Jetzt sprechen die Toten

27. April 2023. Die Wooster Group beschwört eine Legende des europäischen Theaters. Eine Produktion aus Oslo spritzt fröhlich mit Blut. Es könnte alles so schön sein beim Festival für Internationale Dramatik. Wäre nicht eine Inszenierung zutiefst reaktionär.

Von Gabi Hift

"A Pink Chair" von "The Wooster Group" © Steve Gunther

27. April 2023. Kann sich denn internationale neue Dramatik, die traditionell jedes Jahr auf dem FIND Festival präsentiert wird, überhaupt mit etwas anderem beschäftigen als mit den welterschütternden großen politischen Ereignissen? Dem Ukrainekrieg, der Revolution im Iran, der Klimakatastrophe? Oder müsste sie sich im Gegenteil dagegen wehren, dass alle zweckfreie Kunstanstrengung von der politischen Entwicklung erstickt wird? Das diesjährige FIND Festival verweigert eine Antwort auf diese Frage und hat deshalb diesmal keinen einheitlichen Grundgedanken.

Es finden sich Produktionen, die ganz direkt eine politische Situation thematisieren und andere, die hauptsächlich an der Form interessiert sind. Und dann gibt es eine Reihe von Produktionen der Wooster Group, dieses Jahr "Artists in Focus", seit 50 Jahren Avantgarde, die unermüdlich Material aus ihren eigenen Leben mit Ereignissen der Tagespolitik und großen Stücken aus allen Zeiten sampelt und aus den schillernden Splittern mit allen gerade neuen technischen Mitteln Kaleidoskope baut, als gäbe es keinen Widerspruch zwischen Agitprop und L'art pur l'art.

"Ist" von Parnia Shams und Amir Ebrahimzadeh 

In der Kategorie jener Produktionen, die sich mit aktuellen weltpolitischen Themen beschäftigen, zeigt FIND neben der hauseigenen Inszenierung Sich waffnend gegen eine See von Plagen über den Krieg in der Ukraine mehrere Gastspiele: است (persisch für "Ist") spielt in einer privaten Mädchenschule in Teheran. In einem Klassenzimmer mit Schulbänken, Tafel, Spinden ergeben sich Szenen aus Unterrichtsstunden, Pausengespräche und Unterredungen bei der Direktorin. Alles ist vollkommen realistisch – abgesehen davon, dass man nur die Mädchen auf der Bühne sehen kann. Was die Lehrerinnen sagen und tun, lässt sich aus den Antworten und Reaktionen der Mädchen erschließen.

In diese Klasse kommt eine neue Schülerin aus der Provinz. Zwischen ihr und der Klassenbesten entsteht eine tiefe, innige Freundschaft, auf die die anderen Mädchen mit Misstrauen und mit Mobbing reagieren. Bei den Lehrerinnen entsteht der Verdacht, zwischen den beiden könnte etwas Unangemessenes, Sexuelles vor sich gehen. Sie verlangen von den Mädchen, die kaum wissen, wie ihnen geschieht, ein schriftliches Geständnis und ein Versprechen, sich zu trennen. Die eine unterschreibt, die andere nicht.

Ist C Navid FayazLektionen fürs Leben: "Ist" von Parnia Shams und Amir Ebrahimzadeh © Navid Fayaz

Die junge Regisseurin Parnia Shams hat das Stück vor vier Jahren gemeinsam mit Schauspielstudentinnen entwickelt, die ihre persönlichen Erfahrungen eingebracht haben. Das Ergebnis wirkt ungeheuer lebendig und authentisch. Auf der einen Seite wird man heftig an die eigene Schulzeit erinnert, an den Gruppenzwang, die Angst nicht dazuzugehören, den Spaß beim Rauchen am Klo, das Kichern, die Heimlichkeiten. Auf der anderen Seite ist das eine fremde Welt, deren Regeln man nur bedingt erahnt; eine Welt unter Einfluss eines Kontrollsystems mit Überwachungskameras, Durchsuchung der Schultaschen, einer Macht, die tief in die Beziehungen eingreift und sie mit Misstrauen infiziert.

