Steal you for a moment / Non human dances - Tanz im August Berlin
Im Reich der Zeichen
23. August 2024. Prähistorische Architektur und künstlerische Posthumanität: Francisco Camacho und Meg Stuart sowie Jérôme Bel und Estelle Zhong Mengual geben sich beim Berliner Festival "Tanz im August" theoriegesättigt, aber mit Charme, Witz und Zärtlichkeit.
Von Falk Schreiber
23. August 2024. Dass "Steal you for a moment" von Francisco Camacho und Meg Stuart auf Recherchen über die Nuraghen-Zeit beruht, hätte man jetzt auch nicht gemerkt, wäre es nicht in der Stückbeschreibung erwähnt gewesen. Was vielleicht auch daran liegt, dass über die prähistorische Kultur im Mittelmeerraum überhaupt wenig bekannt ist – im Grunde kennt man heute vor allem Turmbauten, die um 1600 vor Christus auf Sardinien entstanden sind, deren genaue Funktion aber im Dunkeln liegt.
Liebe und das Leuchten der Archäologie
Und dann ist die Bezugnahme doch wieder folgerichtig: Es gibt ausschließlich architektonische Zeichen, die etwas über die damalige Kultur berichten. Und Camacho und Stuart bewegen sich erst einmal auch innerhalb eines architektonischen Kosmos, beim Auftritt während des Festivals "Tanz im August" im Berliner Radialsystem: Fluchtlinien sind auf Boden und Wand gezeichnet, ein Pendel hängt von der Decke, es gibt Sandhügel, aus denen mit Hilfe von Holzschablonen kleine Pyramiden entstehen. Das ist ein Zeichensystem, aber es ist ein Zeichensystem, das sich nicht leicht entschlüsseln lässt, und die Choreograf:innen halten sich konsequent mit Hilfsangeboten zurück.
Still und unspektakulär betreten sie die Bühne, schreiten langsam in das Arrangement, wimmern, leiern. Nach und nach schälen sich konkrete Bewegungsmuster heraus, ein Pendeln der Arme verweist auf das Bühnenpendel, ein gestrecktes Bein steht in Bezug zu den Fluchtlinien an der Wand, irgendwann kippt Stuart zur Seite – doch, das ist schon Tanz, aber dieser Tanz ist hermetisch, schwer deutbar. Durch den Saal derweil summen elektronische Klänge, wie wahllos durchgeswitchte Radiowellen: Kurz versteht man etwas, kurz hört man eine Melodie oder Satzfetzen, aber dann ist die Bedeutungsebene schon wieder weg. An einer Stelle wird der Saal abgedunkelt, dann tragen die beiden Protagonist:innen Stirnlampen und erinnern plötzlich an Wissenschaftler:innen, die sich durch unbekanntes Terrain forschen, Archäolog:innen im Reich der Zeichen.
Bis sich dann, nach einer langen halben Stunde, der Charakter des Stücks ändert. Plötzlich wird ein Chanson ausgespielt, plötzlich baut Camacho konzentriert eine Körperspannung auf, plötzlich bleibt eine Stimmung länger als ein paar Sekunden bestehen. Und die Sand- und Zeichenbühne ist zwar immer noch ein Architektursetting, aber sie ist eben auch eine Sandkiste, ein Spielplatz. Als Stuart eine der Pyramiden kaputtmacht, wird das zunächst mit einem "Sorry" kommentiert, aber kurz darauf trampeln die Beiden mit Lust in den Sandkunstwerken rum.
Kaputtmachen, Neues entstehen lassen. Das hält "Steal you for a moment" nicht davon ab, nach einer Weile wieder in die Hermetik herabzusinken, aber von diesem Moment an ist klar: Dieses Stück kann auch anders. Vieles an diesem Abend mag trocken und theoretisch anmuten, aber er kann auch Witz, Verspieltes, Zärtlichkeit.
