm Theatres einer Sarah Kane zurückfällt.
Sehr viel mehr gibt dieser Abend leider nicht her.
Grau ist alle Theorie. Aus der Ferne läßt sich trefflich über etwas Ungesehenes fabulieren. Das tun Sie aber glaube ich öfter, ist aber auch nicht weiter schlimm.
Aber hier werfen Sie mit allen verfügbaren Theaterhülsen um sich.
Theater muß nicht zwingend aufregen, wo steht das? Theater muß auch nicht die Wirklichkeit abbilden, kann es aber. Theater muß nicht polarisieren, aber wenn Menschen darüber diskutieren - um so besser. Aber die Welt, auch die Theaterwelt hat sich verändert. Ich weiß nicht, ob Sie tatsächlich, in der guten alten Zeit, wie Sie es nennen, irgendeinen der von Ihnen angeführten "Theaterskandale" je gesehen oder miterlebt haben. Ich ja. Und ich kann Ihnen sagen, aus der heutigen Sicht und bei der heutigen Weltlage sind das noch nicht einmal Skandälchen gewesen. Womit wir beim Thema wären. Dieser Abend am Staatstheater Augsburg vermittelt ein Frauenbild, welches unter aller Sau ist. (Das Männerbild übrigens auch ) Und wenn Menschen darüber diskutieren ist es der größte Trugschluß zu glauben, das Theater hat alles richtig gemacht. In dieser Zeit einer MeToo Debatte, die ja schon wieder sehr schön in Vergessenheit zu geraten droht, in dieser Zeit der Weinsteins, Wedels, R.Kellys, James Levines und Kevin Spaceys ( beliebig fortsetzbar ), muß auch das Theater, welches in der Vergangenheit, auch der jüngsten, mit derlei Themen in die Schlagzeilen geraten ist, sich darüber Gedanken machen, wie die Weltlage, auch die gesellschaftspolitische,sich rasant verändert. Und nicht ein so hoffnungslos veraltetes Stück ungefiltert auf die Bühne bringen.
Zur Kritik: schon geschrieben, klingt gleich noch viel egozentrischer wenn man auf dem Holzweg ist - Bravo!