Erstaunlich, dass so eine Arbeit an einer Universität in Teheran vor vier Jahren noch möglich war und danach auch im Land selbst noch mehrere Preise gewonnen hat. In diesen Tagen kann man das Stück schwer sehen, ohne an die unaufgeklärten Massenvergiftungen an genau solchen Mädchenschulen zu denken. Die feine, nuancenreiche Inszenierung wird von diesen Ereignissen überschattet. Im Nachgespräch fühlen sich die jungen Künstlerinnen von den vielen Fragen zum aktuellen politischen Geschehen unter Druck gesetzt. Ob sie die Produktion, die in den kommenden Monaten zu mehreren Gastspielen in Deutschland eingeladen ist, jemals wieder im Iran werden zeigen können und ob sie das überhaupt wollen, wissen sie selbst noch nicht. 

"Vielleicht" von Noémi Michel, Ludovic Chazaud und Cédric Djedje

In der Produktion "Vielleicht" geht es um einen einheimischen Konflikt. Sie kommt zwar aus Genf, behandelt aber ein Berliner Politikum: den schon Jahrzehnte andauernden Kampf um die Umbenennung dreier Straßen in Berlin-Wedding. Darsteller und Regisseur Cédric Djedje hält eine lockere lecture performance. Er erzählt, wie er 2018 mit einem Künstlerstipendium aus Genf nach Berlin kommend überrascht war, dass das "Afrikanische Viertel" offensichtlich nicht wie in anderen Städten wegen eines großen afrikanischen Bevölkerungsanteils so heißt. Er erfuhr, dass es Anfang des 20. Jahrhunderts zu Ruhm und Ehre des Deutschen Kolonialismus so genannt worden war und dass drei Straßen nach den ärgsten Kolonialverbrechern heißen: die Petersallee, die Lüderitzstraße und der Nachtigalplatz.

Djedje unterhält sich über Zoom mit seiner Dramaturginnen-Freundin in Genf (im Stück gespielt von der Schauspielerin Safi Martin Ye). Er beschreibt ihr die Bilder von Giraffen, Löwen und Elefanten, die in der U-Bahnstation und in verschiedenen Geschäften hängen und wie er sich als einer von wenigen Schwarzen schon selbst wie ein exotisches Tier angestarrt fühlt. Bei einem Tinder-Date gerät er in eine peinliche Situation: Die Frau kommt in die Kneipe, aber sie erkennt ihn nicht, obwohl sie das Handy mit seinem Foto in der Hand hat. Sie kann sein Gesicht nicht von anderen Schwarzen Gesichtern im Raum unterscheiden.

VIELLEICHT - une pièce conçue par Cédric Djedje, avec Safi Martin Yé et Cédric Djedje. Le Grütli, Genève, le 31 octobre 2022. ©Dorothée Thébert Filliger/GrütliPostkoloniale Auseinandersetzung im Berliner Norden: "Vielleicht" von Noémi Michel, Ludovic Chazaud und Cédric Djedje © Dorothée Thébert Filliger

Die Performance ist eine anregende Mischung aus Djedjes persönlichen Erlebnissen mit positivem und negativem Rassismus und Interviews mit Aktivist*innen, die vom Tauziehen um die Straßenumbenennungen berichten. Der Titel des Stücks, "Vielleicht", kommt vom halb ironischen, halb hoffnungsvollen "Vielleicht wird es ja eines Tages doch noch passieren". Djedje fragt alle Beteiligten, wie sie sich den großen Tag vorstellen, sie wünschen sich ein Fest mit vielen Menschen, die zusammen tanzen, essen und trinken – "Imagine all the people".

