Vom Murmelkern des Lebens

20. April 2023. Siebzig Minuten Alltagsgeschehen bringt die US-amerikanische Autorin und Regisseurin Tina Satter beim Festival FIND auf die Bühne. In Berlin ist sie Stammgast: Hier war bereits ihr dokumentarisches Stück "Is This a Room" über die Hausdurchsuchung bei der Whistleblowerin Reality Winner zu sehen, das Satter dann als ihren Debütfilm bei der Berlinale 2023 vorstellte. Nun also: Stepptanz.

Von Gabi Hift

"House of Dance" von Tina Satter beim Festival Internationale Neue Dramatik der Schaubühne Berlin © Gianmarco Bresadola

20. April 2023. Eine erstaunliche Wahl. "House of Dance" von Tina Satter in der Regie der Autorin eröffnet das diesjährige Festival Internationale Neue Dramatik FIND an der Schaubühne. Weder ist das Stück neu – es wurde vor zehn Jahren off Broadway uraufgeführt –, noch eignet es sich als Tusch zum festlichen Auftakt, es ist klein, kurz und unspektakulär. "House of Dance" hat mit keiner der großen Debatten der Gegenwart irgendetwas am Hut. Und vor allem gibt es darin keine Dramatik, es ist ostentativ undramatisch.

Raus aus der Provinz

Wir erleben eine Stunde in einem Steptanzstudio irgendwo in einer Kleinstadt. Mertle, der abgehalfterte Tanzlehrer (Holger Bülow), hat, ebenso wie der auf würdige Art schäbige Tanzsaal, schon bessere Zeiten gesehen. Jo, sein Kompagnon und Pianist (Henri Maximilian Jakobs), ist mit seinem blonden Toupet, dem Schnurrbart, in dem gern etwas hängen bleibt, und dem mürrischen Putzfimmel eine marthalereske Gestalt. Die junge Schülerin Toni (Hêvîn Tekin) ist diejenige, um die sich die beiden in einer Einzelstunde kümmern wollen. Toni will sich auf eine Audition für die "Teenage Tap Dance Road Show" am nächsten Tag vorbereiten. Wenn die sie nehmen, so hofft sie, kann sie endlich raus aus dem Kaff. Und dann ist da noch Gigi (Genija Rykova), die offensichtlich längere Zeit fort war und nun zurück ist, es wohl draußen nicht geschafft hat. Mertle scheint sie von früher zu kennen, irgendetwas muss zwischen ihnen vorgefallen sein.

Diese Art Geschichten – Abgehängte in der hintersten Provinz tun sich zusammen, gründen eine Band, einen Sportverein oder ein Orchester, lernen und trainieren etwas und holen sich damit gemeinsam aus dem Sumpf, während das Publikum mit ihnen mit fiebert – ist zu einem erfolgreichen Genre bei Filmen und Serien geworden. Das Setting von "House of Dance" weckt alle diese Erwartungen – und löst dann absichtlich nichts davon ein. Die privaten Sehnsüchte der Figuren blitzen zwar kurz auf, spielen dann aber keine Rolle. Im Zentrum steht das Steptanzen. Aber auch da gibt es keine Entwicklung, niemand der vier hat auch nur die geringste Chance, sich zum Star zu entwickeln. Es gibt keinen Durchbruch, keine Nummer, die plötzlich zündet und das Publikum mitreißt. Dabei scheinen Figuren und Spieler*innen tänzerisch alles zu geben, was sie können, und das ist nicht wenig. Bei Genija Rykova sogar ziemlich viel.

Antidramatische Versuchsanordnung

Die Schauspieler*innen versuchen nicht, komisches Kapital daraus zu schlagen, dass sie schlechte oder mittelmäßige Tänzer*innen darstellen. Sie nehmen das Tanzen ebenso ernst wie ihre Figuren. Auch wenn sie auf Mertles Ansage, man müsse beim Tanz immer eine Geschichte erzählen, in einer hanebüchenen "Zombies kommen aus einer Gruft"-Impro zusammenfinden, machen sie das mit einer liebenswerten Ernsthaftigkeit. Hêvîn Tekin als Toni erinnert dabei in ihrer tapsigen, welpenmäßigen Freude am Tanz an Greta Gerwig in "Frances Ha", die es auch nicht schafft in der Welt der Profis und trotzdem weitermacht mit dem Tanzen.

house of dance 2 gianmarco bresadolaDie Vier von der Steptanzschule: Hêvîn Tekin, Genija Rykova, Henri Maximilian Jakobs, Holger Bülow ©

Mit dieser Richtung des Indiefilms, dem "Mumblecore", hat das Stück auch stilistisch viel gemeinsam. Das waren kleine, billige Produktionen, die sozusagen seismographisch das Gemurmel aus dem Kern der Existenz aufzeichnen wollten. Dieses Stück von 2013 passt gut in die damalige Zeit. Es ist eine antidramatische Versuchsanordnung in einem Niemandsland. Die Figuren kümmern sich nicht darum, was rund um sie vor sich geht, ihr kleines Tanzstudio ist abgeschottet vom Rest der Welt. Und auch für ihre eigenen Probleme haben sie nicht viel Zeit oder Interesse.

