Gegen Mauern sprechen

28. Oktober 2023. Von Umbruchszeiten erzählt Sasha Marianna Salzmann. Und davon, wie sich historische Ereignisse – der Holodomor, das Ende der Sowjetunion – über Generationen auf individuelle Lebensgeschichten auswirken. Mit bewährten Mitteln bringt Sebastian Nübling den Roman ans Gorki.

Von Simone Kaempf

"Im Menschen muss alles herrlich sein" am Maxim Gorki Theater Berlin © Ute Langkafel MAIFOTO

28. Oktober 2023. Eigentlich schlägt Sasha Marianna Salzmanns Roman den ganz großen Bogen. Von der tiefsten Sowjetunion zur Perestroika bis in die Gegenwart. Es gibt die Mütter, die als Kind den Holodomor überlebten. Deren Töchter nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs vor dem Chaos in den Westen flüchteten. Und eine Enkelinnen-Generation, die es zurückzieht auf Recherche in die Ukraine oder nachts ins Internet, um nachzulesen, wie es damals war und wie alles zusammenfallen konnte. Vier Frauen, zwei Mutter-Tochter-Linien, alle eng verbunden durch ihre familiäre Geschichte und gleichzeitig getrennt bis zur Unversöhnlichkeit.

Ironische Generalkritik

Verlässlich wirkt es, dass Salzmanns Roman nun auch am Maxim Gorki Theater inszeniert wird, nach den Premieren unter anderem am Thalia Theater Hamburg oder den Münchner Kammerspielen. Der Stoff passt ans Haus, mit all dem Nachhall der wendungsreichen Geschichte, den detaillierten Beschreibungen der inneren Verwerfungen und Verteidigungen nach außen. Und auch Sebastian Nübling, fester Regisseur am Gorki seit Jahren, bleibt sich an diesem Abend treu: Vier starke Spielerinnen holt er auf der Bühne, die beherzt Klischees repräsentieren wie sentimentale Töne einlegen.

Zu grooviger Musik schlendern sie auf die Bühne und suggerieren Autofiktion: Sie seien die realen Personen, die von Sasha Marianna Salzmann interviewt wurden. Aber hey, "sobald ich in Deutschland angekommen bin, existiere ich im Roman nicht mehr", beschwert sich Çiğdem Teke als Lena. "Und ich bin schon seit einigen Jahren in Berlin, aber davon ist keine Rede", so Yanina Cerón als ihre Tochter Edita. Gleich zu Beginn erstmal ironische Generalkritik zu äußern, ist überraschend und ein guter Kniff, um sich von der Vorlage zu lösen. Die Inszenierung schafft in der Hinsicht Gerechtigkeit und lässt allen gleich viel Raum.

Bloß keine Jammerlappen

Wenn Çiğdem Teke als Lena erzählt, wie ihr die Mutter zum Medizin-Studium verhilft, mit Bestechungen, Geldkuverts für den Leiter des Provinzkrankenhauses, und nach der Perestroika die Businessmänner ihre Freundinnen zur Behandlung bringen, erzählt das von den alltäglichen Abschleifungen. Aber Kampfgeist bleibt und eine Mischung aus Rest-Glamour und Pragmatismus, mit der Teke ihre Figur spielt. Jede zirkelt hier einen Typus ab.

ImMenschen 1 Ute Langkafel MAIFOTO uFrauen vor historischem Hintergrund: Anastasia Gubareva, Lea Dreager © Ute Langkafel MAIFOTO

Lea Draegers Nina, die sich vorstellt als Gamerin im Internet, scheint selbst einem Videospiel entsprungen mit blauen Haaren und Manga-Styling. Yanina Cerón als Lenas Tochter Edita weist erheblich mehr Streetcredibility auf und trägt die größte Wut in sich, auf die Familie allemal, all die "Perestroika-geschädigten Jammerlappen", mit denen sie keinesfalls ein Wochenende verbringen will und im Zorn eine Wand eintritt.