Kurz nach der Premiere im November 2022 wurden zwei der drei Straßen tatsächlich umbenannt. Sie heißen jetzt nach Widerstandskämpfer:innen "Cornelius-Fredericks-Straße" und "Manga-Bell-Platz". Nur die Petersallee heißt immer noch Petersallee – allerdings angeblich nicht mehr nach dem grausamen Schlächter Carl Peters, sondern nach einem ganz anderen, unverfänglichen Herren, der zufällig auch Peters hieß – eine abstruse Camouflage. Von diesem Teilerfolg erzählt ein Epilog. Ob es anlässlich der Umbenennung denn nun ein Fest gegeben hat, wie die Diskutant*innen es sich erträumt haben, erwähnt Djedje nicht. Wahrscheinlich fiel es also aus.

"Fortress of Smiles" von Kurô Tanino

In der Gruppe der mehr an Form und zeitlosen Beobachtungen interessierten Stücke folgt auf die sympathische aber nicht gerade überwältigende Auftaktproduktion House of dance von Tina Satter das ästhetisch hochvirtuose Stück "Fortress of Smiles" des japanischen Starregisseurs Kuro Tanino. Zwei Stunden lang kann man in ein kleines Haus in einem japanischen Küstenort hineinsehen und das alltägliche Leben in zwei nebeneinanderliegenden Wohnungen beobachten. In hypernaturalistischem Dekor sieht man im linken Apartment vier Fischer, die bei den gemeinsamen Mahlzeiten über das Essen und das Fernsehprogramm reden und ihre Meinung über Frauen zum Besten geben.

In der rechten Wohnung kümmert sich ein ältlicher Mann um seine demente Mutter, manchmal widerwillig unterstützt von seiner pubertierenden Tochter, die immer nur auf ihr Handy schaut. Wird die Großmutter aus den Augen gelassen, dann verteilt sie das benutzte Klopapier im Raum oder schüttet Suppe auf den Boden. So geht es fast zwei Stunden ohne große Änderungen – wobei die Gespräche und Geräusche auf beiden Seiten auf beeindruckende Weise zu einer Partitur verflochten sind. Nur: Welche Wirkung beabsichtigt der Regisseur eigentlich? Das Ganze ist grauenhaft bedrückend und scheint ausweglos.

                               Einblicke in privateste Räume: "Fortress of Smiles" von Kurô Tanino © Shinsuke Sugino

Der Regisseur Kurô Tanino hat seit einem Jahrzehnt großen Erfolg in Japan und auf europäischen Festivals. Diese Produktion entlässt einen allerdings ratlos. In Europa waren in den Siebziger Jahren ähnliche hyperrealistische Studien des Alltags von vereinsamten und entfremdeten "ganz normalen" Menschen en vogue, zum Beispiel "Wunschkonzert" von Franz Xaver Kroetz oder der Film "Jeanne Dielman" von Chantal Akerman. Beide wollten die Vereinzelung und Entfremdung im Kapitalismus anprangern, bei beiden entlud sich die aufgestaute Verzweiflung am Ende in einer Gewalttat.

In "Fortress of Smiles" hingegen gibt es am Ende Akte minimaler Freundlichkeit: Der betrunkene Fischer schenkt den Nachbarn eine Riesenkrabbe aus dem letzten Fang, die Enkelin der dementen Oma, die nie kochen wollte, bereitet daraus eine Suppe. Die Grundhaltung der Inszenierung ist sentimental: Das Leben selbst geht weiter (wenn auch auf äußerster Sparflamme) und das soll, so weht es von der Bühne – etwas Tröstliches haben. Das Stück fordert dazu auf, das Elend, dem man zwei Stunden lang zusehen musste, als Normalform unser aller menschlicher Existenz hinzunehmen. Die Inszenierung gibt weder den Figuren noch den Zuschauer*innen eine Chance, die gezeigten Lebensverhältnisse zu analysieren und als veränderbar zu begreifen. Daher ist sie im Gegensatz zu ihren sozialkritischen Vorgängern in Europa zutiefst reaktionär.