Im Schlussbild, nachdem PJ Harveys sehnsüchtiges "We float" erklang, liegen Camacho und Stuart auf der Bühne, glücklich, ausgepowert, zwei Freund:innen, die ihre Intimität offen zeigen, eine Intimität, die aber augenscheinlich nicht fürs Publikum gedacht ist. Ob er wisse, dass sie in den Neunzigern total in ihn verliebt gewesen sei, fragt Stuart, und Camacho antwortet, dass sexuelle Anziehung vielleicht nur ein Schritt auf dem Weg zur Freundschaft sein kann. Und dann bricht das Stück unvermittelt ab, mitten im Satz: So einfach machen es Camacho und Stuart dem Publikum nicht, dass sie ihm eine Deutung schenken würden, nachdem sie zuvor gut 90 Minuten lang in Rätseln gesprochen haben.
Auftritt des Nichtmenschlichen
Dunkel und hermetisch ist erst einmal gar nichts, bei "Non human dances" von Jérôme Bel und Estelle Zhong Mengual, am gleichen Abend ein paar Kilometer westlich im Theater HAU1. Was vor allem daran liegt, dass der Abend zunächst so tut, als ob er eine Lecture Performance wäre, eine künstlerische Form, in der nicht verschleiert wird, sondern erklärt. Die Kunsthistorikerin Mengual also erklärt, dass sie sich mit Posthumanität in der Bildenden Kunst beschäftige, mit der Darstellung von Nichtmenschlichem, und dass sie diese Studien hier auf die Darstellende Kunst ausdehnen würde, wobei ihr Choreograf Bel helfe.
Anhand von Tanzbeispielen sieht man daraufhin, wie Nichtmenschliches auf die Bühne kommt: als Symbol im barocken Tanzvokabular, als Imitation in "Schwanensee", als Form bei Isadora Duncans "Water Study". Weil Mengual das mit ziemlich viel Charme beschreibt (und weil die tänzerischen Rekonstruktionen tatsächlich auch sehr sehenswert sind), hat das etwas von der nerdig-humorvollen Subversion, die beispielsweise Isabelle Rosellinis "Green Porno"-Projekt auszeichnet.
Aber nach einer Weile bricht die nüchterne Außensicht der Wissenschaftlerin auf: Bei Pina Bauschs "Nelken" tanzt dann eben nicht nur wie angekündigt Chiara Gallerani, sondern auch Mengual performt mit. Um im Anschluss ihre Bauchschmerzen über diesen Auftritt zu formulieren: "Nelken" wurde 1982 choreografiert, die gezeigte "Vier Jahreszeiten"-Passage aber sei heute vor allem ein Fingerzeig, dass die Jahreszeiten angesichts der Klimakatastrophe keine Orientierung mehr bieten könnten. Solch eine Choreografie heute zu tanzen, zeige, in welch dystopischen Zeiten wir leben – was eine künstlerisch ehrenwerte Position ist, mit der wissenschaftlichen Kühle, mit der einem "Non human dances" zunächst angepriesen wurde, aber nichts zu tun hat.
Katzendinge
Reizvoll bewegt sich das Stück daraufhin zwischen den Ebenen, hier toller Tanz (neben Gallerani performen auch Gaspard Charon und Elisabeth Schwartz), dort Hinterfragen der eigenen Position. Bis sich das Konzept gegen Ende fast zu ernst nimmt: In Xavier Le Rois "The Lion's Vocabulary" hat der Mensch überhaupt nichts mehr zu melden, die nunmehr nackten Tänzer:innen schleichen als Katzen im Ballengang über die Bühne und machen Katzendinge. Was eben auch heißt, dass deren performativer Wert für das Publikum keine Bedeutung mehr hat. Zum Abschluss sollen die Zuschauer:innen dann die nichtmenschlichen Anteile des eigenen Körpers entdecken, den Arm, die Handfläche, und auch wenn das ein wenig didaktisch daherkommt, kann das dem vorangegangenen tänzerischen und inhaltlichen Niveau wenig anhaben. Am Ende ist das alles eben doch: ein Spaß. Ein ernster Spaß.
Steal you for a moment
von und mit Francisco Camacho und Meg Stuart
Choreografie: Francisco Camacho, Meg Stuart, Szenografie: Gaëtan Rusquet, Sounddesign: Vincent Malstaf, Lichtdesign und Technische Leitung: Frank Laubenheimer, Künstlerische Assistenz: Márcio Kerber Canabarro, Technische Assistenz: Tom De Langhe, Outside Eye: Sigal Zouk, Produktionsleitung: Soraia Gonçalves (EIRA).
