Auf Abstand

28. Mai 2023. Yana Eva Thönnes hat gemeinsam mit Jovana Reisinger deren Roman "Spitzenreiterinnen" für die Münchner Residenztheater-Bühne im Marstall adaptiert. Mit einem Computerspiel-Setting schafft sie die nötige Distanz zum Grauen.

Von Martin Jost

"Spitzenreiterinnen" am Residenztheater München © Birgit Hupfeld

28. Mai 2023. Ein paar Mal geht eine Figur auf Distanz zu ihrer Rolle und sagt, sie möchte das jetzt lieber nicht weiterspielen. Das funktioniert, weil die Inszenierung von einem Computerspiel eingerahmt wird. Bei ihrem ersten Auftritt kommen die vier Schauspielerinnen in weißen Bademänteln auf die Bühne wie zu einer Wellness-Behandlung. Jede stellt sich vor einen großen Monitor und wählt eine Figur aus, deren Geschichte sie durchspielen wird. Jetzt erst wechseln sie in individuelle Kostüme. Die Figuren heißen Tina oder Jolie oder Lisa oder Laura oder Barbara – alle Namen sind Frauenzeitschrifttiteln entlehnt.

Eine Übung in Distanzierung

"Ich mag das jetzt auch nicht mehr weiterspielen, ich finde das saublöd", sagt zum Beispiel Brigitte Hobmeier als Lisa an einer Stelle. Die Bühnenadaption des Romans "Spitzenreiterinnen", die Autorin Jovana Reisinger mit der Regisseurin Yana Eva Thönnes erstellt hat, ist eine Übung in Distanzierung – Abstand vom Patriarchat und von frauenfeindlichen Strukturen, Distanz zu Realismus, Sicherheitsabstand zu Gewalt.

Spitzenreiterinnen1 Birgit Hupfeld uFrauen auf Distanz zur Rolle: Hanna Scheibe, Vassilissa Reznikoff, Carolin Conrad, Brigitte Hobmeier © Birgit Hupfeld

Denn davon erzählt Reisingers Roman in vielen Variationen. Mal ehrlich, wer will diese Erlebnisse auch zu nah an sich heranlassen? Lisa (Hobmeier) wird von ihrem Mann verlassen und noch dazu von der Schwiegermutter beschimpft, weil sie wiederholte Fehlgeburten hatte. Jolie wird von Männern belästigt und von ihrer Chefin gedemütigt. Barbara (Hanna Scheibe) genießt das Witwendasein, obwohl sie immer noch die Stimme ihres motzenden Mannes hört. Laura (Vassilissa Reznikoff) plant eine Traumhochzeit und kann es gar nicht erwarten, ihrem Mann als perfektes ehefräuliches Objekt zur Verfügung zu stehen. Und der Mann von Tina (Carolin Conrad) misshandelt sie schwer seelisch und körperlich.

Das ist alles nur gespielt

Wir vergessen zu keiner Zeit, dass wir nur einem Spiel beiwohnen, das die Figuren jederzeit verlassen können. Schon die Bühne ist recht reduziert. In einem Guckkasten sehen wir einen weißen Raum. Im Rund der hinteren Wand stehen sieben Bildschirme. Zusammengeschaltet zeigen sie Videoanimationen von Luis August Krawen, die den Szenen Hintergrund oder Textur geben, aber eindeutig im Sinne einer Videospiel-Grafik. Das einzige Möbel auf Dominic Hubers Bühne ist ein Liegesessel, der wie eine Vulva aussieht.

Kein Requisit ist, was es vorstellt. Telefoniert wird mit Scherzartikel-Schleim, eine Maske wird zum Einkaufskörbchen. Neongrüne Knete gibt das Steak, mit dem Barbara den zugelaufenen Spitz füttert. Der Hund selbst ist nur ein Soundeffekt. Und die Meeresfrüchteplatte im schicken Restaurant sieht aus wie roter Wackelpudding, mit dem Lisa ziemlich herumschweint. Zusammen mit den Kostümen von Belle Santos ergibt das einen ziemlich poppigen Plastik-Look.

Ein Mann springt ein

Auch das Schauspiel ist ein Als-ob. In fast allen Szenen spielen die Schauspieler:innen allein. Die Stimme ihres unsichtbaren Gegenübers übernehmen sie entweder selbst mit oder eine:r der umstehenden Kolleg:innen steuert sie bei, ohne weiter in die Interaktion zu gehen. Diejenigen, die gerade nicht im Mittelpunkt stehen, tragen meist Masken – schwer zu erkennen, wer überhaupt spricht. Alle sind mit Headset-Mikrofonen ausgestattet. Das hat zwei Vorteile: Erstens verstehen wir sie auch, wenn der Soundtrack aus Musikschleifen (Musik: Nile Koetting) mal etwas zu laut wird. Zweitens kann die Tontechnik die Stimmen verfremden, so dass die Schauspielerinnen zugleich männlich und dämonisch klingen, wenn sie den Part ihres unsichtbaren Gegenübers sprechen.