"Burnt Toast" von Susi Wang

Die Osloer Truppe "Susi Wang" interessiert sich auf erfrischende Weise weder für politisches Eingreifen noch für Post- oder Antidramatisches. Sie liefern mit "Burnt toast" eine Splatter-Horror-Psycho-Grusel-Show der allerfeinsten Art, als wollten sie ihren Kinovorbildern Lynch, Tarantino, Cronenberg und Aronofsky zurufen: Schaut her, was wir hier mit unseren bescheidenen Mitteln an Atmosphäre und Special Effects zustande bringen!

In einer rotsamtenen Hotellobby baggert ein schmieriger Typ eine junge, stillende Mutter an. Sie reden allerbreitesten Südstaatenslang, er hat einen silbernen Koffer ans Handgelenk gekettet, in den er einen Schlauch einstöpselt und gurgelnd aus dem Koffer trinkt. Man ahnt schnell, dass man es mit einem Vampir zu tun hat. Nachdem er sich an ihrer noch blutenden Kaiserschnittnarbe verlustiert hat, verwandelt natürlich auch sie sich, und eine gruselige Horror-Romanze beginnt.

Burnt toast C RorvikDie Körperfresser kommen! "Burnt Toast" von Susi Wang © Alette Schei Rørvik

In wilden Splattervolten gebiert das Baby selbst einen Embryo, aus dem seine Mutter weitere hautfarbene Wurmexistenzen herausschneidet. Bis irgendwann die blutverschmierte Hand der Mutter des Vampirs vier Personen in den Koffer hineinzieht. Nur der kleinste Embryo bleibt übrig und zuckelt allein über die ganze Bühne – ein unbegreifliches kleines Wunder. Es ist herzerwärmend, mit welcher Hingabe das alles gebastelt ist. Wie mit einfachsten Mitteln direkt vor unseren Augen Special Effects wie im wüstesten B-Picture kreiert werden, macht einen Riesenspaß.

"A Pink Chair" von The Wooster Group

Immer wieder hat die Wooster Group in ihrem 50-jährigen Bestehen Geister beschworen, hat durch akribisches Imitieren von Menschen im Film das betrieben, was in der Esoterikwelt als "Channeling" bezeichnet wird. In ihrer Arbeit "A Pink Chair" lassen sie nun den visionären polnischen Theatermacher Tadeusz Kantor wiederauferstehen. Kantor übte enormen Einfluss auf das europäische Theater im 20. Jahrhundert aus. Er war berühmt dafür, seine persönliche Biographie mit Zeitgeschichte und Mythen zu vermischen. Elizabeth LeComte von der Wooster Group dachte zuerst, sie könne keinen Zugang zu ihm finden – Kantor war zu anders, ein alles bestimmender Tyrann, und sein Theater schien ihr zu anders – zu sehr Jahrmarktbude, Emotionskarrusell, sentimental.

Aber dann hat sie seine Tochter kennen gelernt, Dorota Krakowska, die mit derselben brütenden Sehnsucht den Kontakt zum Geist ihres Vaters gesucht hat, mit der er selbst sich seiner Kunst näherte. Und über diese Tochter, die nun bei der Produktion als Dramaturgin fungiert, fand die Wooster Group einen Zugang. Im Stück sieht man ein Video, in dem Kate Valk mit Dorota Krakowska über ihren Vater spricht, und sie sagt zu ihr: "You had your father in your heart – now you have him in your yearning. You are a shadow yearning for a shadow." (dt. "Du hattest deinen Vater in deinem Herzen – jetzt hast du ihn in deiner Sehnsucht. Du bist ein Schatten, der sich nach einem Schatten sehnt.")

thewooster group2 a pink chair C steve guntherZeit für eine Séance © Steve Gunther

Grundlage sind Videoaufzeichnungen von Kantors vorletzter Produktion "I shall never return", in der er selbst mitspielt. In einer Kaschemme trifft er auf seine Schauspieler*innen und auf Figuren aus all seinen früheren Produktionen. Er betreibt eine Rekonstruktion und die Wooster Group dekonstruiert dieses Material mit ihren eigenen Mitteln. Kantor spielt mit seiner Truppe "Die Rückkehr des Odysseus", ein Stück, das er noch während des Kriegs im Untergrund produziert hat, Odysseus ein zerlumpter Kriegsheimkehrer, skandiert mit den anderen: "I'm born for the promised land" (dt. "Ich wurde für das gelobte Land geboren."). Das schwillt zu einem Chor an, der mit dunkler Erhabenheit näher und näher an den Tod herantanzt.