Eine ganz eigene Körpersprache verleiht Anastasia Gubareva ihrer Tatiana. Man schaut ihr besonders gerne zu. Wenn sie erzählt, wie sie im Deutschland der Neunzigerjahre ankam, "einst mutig, jetzt nur noch schwanger", dann wechselt sie vom Tänzeln ins Stampfen. Sie klagt und singt samtweiche Lieder, trägt ein Glitzerkleid völlig aus der Mode. Und beteuert die Wichtigkeit, nicht den Erinnerungen nachzuhängen. Vier Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die ins Publikum sprechen statt zueinander und doch gegen die ureigene Sprachlosigkeit anreden, die zwischen ihnen steht.

Happy End mit Ansage

Im Roman ist einmal von einem nächtlichen Traum die Rede, mit einer Gruppe von Menschen, aber Mütter und Töchter, man erkennt sie kaum, sehen sie doch aneinander vorbei. Nübling überträgt das leitmotivisch auf die Inszenierung, so stark, dass man eher an eine zusammengewürfelte Gruppe von Freundinnen als an Familie denkt. Man fragt sich immer mehr, was die vier überhaupt verbindet. Nach der anfänglichen Selbstironie übernehmen die melancholischen Töne. Das funktioniert zwar. Aber nach dem starken Anfang verliert der Abend an Power.

ImMenschen 2 Ute Langkafel MAIFOTO uVier-Frauen-Panorama: Anastasia Gubareva, Lea Draeger, Çiğdem Teke, Yanina Cerón © Ute Langkafel MAIFOTO

Mauern stehen zwischen ihnen. Als solle wirklich keiner daran zweifeln, wird immer wieder der Eiserne Vorhang heruntergelassen. Wenn Tatiana von der Ankunft in Deutschland erzählt, geht er runter und schnappt zu wie eine Falle. Als von der Großmutter die Rede ist, die aus einer ganz anderen Zeit kam, fährt die Wand runter. Mal wird sie auch eingetreten oder von Çiğdem Teke fluchend hochgestemmt. Und dann entpuppt sich die so eisern wirkende Wand aus Papier, das von einem Regenguss in null Komma nichts aufgelöst ist. Im Bühnenhintergrund hocken die vier im Kreis und man meint, sie schauen sich das erste Mal gegenseitig an. Ein Happy End mit Ansage, Gemeinschaft ist möglich, in einer Inszenierung, die viel rausholt aus dem Roman, auch ohne in den großen historischen Bogen einzustimmen.

 

Im Menschen muss alles herrlich sein

nach Sasha Marianna Salzmann

Fassung von Sebastian Nübling, Valerie Göhring & Ensemble

Regie: Sebastian Nübling, Bühne und Kostüme: Evi Bauer, Musik: Jackie Poloni, Dramaturgie: Valerie Göhring.
Mit: Yanina Cerón, Lea Draeger, Anastasia Gubareva, Çiğdem Teke.
Premiere am 27. Oktober 2023 

Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.gorki.de


Mehr dazu: Hier entlang zu unserer Besprechung des Romans von Sascha Marianna Salzmanns "Im Menschen muss alles herrlich sein".

Kritikenrundschau

"Gut möglich, dass Sebastian Nüblings Gorki-Variante die bis dato minimalistischste ist", schreibt Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (30.10.2023). Die Idee, auf der diese Adaption beruht, findet die Kritikerin "ziemlich clever": dass nämlich zu Beginn des Abends sich die vier Hauptfiguren erst mal aus dem Roman befreien und zu realen Figuren werden müssen. So unterläuft der Regisseur aus ihrer Sicht charmant alle Bebilderungserwartungen. Die Bühne von Evi Bauer schafft darüberhinaus die Voraussetzungen, andere Bilder zu erschaffen: für Sprachlosigkeit oder die Grenzen zwischen den Systemen.

