Besichtigung des Prekariats

7. Oktober 2023. Werner Schwabs Theatertexte packen sprachlich bitterböse zu, sind lyrisch und vulgär. Verlegt wurden sie unter dem selbstgewählten Oberbegriff der "Fäkaliendramen". Eine Überforderung für Inszenierende? Rieke Süßkow findet eine überzeugende Form für Schwabs frühes Stück "Übergewicht, unwichtig: Unform".

Von Wolfgang Reitzammer

Rieke Süßkow inszeniert in Nürnberg Werner Schwabs "Übergewicht, unwichtig: Unform" © Konrad Fersterer

7. Oktober 2023. Der eine oder andere kennt vielleicht aus eigenem Erleben jene gastronomischen Absturz-Zentren, jene "Fundbüros", in denen sich – nach einem Zitat von André Heller – die Verlorenen selber abgeben. So eine Kneipe ist der Schauplatz von Werner Schwabs Sozialdrama "Übergewicht, unwichtig: Unform", das 1991 in Wien uraufgeführt und nun zum Saison-Auftakt des Nürnberger Staatstheaters von Rieke Süßkow höchst originell in Szene gesetzt wurde.

Süßkow gehört zu den aktuellen Shootingstars im Regiefach und wurde vor kurzem zur Nachwuchsregisseurin des Jahres 2023 gekürt. Auch ihre Österreich-Prüfung hat sie mit Bravour absolviert: Am Wiener Burgtheater war sie verantwortlich für die Uraufführung von Peter Handkes "Zwiegespräch" und wurde mit dieser Produktion zum Berliner Theaterreffen 2023 eingeladen.

Dreck aus einem unbekannten Alltag

Die Texte des Autors Werner Schwab (1958–1994), den man mit Peter Handke und Wolfgang Bauer einer literarischen Dreierkette des Sturm (und Drang) Graz zuordnen könnte, stellen wohl jede Inszenierung vor grundsätzliche Probleme. Im Gegensatz zum frühen Handke ist sein Anliegen nicht die Beschimpfung des Theaterpublikums, er wirft den Zuschauern unkommentiert "Fäkalien" aus einem unbekannten (oder verdrängten) Alltag vor die Füße.

Der oft sinnfreie Trash-Talk in "Übergewicht, unwichtig: Unform", das alkoholisierte Philosophieren und die gegenseitigen Beleidigungen von Jürgen, Schweindi, Hasi, Karli, Herta, Fotzi und der Wirtin transportieren jene typische Schwab-Sprache, vom Autor selbst als "unreiner Dreck" bezeichnet. Er besorgt Klarheit, aber keine Einsicht. Insgesamt erinnert das Schwab-isch an die Sprach-Kritik eines Ödön von Horvath, der in vielen seiner Stücke den sinnentleerten Bildungsjargon, die Spießer-Mentalität und die Dummheit des Kleinbürgertums karikierte.

Opto-akustische Operation am Text

Regisseurin Süßkow wagt in Nürnberg eine mutige, vollkommen erfolgreiche (nicht nur kosmetische) Operation am Text von Werner Schwab. Sie stellt die neun Personen in Reihe auf wie in einer Oktoberfest-Kirmesbude und lässt sie nach einer strengen Choreografie als präzise Marionetten eines Figurentheaters agieren. Die Schauspieler:innen stecken in fleischfarbenen Ganzkörpermasken mit vorgeschnallten Plastik-Körperteilen – zwangsläufig auch primären Geschlechtsorganen (Kostüme: Sabrina Bosshard) – und bewegen sich mechanisch zu einer stimmigen Geräuschkulisse (Sounds: Philipp C. Mayer).