Spitzenreiterinnen2 Birgit Hupfeld uIn a Barbie world: Hanna Scheibe, Max Mayer, Carolin Conrad, Brigitte Hobmeier © Birgit Hupfeld

In einer Szene, in der ihr Mann sie fast ermordet, springt Tina mehrmals zum Anfang zurück, um mit einem anderen Verhalten einen anderen Ausgang herbeizuführen. Als sie es nicht mehr aushält, will die Spielerin Tina loswerden. Ausgerechnet ein Mann kommt ihr zu Hilfe: Max Mayer, der bisher ein fast stummer Diener war und schon einige Sauereien aufgewischt hat, nimmt ihr die Rolle bis zum Schluss ab.

Mit Drall zum Wahnsinn

Wer sind die Figuren, die die Rollen in diesem Computerspiel übernehmen und immer wieder mit ihnen fremdeln? Wir erfahren es nicht. Yana Eva Thönnes hat das Gimmick, die Bühnenhandlung in ein Computerspiel einzurahmen, schon vor einem Jahr bei der letzten Performance von "The Agency" angewandt. Wenn die Figuren jedes Mal die Pause-Taste drücken, wenn ihnen etwas zu nahe geht, lesen wir das zwar als Moment, der für die Figur intensiv ist; gleichzeitig hält es uns Zuschauer:innen auf Abstand zum Affekt.

Laura, die sich zur Barbie-Braut selbstoptimiert, und Lisa, die sich als Single neu erfinden muss, sind die Alpha-Figuren des Stücks. Reznikoff beeindruckt dabei durch ihr schnelles Umschalten zwischen der recht schrillen Laura und deren Dialogpartner:innen, Hobmeier durch ihr vollständiges und feines Ausfüllen der Lisa mit ihrem Drall zum Wahnsinn. Beide können in ihren Rollen besonders glänzen, aber sehenswert ist die Leistung des ganzen Ensembles.

Das Ende ist ein offenes. Das bekommt dem Stück gut, denn ein konkreter Ausgang würde die einzelnen Geschichten als Stereotype fixieren. Um es mit Tina zu sagen: "Wer am Leben ist, muss weitermachen."

 

Spitzenreiterinnen
nach dem gleichnamigen Roman von Jovana Reisinger
für die Bühne bearbeitet von Jovana Reisinger und Yana Eva Thönnes
Inszenierung: Yana Eva Thönnes, Bühne: Dominic Huber, Kostüme: Belle Santos, Musik: Nile Koetting, Video: Luis August Krawen, Licht: Barbara Westernach, Dramaturgie: Katrin Michaels.
Mit: Carolin Conrad, Brigitte Hobmeier, Max Mayer, Vassilissa Reznikoff, Hanna Scheibe.
Premiere am 27. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

residenztheater.de

 

Kritienrundschau

Das „Knaller-Ensemble“ spiele mühelos auf der Grenze zwischen Komödie und Drama, schreibt Christiane Lutz von der Süddeutschen Zeitung (28.5.2023). Doch man komme ins Grübeln: "Sind Frauen aus den hier erzählten Kreisen – gebildet, mittelständisch, gesund – wirklich noch derart unfrei? Sind sie, literarische Zuspitzung in Ehren, wirklich ausschließlich und allesamt Produkte patriarchaler und sexistischer Strukturen, für sich selbst nicht erkennbar vor lauter Erwartung von außen, wie hier dargestellt?“ Die Kritikerin verlässt das Theater begeistert vom Schauspielerinnenspiel, aber auch etwas ratlos.

"Kritik am Patriarchat formulieren der Roman und die Inszenierung nachdrücklich, aber ohne Verbissenheit oder schrille Töne. Über gesellschaftliche Tabus wie Fehlgeburten und die Menstruation wird offen und ohne Peinlichkeit gesprochen", schreibt Robert Braunmüller von der Abendzeitung (29.5.2023). Die Produktion habe alles, was zu einem perfekten Theaterabend gehöre: "exzellent gespielte gegenwärtige Figuren mit heutigen und durchaus nicht abgehobenen Problemen, die ohne Überheblichkeit dargestellt werden, eine unterhaltsame Leichtigkeit und ein Bewusstsein für ungelöste Probleme in wohl jeder Partnerschaft".

Barbara Reitter vom Donaukurier (30.5.2023) fühlte sich bestens unterhalten. "Dass es zwischen den einzelnen Akteurinnen relativ wenig Kontakt gibt, da sie meist Monologe halten, ist in dieser Aufführung ein kleiner Schönheitsfehler. Aber gibt auch den vier exzellenten Schauspielerinnen Raum zu hochkomödiantischen Solo-Nummern."

 

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