"Was im Roman ausufert, hat Sebastian Nübling auf der Bühne in ein rasantes Generationen-Pingpong kondensiert, bei dem ein genial seinen Aggregatzustand ändernder Eiserner Vorhang die Hauptrolle spielt", urteilt Doris Meierhenrich in ihrer Doppelkritik mit dem DT-Abend "Der Auftrag/Psyche 17" in der Berliner Zeitung (30.10.23). Ihr Fazit: "Trotz aller Dunkelheit ein entwaffnend leichter, zukunftsheller Abend."

Die Inszenierung sei "rasant, überraschend unterhaltsam", und sie erzähle "in kurzer Zeit erstaunlich viel", urteilt Katrin Bettina Müller in der taz (30.10.2023). Viele Figuren blieben "zwar unerzählt", und szenisch würden "die Episoden des Romans fast gar nicht umgesetzt", aber dennoch enthalte der Abend "eine Lektion Geschichte, die so spannend ist, weil die Figuren uns schnell nahe kommen." Was die Inszenierung "etwas vermissen" lasse, sei "ein Wechsel des Rhythmus, eine Zäsur im rasenden Erzähltempo". Einige Episoden, wie die aus der "Fleichwolfzeit" nach dem Ende der Sowjetunion, könnten mehr Raum vertragen. "Die Perspektive bleibt immer nahe an den Figuren", so die Kritikerin, "und manchmal täte mehr Abstand gut."

Keinen perfekten, aber doch einen "sehr menschlichen" Abend "über das Leben in einer Welt in Auflösung, Migration und die Sprachlosigkeit zwischen Generationen" hat Georg Kasch für die Berliner Morgenpost (29.10.2023, €) gesehen. "Ja, es fehlt viel", urteilt er über Theaterfassung im Vergleich zur Romanvorage. Andererseits umgehe der Abend so "das Problem vieler Romanadaptionen, an der Stofffülle zu scheitern. Nichtsdestotrotz hätte sich der Kritiker mehr von den "einordnenden Momenten" gewünscht, mit denen der Abend angefangen hatte. "Denn von nun an muss man sich in den Monologen zurechtfinden, die das Regieteam teils wild aneinander montiert, zumal es nur Kerninformationen auf die Bühne schaffen, während Salzmanns sinnliche Beobachtungen wegfallen." Es seien "die kurzen Begegnungen mit den und Kommentare der anderen, die zeigen, was eine Theaterversion dem Buch voraushaben könnte."

Oft seien Theaterabende "viel zu lang und gähnend langweilig", äußert Frank Dietschreit im RBB (28.10.23). Dagegen sei dieser viel zu kurz: "Ein Universum an Gedanken und Gefühlen wird eröffnet, in dem man gern noch mehr Zeit verbracht hätte", so der Kritiker. Sebastian Nübling schaffe es, "den 385 Seiten starken Roman radikal einzudampfen, die verschachtelte Geschichte, unzähligen Handlungsorte, politische Debatten und Figuren auf ein absolutes Minimum zu reduzieren".

Kommentare  
Im Menschen muss alles herrlich sein, Berlin
Schon bei der Hamburger Uraufführung wurde deutlich, wie schwer es ist, eine Spielfassung aus diesem Roman zu destillieren. Die knapp 400 Seiten bestehen vor allem aus Monologen. Salzmanns zentrales Thema ist die Sprachlosigkeit der vier Hauptfiguren, die vor allem übereinander und aneinander vorbeireden.

Sebastian Nübling, der am Gorki Theater mit den energiegeladenen Sibylle Berg-Stücken Triumphe feierte, und sein Team reagieren auf diese herausfordernde Situation, indem sie gar nicht erst versuchen, eine wirklich dialogische Fassung zu entwickeln. Die vier Frauen wechseln sich mit wenigen Ausnahmen, in denen sie miteinander sprechen, in Monologen an der Rampe ab. Leitmotivisch senken sich die schweren eisernen Vorhänge auf der von Evi Bauer gestalteten Bühne: sehr plastisch, aber auch ein wenig zu plakativ stehen sie für die Abschottung und Kontaktlosigkeit der Protagonistinnen.