Uebergewicht 4 Konrad FerstererPuppen-Personal probt philosophisches Pub-Palaver: vier von sieben Spieler:innen aus Süßkows Schwab-Ensemble © Konrad Fersterer

Man hört Schmatzen, Knirschen, Schläge, dazu die Sounds eines Flipper-Automaten und natürlich Schlagerfetzen aus der Musikbox. Gefasst wird die Szenerie von einem beweglichen, breit-wulstigen Bilderrahmen, der unterschiedliche Bereiche der Bühne freigibt (Bühne: Mirjam Stängl). Da die Interaktion der sieben Kneipen-Stammgäste immer wieder an Aggression und Sexualität orientiert ist, kommt es vereinzelt zum Schlagabtausch, die aber, ähnlich wie in Herbert Fritschs Inszenierungen, vom verdeckten Trampolin aufgefangen werden: Das Prekariat als Stehaufmännchen und -frauchen!

Zivilisationsbruch in stilisiertem Ambiente

In diesem stilisierten Ambiente erhalten die Monologe und Dialoge aus Schwabs frühem Stück eine neue Qualität. Dort geht es nicht nur um einen Blick auf kaputte Existenzen. Als Gegenspieler tritt das schöne Paar auf: "die da oben" sind attraktiv, geschmackvoll gestylt, auf sich selbst bezogen. Als Karli die unbekannten Wirtshaus-Nachbarn auf einen Obstler einlädt, löst die Ablehnung Aggressionen aus ("niederträchtige Menschen", "Kriegsverbrecher"). Es kommt zum Eklat, mit Ohrfeigen, Zu-Boden-Reißen und ansatzweiser Vergewaltigung. Diesen auch kannibalistischen Sturz aus der Zivilisation zeigt die Inszenierung verfremdet als zeitlupenhaftes Abendmahl, untermalt von Countertenor-Gesängen (Matthias Luckey).

Uebergewicht 3 Konrad FerstererGuckkasten für Groteskes © Konrad Fersterer

Schließlich setzt die "Handlung" mit wiederholter Einleitung zu einem neuen Schluss an: das wiederbelebte Paar amüsiert sich über die Stammgäste als primitive, einfache Menschen, sieht das Kneipengeschehen als eine Art Theater, als eine Darstellung des echten Volkes, zu dem man ein berührendes Drehbuch schreiben könnte. So wird das Stück zu einer Studie über Voyeurismus, die auch die Zuschauer im Theater quasi als Besucher eines Gesellschafts-Zoos mi einbezieht: "Schauen wir uns mal dieses Prekariat genauer an!"

Sükow gelingt ein punktgenaues Gesamtkunstwerk, mit Bildern, die einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen. Das Ensemble (in dem sich einige Neuzugänge für das Nürnberger Staatstheater verbargen) funktioniert einwandfrei als Kollektiv. Und die Warnung des Staatstheaters ("geeignet ab 18 Jahren") ist eigentlich überflüssig: die Auseinandersetzung mit solch einer stilisierten Vulgarität kann auch Jugendlichen nicht schaden.

 

Übergewicht, unwichtig: Unform
von Werner Schwab
Regie: Rieke Süßkow, Bühne: Mirjam Stängl, Kostüme: Sabine Bosshard, Musik: Philipp C. Mayer, Licht: Paul Grilj, Dramaturgie: Klaus Missbach, Trampolintrainer: Yannick Meier.
Mit: Julia Bartolome, Soheil Boroumand, Joshua Kiefert, Katharina Kurschat, Matthias Luckey, Elina Schkolnik, Pola Jane O'Mara, Sascha Tuxhorn, Sasha Weis.
Premiere am 6. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de


Kritikenrundschau

"Bei Süßkow macht sich die vermeintlich bessere Gesellschaft nicht erst im zweiten Teil über die da unten lustig, sondern schon im ersten. Das ist eine clevere Wendung, damit spitzt die Regisseurin Schwabs Text noch einmal bitterböse zu, bevor das große Fressen seinen Lauf nehmen kann", schreibt Yvonne Poppek in der Süddeutschen Zeitung (9.10.2023). Die Idee der Inszenierung stoße an ihre mechanischen Grenzen. "Doch bevor es penetrant wird, hört der Abend auf, Süßkow hat klug verdichtet. Am Ende fühlt man sich wie aus einem Flipperautomaten entlassen, aus einem harten, grellen Spiel."