"Und wenn er dann kommt. Der Messias", setzen die Schauspieler*innen im alten Video immer wieder an – woraufhin die Schauspieler*innen der Wooster Group channeln: "Auch wenn er sich vielleicht ein bisschen verspätet …". Ihre anfängliche Ironie geben sie mehr und mehr auf für den Schatten einer hilflosen Wahrheit. Und dahinter erhebt sich der Geist von Kantor und hinter ihm der Geist der Sache selbst, der Geist des Theaters. Es ist ein beglückender und inspirierender Abend, und man kann sich vorstellen wie in dreißig oder vierzig Jahren eine Avantgardetruppe "A pink chair" rekonstruieren wird und das Karussell wird sich immer weiterdrehen, auch wenn er sich vielleicht ein wenig verspätet, der Messias.

 

FIND-Festival 2023

است (Ist)
von Parnia Shams und Amir Ebrahimzadeh
Regie: Parnia Shams
Dramaturgie: Shahab Rahmani; Bühne: Pourya Akhavan; Kostüme: Pegah Shams.
Mit: Mahtab Karimi, Sadaf Maleki, Mahoor Mirzanezhad, Yasaman Rasouli, Shadi Safshekan, Parnia Shams, Parvaneh Zabeh. 
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

Vielleicht 
von Noémi Michel, Ludovic Chazaud und Cédric Djedje
Regie: Absent.e pour le moment; Text: Ludovic Chazaud, Noémi Michel; Beratung Regie: Diane Muller, Ludovic Chazaud; Dramaturgie: Noémi Michel; Bühne: Nathalie Anguezomo Mba Bikoro; Kostüme / Khanga’s Konfektion: Tara Mabiala: Choreografie: Ivan Larson.
Mit: Cédric Djedje, Safi Martin Ye und Renée Eloundou (Aktivistin aus Berlin).
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

笑顔の砦 (Fortress of Smiles)
von Kuro Tanino
Regie: Kuro Tanino; Ausstattung: Takuya Kamiike.
Mit: Hatsune Sakai, Kazuya Inoue, Koichiro F. O. Pereira, Masato Nomura, Masayuki Mantani, Natsue Hyakumoto, Susumu Ogata.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

Burnt Toast
von Susie Wang
Text und Regie: Trine Falch; Ausstattung: Bo Krister Wallström; Musik und Sound Design: Martin Langlie.
Mit: Kim Atle Hansen, Julie Solberg, Mona Solhaug, Phillip Isaksen, Fanney Antonsdottir Bühnentechnik: Jon Løvøen, Simen Ulvestad, Viola Hamre
Dauer: 1 Stunde  30 Minuten, keine Pause

A PINK CHAIR (In Place of a Fake Antique)

von The Wooster Group
Regie: Elizabeth LeCompte; Dramaturgie: Dorota Krakowska; Sound Design und Musik: Eric Sluyter, Omar Zubair; Bühne: Elizabeth LeCompte; Video: Robert Wuss, Zbigniew Bzymek Zusätzliches Video: Yudam Hyung-Seok Jeon, Andrew Maillet, Irfan Brkovic, Wladimiro Woyno.
Mit: Zbigniew Bzymek, Enver Chakartash, Hai-Ting Chinn, Jim Fletcher, Ari Fliakos, Dorota Krakowska (im Video), Andrew Maillet, Erin Mullin, Suzzy Roche, Danusia Trevino und Kate Valk.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Mehr zum Thema:
Hier lesen Sie über die Auftaktproduktion des FIND-Festivals 2023: "House of Dance" von Tina Satter.