Anastasia Gubareva legt Tatjana als klischeehaft stark geschminkte Ex-Sowjetbürgerin mittleren Alters an und darf ihre tolle Stimme in dem mehrmals eingestreuten „Harlekino“-Ohrwurm von Alla Pugatschowa präsentieren. Yanina Cerón trumpft als girliehafte junge Journalistin und Salzmann-Alter ego Edita auf. Etwas zurückhaltender verkörpern Lea Draeger als Lea, die zweite Vertreterin der jungen Generation, und Çiğdem Teke als Tatjanas Altersgenossin Lena ihre Figuren.

In den 90 Minuten geballter Monologe blitzt zwar ab und zu Salzmanns unbestrittene sprachliche Brillanz auf, aber ein Spielfluss will sich an diesem Premieren-Abend nicht einstellen, obwohl Shermin Langhoff nicht nur einen bewährten Regisseur, sondern auch vier ihrer besten Kräfte an die Rampe schickt.

Die gelungensten Momente dieser etwas zähen Roman-Adaption sind das launige Comedy-Intro, in der die vier Spielerinnen ihre Figuren vorstellen und kopfschüttelnd berichten, dass sich die Roman-Struktur gegen eine Theaterfassung sperrt, sowie der zarte Traum-Monolog von Lea Draeger, der in Schweigen und Dunkelheit ausklingt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/27/im-menschen-muss-alles-herrlich-sein-gorki-theater-kritik/
Im Menschen muss alles..., Berlin: Raubtierwelt der Nach-Sowjetzeit
Nübling inszeniert hier ein Kammerspiel der geschwätzigen Sprachlosigkeit – Edita fragt einmal, ob die Streits mit ihrer Mutter nicht einfach nur Lärm seien – des sich Abkapselns bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Nähe. Doch niemand weiß, wie diese zu erreichen sei in einer Welt, die nur Barrieren kennt (Bühne: Evi Bauer). Und so vererbt sich das Nicht-Verstehen als Routine, als Überlebensmechanismus von Generation zu Generation, von den abwesenden zu denen, die noch da sind. Da klammert sich Lena an die Tochter, schieben sie einander, jedoch ohne sich wahrnehmen zu wollen. Und doch kommt irgendwann Bewegung hinein, werden Blicke ausgetauscht, ergeben sich kurze, flüchtige Momente des Miteinandersprechens. Die wiederum zu Abwehrbewegungen führen. „Das Wesen eines Geheimnisses ist, dass man ahnungslos bleibt, wer sonst noch Bescheid weiß und worüber genau“, zitiert der Abend einmal einen Pressebeitrag Salzmanns. Hier ist alles Geheimnis, ist bekannt, wie man es behält, aber nicht, wie es sich teilen oder gar auflösen lässt. „Perestroika-Geschädigte nennt Edita die Mütter-Generation an einer Stelle. Gefangen in den kollektiven Beschränkungen menschlichen Miteinanders.

Die verschwiegene Geschichte, die Raubtierwelt der Nach-Sowjetzeit: Sie haben Wunden geschlagen, sie haben die, die sie durchlaufen haben, eingeschnürt und mit ihnen die, die nach ihnen kamen, weil sie mit diesen Einzwängungen umgehen müssen. Doch nicht alles ist verloren. Am Ende löst sich der plötzlich papierne Vorhang auf sitzen die vier hinten auf der Bühne im Kreis und reden. Miteinander. Zum ersten Mal. Das Schweigen ist gelöst, das oberflächliche und vielleicht irgendwann auch das tiefergehende. Die Verletzungen und Enttäuschen, die Vorwürfe und das Schweigen liegen auf dem Tisch. Und wenn sie das tun, lassen sie sich vielleicht auch abräumen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2024/01/14/durch-die-wand/
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