Rieke Süßkow mache aus dem Stück "einen Kreislauf des geschmacklos absurden Seins, mechanisch abgespult", schreibt Wolf Ebersberger in der Nürnberger Zeitung und den Nürnberger Nachrichten (9.10.2023). "Eine Idee, die sie mit ihrem Team spektakulär umsetzt - und die aus dem Werk mit dem sperrigen Titel (...) eine ziemlich schlanke, spitze Sache macht, nur knapp 80 Minuten lang: ein Messer im Bauch des Zuschauers, wenn man so will, einen Witz als tödliche Stimmungswaffe, blitzscharf in gnadenloser Satire". "Grandios inszeniert, ja choreografiert und von den neun Schauspielern wie Julia Bartolome und Sascha Tuxhorn sozusagen selbstlos verkörpert" sei der Abend "grelles Kasperletheater für Erwachsene, ein Comic-Porno zum Laut- und Totlachen." In der monströsen Entstellung finde auch Schwabs "eklatante Sprache" (...) ihre "genialische Verstärkung". "Ja, das tut weh."

Kommentare  
Übergewicht unwichtig, Nürnberg: Spass und Unbehagen
Noch kein Kommentar? Es ist wirklich ein Riesenspass, die 66 Minuten, und eine tolle (Timing) Leistung des Ensembles und der Technik. Es dauert keine Minute zu kurz oder zu lang … „Bauer sucht Frau“ … gut: Schwab hat eine sehr andere (Kunst)Sprache … Dennoch: ein merkwürdiges Gefühl, dass wir keine Chance haben, keine zynischen Voyeure zu sein, wenn wir es mit Spass anschauen … vielleicht hat noch jemand dieses Unbehagen …
Übergewicht, unwichtig, ... Nürnberg: Vereinnahmung
Eine (es war nur eine!) Regie-Idee feiert sich selbst und nimmt die Spielenden in formale Geiselhaft. Die Form ist nach einigen Minuten auserzählt, aber der Soundtrack schmatzt beharrlich weiter. Die Menschen, denen Schwab in seinen Texten nachspürte, hatten immerhin noch so etwas wie eine Restwürde... die scheint aber völlig egal.
Was mich am meisten nervt, ist die behauptete Vereinnahmung des Klassismus-Themas / Spielzeitmottos: Wenn eine Produktion nun wirklich überhaupt kein Interesse an sozialen Fragen hat, dann diese!
Übergewicht unwichtig, Nürnberg: Fingerübung
Die Schauspieler sind wie Schießbudenfiguren auf einer Jahrmarktsbuden-Guckkasten-Bühne von Mirjam Stängl aufgereiht. Die Individualität der einzelnen Spieler des Ensembles verschwindet völlig hinter den Strumpfmasken und quietschbunt aufgepolsterten Kostümen von Sabine Bosshard. Die Marionettenhaftigkeit dieser Witzfiguren, die im Kneipensuff hängengeblieben sind, wird in Rieke Süßkows Inszenierung bei jeder kleinsten Bewegung überbetont. Genauso mechanisch dudelt die Jukebox-Musik (Philipp C. Mayer).

Die eine Idee, die Schwab-Figuren in eine überstilisierte Comic-Ästhetik zu überführen, zieht das Quartett konsequent durch. Den loopverliebten Geschmack der Theatertreffen-Jury treffen sie damit. Mehr als 45 Minuten kann die Kunstfertigkeit dieser Fingerübung nicht tragen, zu dünn ist die eine Konzeptidee des 66minütigen Schwab-Comic-Abends.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/08/uebergewicht-unwichtig-unform-staatstheater-nuernberg-kritik/
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