Als Jo Toni auf ihr ständig summendes Handy anspricht: "Du kriegst ja viele Nachichten", antwortet diese lakonisch: "Ja. Ich komme aus einer kaputten Familie", und übt weiter. Mehr werden wir nie drüber erfahren, auch nicht, was zwischen Mertle und Gigi einmal war. In Zeiten, wo es sonst immer um das Aufdecken der Abgründe geht, ist dieses Stück ein verwirrendes kleines Ding. Die Figuren sind eitel und verschroben, sie nehmen die anderen nur aus den Augenwinkeln wahr und werden auch nicht "geöffnet", finden weder eine neue Liebe, noch einen neuen Sinn im Leben, noch kommen sie einander näher. Sie sind aber keineswegs einsam, sie sind eine Gemeinschaft von Praktizierenden, das, was man im Buddhismus eine "Sangha" nennt.

Üben ohne Erfolg im Sinn

Das Programmheft kommt mit den ganz großen philosophischen Fragen daher: Bachelards Text über "Die innerliche Unermesslichkeit" und Jean-Luc Nancys "Ausdehnung der Seele". Und tatsächlich weht ein Hauch davon von der Bühne, klackert der vertrackte Stolperrhythmus des Lebens unter den Schuhen der Spielerinnen. Überall auf der Welt gibt es Gruppen von Menschen, die gemeinsam eine Kunstform ausüben, ganz ohne Chance, jemals zum Star zu werden. Sie könnten nicht so einfach erklären, warum es sie drängt, das zu tun. Und es ist ja auch mysteriös, denn keiner der Antriebe, die man sonst so kennt: Suche nach Freundschaft oder Liebe, nach Sicherheit für die eigene Familie, nach Anerkennung und Aufstieg in der Gemeinschaft, danach, für andere nützlich zu sein – nichts davon trifft als Antrieb für dieses gemeinsame Üben zu. Und doch scheint es für viele eine Notwendigkeit zu sein. Es heißt ja immer, Zen sei weder Philosophie noch Religion, sondern eine Praxis. Solchen Praktizierenden kann man hier eine Stunde lang zusehen – und man wird sie nur verstehen, wenn das Verlangen zu üben auf einen überspringt.

Viele Zuschauer*innen werden denken: Das kann doch nicht alles gewesen sein, das bisschen Steppen und Singerei, das muss doch noch irgendwo hingehen! Andere allerdings kann man dabei beobachten, wie sie auf dem Weg zu den Garderobenschränken der Schaubühne ein paar Steppschritte ausprobieren und überlegen, ob das was für sie wäre.

 

House of Dance
von Tina Satter

Aus dem Englischen von Gerhild Steinbuch

Regie: Tina Satter, Bühne: Parker Lutz, Kostüme: Enver Chakartash, Musik und Sounddesign: Chris Giarmo, Dramaturgie: Bettina Ehrlich, Licht: Erich Schneider.
Mit: Holger Bülow, Henri Maximilian Jakobs, Genija Rykova, Hêvîn Tekin.
Deutschsprachige Premiere am 19. April 2023
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Mehr zum Thema:
Hier lesen Sie den Festivalbericht über das FIND-Festival 2023.

 

Kritikenrundschau

"Grundzäh" sei die Stimmung in dieser Stepptanz-Schule wie leider auch das Gesamte dieser Arbeit von Tina Satter, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (20.4.2023). "Schon klar: Hier soll sich augenscheinlich nichts einlösen, nichts aufklären, es handelt sich um Anti-Traumfabrik-Theater, das offenbar sein will wie das Dasein selbst. (...) Aber Konzept hin oder her: Für Figuren, die keine Geschichte entwickeln, fällt es schwer, Interesse aufzubringen."

Genau wie der Stepptanz seien die Illusionen, um die es an diesem Abend ginge, nicht nur "unrealistisch und irrelevant", sondern ebenso "längst aus der Mode", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (20.4.23). Abgesehen davon trage der Abend auch handwerklich nicht. Den Schauspielern bleibe nichts anderes übrig, "als die Träume ihrer Figuren zu ironisieren und ihre Lebenswelt zu denunzieren", urteilt der Kritiker und konstatiert: "Ein Abend, dessen Grundsituation dermaßen unglaubwürdig ist, kann weder durch ulkige Kostüme, sonstige Spaßmaßnahmen oder einen aufwendigen Soundtrack gerettet werden. Die einzige Emotion, die es zuverlässig über die Rampe schafft, ist die Fremdscham."

Von einem "verstolperten Start" ins FIND-Festival berichtet Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (21.4.23, €) angesichts des Tina-Satter-Abends. Nach dieser "75-minütigen Fingerübung" reibe man sich etwas verwundert die Augen: "Das soll ein ganzes Stück sein, übersetzt von der preisgekrönten Dramatikerin Gerhild Steinbuch?" Gut möglich, dass "der spröde Humor heftiger zünde in einer Kultur, in der die Weltflucht in den Showglanz stärker verankert" sei, räumt der Kritiker ein. "Aber um eine Stufe an Witz wie an Verzweiflung zu erreichen, die einen berührt oder erschüttert, fehlt es diesem Abend an Genauigkeit und Schärfe.

"Die Stepptanzübungen geben der Erzählung eigentlich einen Rhythmus vor, teils lehnen sich die Episoden auch an an den Versuch, mit Tanzschritten eine Geschichte zu bauen", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (23.4.2023). "Aber am Ende hat man als Zuschauer das Gefühl, mit ebenso leeren Händen herauszukommen wie Schülerin und Tanzlehrer."

Kommentare  
House of Dance, Berlin: Hörtipp
Eine ganze Stunde gab es Berichte vom F.I.N.D. Auf rbb kultur:

https://www.rbb-online.de/rbbkultur/radio/programm/schema/sendungen/sondersendung/archiv/20230421_1900.html
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