 

Kritikenrundschau

"Das FIND-Festival der Schaubühne öffnet Fenster zur Welt", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (27.4.2023) und berichtete von "durchweg hochkarätigen internationalen Gastspielen". Besonders sticht für ihn das Iraner Gastspiel "Ist" heraus, das genüge, um "sofort wieder an das Theater und seine Kraft zu glauben". Eine "wunderbare FIND-Entdeckung" sei auch "Fortress of Smile" des japanischen Regisseurs Kuro Tanino. Es geschehe nicht viel in der dargestellten Wohnung, "aber nach den zwei Stunden der Vorstellung hat man diese Menschen kennengelernt und will am liebsten Japanisch lernen und bei ihnen einziehen".

"Die gesellschaftspolitische Schärfe und ästhetische Kraft der meisten" Inszenierungen dieses Festivals "blieb doch weit hinter den vergangenen Jahren zurück", berichtet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (27.4.2023). Die Wooster Group habe als "Meisterin der Erinnerungskunst" zu Anfang "den formalen Maßstab hoch" angesetzt. Performativ wie dramaturgisch "eher holprig" empfand die Kritikerin die Lecture Performance "Vielleicht" von Cédric Djedje, und auch das "Mimesistheater" mit dem Titel "Ist" von Parnia Shams verdiene eher durch sein Thema Aufmerksamkeit. "Die eigentliche Entdeckung des Festivals" ist für die Kritiker das norwegische Kollektiv Susie Wang, das mit seiner schrillen Splatter-Groteske "Burnt Toast" eine wirklich neue, bös-naive Bildsprache auf die Bühne bringt, die B-Movie-Schablonen, politische Tiefenpsychologie und Zen-Atmosphäre surreal verdichtet."

 

Kommentare  
FIND-Festivalbericht, Berlin: "Zutiefst reaktionär"
Eine Inszenierung ist nicht automatisch "zutiefst reaktionär", nur weil sie den handelnden Figuren nicht künstlich empowered. Und ich will hier gar nicht in absoluten Aussagen sprechen. Es kommt eben immer darauf an, was man zeigen, was man erzählen möchte, wie man das Publikum entlassen möchte. Ich kann ja auch nach einem solchen Abend selber darüber nachdenken, wie wäre das? Man muss Figuren nicht um jeden Preis mit den eigenen Inhalten aufblasen. Genau daher entsteht das Gefühl, dass alle Figuren auf der Bühne irgendwie die ganze Zeit ultra stronge aufgeklärte Charaktere sind - "Keine Opfer!" - wie es häufig in den Proben heisst. Und nein, ich finde auch, dass man nicht alles ständig reproduzieren sollte. Aber so gesprochen finde ich die Aussage, ein Stück sei "zutiefst reaktionär" sehr irritierend.
FIND-Festivalbericht, Berlin: #reaktionär
Lieber Hajo, ich weiß nicht, ob Sie die Aufführung überhaupt gesehen haben. Der Autor und Regisseur überlässt den Abend nämlich eben gerade nicht wertfrei den Zuschauer*innen zum selber nachdenken, seine Sympathien liegen sehr deutlich bei der traditionellen Lebensform der vier Fischer. Die “alte” Art des Zusammenlebens fernab der Metropole Tokyo wird als rührend liebenswerte Methode gezeigt, mit der existentiellen Einsamkeit des Menschen fertig zu werden. Wobei diese Methode aus dem guten alten “Gemeinsam Fressen, Fernsehen und Vögeln” der Männer besteht- (letzteres nur in der Phantasie, weil die Frauen eh alle weit weg sind)- und dem “sich damit zufrieden geben und nirgendwo hinaus wollen, schon gar nicht hoch” (die amerikanischen Ambitionen, im Western oder bei Hemingway, kommen ihnen lächerlich vor). Der Mann, der seine Mutter pflegt, versucht, zu diesen traditionellen Verhältnissen zurückzukehren, aber die alten Familienverhältnisse sind zerbrochen und er ist allein mit seiner dementen Mutter und die unglückliche Enkelin starrt nur auf ihr Handy und ist keine Hilfe. Am Ende wird eine tröstliche Lösung angedeutet: ein gemeinsames Essen, eine kleine Geste der Freundlichkeit, können alles erträglich machen. Diese Verklärung der prämodernen Verhältnisse ist im ureigensten Wortsinn reaktionär. Das muss man aber nicht negativ bewerten- reaktionär zu empfinden, ist heutzutage auf jeden Fall ambivalenter als es das in den 70er Jahren war. Für mich war es bei dieser Aufführung fast unerträglich, zu dieser Sichtweise gedrängt zu werden - während Peter Laudenbach, wie man oben lesen kann, am liebsten bei den Fischern eingezogen wäre. Gerade solche persönlichen unterschiedlichen (und wohl-beschriebenen) Reaktionen sollten doch für Leser*innen von Kritiken eigentlich interessant sein.
FIND-Festivalbericht, Berlin: Unterkomplex
Die Autorin schreibt:
"Die Inszenierung gibt weder den Figuren noch den Zuschauer*innen eine Chance, die gezeigten Lebensverhältnisse zu analysieren und als veränderbar zu begreifen. Daher ist sie im Gegensatz zu ihren sozialkritischen Vorgängern in Europa zutiefst reaktionär."