Mit: Francisco Camacho, Meg Stuart, Gaëtan Rusquet.
Deutschlandpremiere am 22. August 2024 im Radialsystem Berlin
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten
Non human dances
von Jérôme Bel und Estelle Zhong Mengual
Konzept: Jérôme Bel, Estelle Zhong Mengual, Assistenz: Chiara Gallerani, Texte: Jérôme Bel, Estelle Zhong Mengual, Baptiste Morizot, Andrea Olga Mantovani, "S'enforester" (Paris, Éditions d'une Rive à l'Autre, 2022, S. 28), mit Choreografien von Pina Bausch ("Nelken Linie", Musik: "West End Blues" komponiert von Joseph Oliver, gespielt von Louis Armstrong. Auszug aus dem Stück: "Nelken (Les oeillets)" (1982), Choreografie und Regie: Pina Bausch, Bühnenbild: Peter Pabst, Kostümbild: Marion Cito, Dramaturgie: Raimund Hoghe, Mitarbeit: Matthias Burkert, Hans Pop, Musik: Jones, Lehar, Oliver, Tauber, Tucker und weitere. Urheberrecht: Verlag der Autoren, Frankfurt, im Namen der Pina Bausch Foundation, Wuppertal), Gaspard Charon ("The entrance of the sun"), Isadora Duncan ("Water study", Musik: Frantz Schubert), Loïe Fuller (Musik: Camille Saint Saens), Lev Ivanov und Marius Petipa, Xavier Le Roy ("The lions' vocabulary"), Sergiu Matis ("The Siberian crane", Extract of the piece: "Extinction room (Hopeless.)", Konzept & Choreografie: Sergiu Matis, Sound-Komposition: Antye Greie-Ripatti, Text: Philip Ingman), Kostümbild: die Tänzer:innen, Kostüm: Muriel Kunkel, Aleix Llussà Lòpez, Technische Leitung: Maxime Kurvers, Geschäftsführung: R.B. Jérôme Bel, Künstlerische Beratung: Rebecca Lasselin, Companymanagement: Sandro Grando, Bühnentechnik (HAU): Kristof Meers, Mohammad Nazeri, Tom Sattler, Andrea Schöneich, Şenol Şentürk, Dominik Stillfried, Lichttechnik (HAU): Fabian Boldt, Ulrich Kellermann, Boris Meier, Maxi Richter, Marc Zeuske, Tontechnik (HAU): Matthias Kirschke, Rozenn Lièvre.
Mit: Gaspard Charon, Chiara Gallerani, Elisabeth Schwartz, Estelle Zhong Mengual & weiteren.
Deutschlandpremiere am 22. August im HAU1 Berlin
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten
www.tanzimaugust.de
Kritikenrundschau
"Neben Szenen von leiser Komik finden sich auch zärtliche Momente", berichtet Sandra Luzina im Tagesspiegel (24.8.2024) über das Stück von Camacho/Stuart. "Sie sind tolle Perfomer, doch das Duett verläppert sich am Ende und driftet ins allzu Private ab." Über Jérôme Bels Arbeit heißt es: "Der Abend gleicht eher einer Lecture Performance. Nicht bei allen Werken lohnt es sich, sie wiederzubeleben. Und wirklich überraschend sind die Erläuterungen von Mengual nicht. Aber eine tanzende Kunsthistorikern sieht man nicht allzu oft. So kann man bei 'Non human dances' nur staunen, welche Blüten die französische Gelehrsamkeit treibt."
"Ricardo Carmona zählt nicht zu den Kuratoren, die diskurslastige Strategien verfolgen. Er liebt das Visuelle genau wie die Kunst der Grenzüberschreitung. Also war jedes Format vertreten, jeder Stil (abseits der Klassik), jedes Genre - und jeder Geschmack“, schreibt Dorion Weickmann in ihrem Festival-Bericht für die Süddeutsche Zeitung (2.9.2024). Meg Stuart und Francisco Camacho hätten "ein wundersames Körperduett" geschaffen; der "sonst so kluge Choreograf Jérôme Bel" habe wenig "Substanzielles" geboten; seine Werkschauen anderer Künstler*innen, "erschöpften sich" alsbald "in tanztouristischem Sightseeing".
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