Welches Theatergrundgesetz wird denn hier formuliert? Ist Theater nur dann nicht "zutiefst reaktionär", wenn es die Zuschauer.innen auf die Veränderbarkeit von "Lebensverhältnissen" hinweist?
Und ist mit diesen Maßstäben z.B. das absurde Theater "zutiefst reaktionär"?

Zudem: Einer Theateraufführung aus Japan, die aus einem zutiefst anderen kulturellen Kontext stammt, kurzerhand mit den Maßstäben "reaktionär vs. sozialkritisch" zu begegnen, ist aus meiner Sicht - vorsichtig formuliert - unterkomplex.
FIND-Festivalbericht, Berlin: Theatergrundgesetz
Liebe Gabi Hilft,

ich habe die Inszenierung tatsächlich nicht gesehen und kann dazu nichts sagen. Ich finde nur das "Theatergrundgesetz", wie der*die Verfasser*in es nennt, eben sehr fragwürdig. Darauf bezog ich mich. Ob mir das Stück gefallen würde, weiß ich nicht, neugierig bin ich inzwischen auf jeden Fall!
FIND-Festivalbericht, Berlin: Falsche Anschuldigung
Wo, bitte schön, lesen Sie bei mir den Ausdruck "Theatergrundgesetz"? Der steht im Kommentar von "Legan Historian", und der will mir damit unterstellen, ich würde ex cathedra verkünden was am Theater sein sollte und was nicht. Dabei liegt mir sowas total fern!! Ich schildere im Gegenteil immer meine ganz persönlichen Reaktionen auf ein Stück und beschreibe so genau wie möglich (wie genau es in der Kürze eben geht), was ich gesehen habe und was das bei mir auslöst. Und dann kontextualisiere ich das noch. Selbstverständlich gibt es keinerlei Gesetz, das sagt, ein Theaterstück dürfe nicht nostalgisch auf frühere Verhältnisse schauen, das wäre ja absurd! ICH fand es schwer erträglich, und das habe ich auch berichtet. Die einzigen Theatergesetze die ich kenne, sind: "Nicht auf der Bühne pfeifen." und :"Niemals Requisiten essen!" Wäre also schön, wenn Sie ihre Anschuldigung zurücknähmen.
FIND-Festivalbericht, Berlin: Meinung
@5 - „Ich schildere … immer meine ganz persönlichen Reaktionen auf ein Stück …“ - den Eindruck habe ich tatsächlich auch! Ich bin aber der Meinung, dass das hier auf Nachtkritik nicht seinen richtigen Ort hat. Mich interessiert das jedenfalls nicht. Schon gar nicht, wenn es zu solchen Urteilen wie „zutiefst reaktionär“ kommt. Aber leider sind solche Meinungsäußerungen ohne verständliche Herleitung in der Kritik inzwischen üblich. Die Debatte hat Christine Wahl hier auf Nachtkritik aber schon einmal besser zusammengefasst.
Fortress of Smiles, FIND Berlin: Verführt zum Schauen
Die Stärke von "Fortress of Smiles" liegt darin, dass eben nicht Partei ergriffen wird für oder gegen irgendwelche Figuren und dass es keine Regie gibt, die mit ihren Ideen Parade läuft, sondern den Eindruck vermittelt, dass man nur irgendwelchen Nachbarn zusieht. Die sind mal vital, mal lustig, mal sexistisch, mal einsam, mal verzweifelt, mal dies und mal das. Als Zuschauer bekomme ich keine Wertungen vorgesetzt. Darin liegt die Kraft des Abends, dass er zum schauen verführt und nicht zum interpretieren einlädt oder gar zum Weltverändern, oh je. Das Schauspielen war mir manchmal zu aufgesetzt, dem Hyperrealismus der gesamten Vorstellung nicht angemessen.
FIND-Festival, Berlin: "Ist" und "Dear Life"
Sehr realistisch sind Mobbing und Intrigen gegen die neue Mitschülerin im iranischen Gastspiel "ist". Dieses Thema ist so universal, dass die Handlung der ersten Hälfte jederzeit auch in der Schule zwei Querstraßen entfernt spielen könnte.

Langsam wird die Atmosphäre bedrohlicher. Wir erleben immer nur die sechs Mädchen, die gegen eine bedrohliche Wand reden. Mit fünf jungen Spielerinnen von der Sooreh Universität Teheran hat Regie-Studentin Parnia Shams, die auch selbst mit der auf der Bühne steht, ihr Erstlingswerk vor vier Jahren entwickelt. Mehrere Preise gewann „ist“ bei einem Hochschul-Festival in Teheran 2019.

Ausweglos wird die Lage für zwei Mädchen. Nach massiven Vorwürfen werden sie zur Selbstbezichtigung gezwungen, wie sie in Sekten oder totalitären Regimen an der Tagesordnung sind. Dem nur eine Stunde kurzen Abend ist noch deutlich anzumerken, dass es sich um eine Nachwuchsarbeit handelt. Da die „Frauen Freiheit Leben“-Proteste so hohe Wellen schlugen, wird dieses thematisch passende Gastspiel in diesem Frühjahr über die Festivals touren. Den Auftakt machte die Deutschland-Premiere beim FIND-Festival an der Berliner Schaubühne, es folgen Auftritte beim Festival Theaterformen in Hannover, den 22. Internationalen Schillertagen am Nationaltheater Mannheim und dem Festival Theater der Welt 2023.

Am Abschlusswochenende gastierten Wang Chia-ming und seine taiwanesische Compagnie mit dem vielversprechenden Namen „Shakespeare’s Wild Sisters Group“. Während das Publikum noch nach seinen Plätzen sucht, spielt das komplette Ensemble mit den Bühnentechnikern noch eine Runde Badminton, bevor der einminütige Countdown für „Dear Life“ runtergezählt wird.

Dahinter verbirgt sich ein Wimmelbild aus Miniaturen nach Kurzgeschichten aus dem gleichnamigen Band der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro aus dem Jahr 2012: Alltagsbeobachtungen mit skurrilen Twists, die das Ensemble aus Kanada nach Taiwan. Festivalstammgäste erlebten einen thematischen Bogen mit der Demenz einer alten Frau, die in „Dear Life“ ebenso vorkam wie eine Woche zuvor im hier kontrovers besprochenen japanischen FIND-Gastspiel „Fortress of Smiles“.

In Erinnerung bleiben vor allem die schönen, live zu Gitarre und Klarinette vorgetragenen kleinen Songs, die nicht nur als Szenen-Trenner dienen, sondern auch in die Geschichen eingewoben wurden. Mit dem 90er-Hit „Zombies“ von den Cranberries endete der mit 135 pausenlosen Minuten doch recht langatmige Abend, bevor der einminütige Countdown rückwärts gezählt wurde.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/04/28/find-festival-2023-theater-kritik/
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