Death Drive - Volksbühne Berlin
Kein Ei des Kolumbus
24. November 2023. Die Existenz – ein großes Trauerspiel? Regisseur:in und Countertenor Benjamin Abel Meirhaeghe schickt die Volksbühnen-Protagonist:innen spielend und tanzend durch eine todessehnsüchtige, effektvolle Schöpfungs-Playlist.
Von Simone Kaempf
24. November 2023. Ein Böller fliegt im hohen Bogen über die verdunkelte Bühne, zerknallt in einer Ecke mit grellen Feuerblitzen eines Kurzschlusses. Kurz darauf wird es Licht. Ein Urknall scheint es zu sein, mit dem dieser Abend startet. Biblisch treten sie dann auf, die ersten beiden Menschen: Steven Fast und Kyle Patrick spazieren als Paar herein, nackt wie vor dem Sündenfall.
Ein Drama vom ersten Atemzug an
Auch der folgt sofort: erst ein bisschen aneinander reiben, dann schneller Sex ohne falsche Scheu. Nach der Kopulation ziehen beide an langen Leder-Riemen ein großes Dinosaurier-Ei auf die Bühne. Aus dem schlüpft sogleich der nächste Mensch: in einem hautfarbenen Kleid, wie in einer Fruchtblase ausgebrütet, kullert Benny Claessens heraus, sozusagen lebensfähig von Geburt an.
Schlag auf Schlag startet dieser Abend mit einer skurrilen Schöpfungsgeschichte, in der alles dicht nebeneinander steht. Der Urknall und das Ei, biblische Geschichte und ihr offensives Unterspielen, Fortpflanzung zum dramatischen Trauermarsch von Gustav Mahler, denn ja, man kann die Existenz für ein großes Trauerspiel halten, ein langes existenzielles Drama vom ersten Atemzug an.
Soweit, so düster
"Death Drive" heißt die Inszenierung, die, noch bevor es losgeht, tatsächlich mehr mit dem Tod und düsteren Zwischenwelten liebäugelt als mit dem Leben. Wenn man den Saal betritt, ist die erste Reihe schon besetzt mit Skeletten als grienenden, stummen Zuschauern wie beim Día de Muertos. Die sechs Musiker im Orchestergraben wiederum tragen Hoodies mit großen Kapuzen, die tief ins Gesicht gezogen bleiben und sie wie mittelalterliche Mönche aussehen lassen. So weit so düster an diesem Abend, an dem einiges an Ideen, Inhalten, an Volksbühnen-Top-Besetzung, Musik und Bühnendesign zusammenkommt – aber sich nicht zu Höhen aufschwingen vermag.
Regisseur*in Benjamin Abel Meirhaeghe gehört fest zum Toneelhuis Antwerpen, inszeniert spartenübergreifend und mit Hang zum radikalen Mixen der Mittel, das kann man nachlesen. In Meirhaeghes erster Arbeit an der Volksbühne schickt er Kathrin Angerer, Susanne Bredehöft, Inga Busch, Benny Claessens zusammen mit den Tänzern Steven Fast und Kyle Patrick in eine Stückentwicklung, die mehr Kunst-Installation ist und optisch tatsächlich so einiges zu bieten hat.
Im Nebeldunst schwebt Inga Busch als Engels-Silhouette durch die Höhe, stürzt schwebend herab, um sich mühsam aus den Sicherheitsgurten wie aus Fesseln zu befreien. Auf der weißen Bühne sammelt Kathrin Angerer Reisig-Stöckchen, die sie und die anderen zu Holz-Unterständen ineinander keilen als entstünde hier ein Steinzeit-Dorf – eine der poetischen Szenen. Dann sitzen alle sechs an einem Tisch um eine mechanische Apparatur, pusten mit Strohhalmen in Wassergebräu bis es blubbert wie im Labor. Und auch die sechs könnten unterschiedlicher nicht sein: Kathrin Angerer trägt zwischendurch ein Nonnenkostüm, Benny Claessens ein schwarzes Negligé und allerlei andere wallende Gewänder. Inga Busch erkennt man überhaupt erst auf den zweiten Blick mit ihrer roten Ziggy Stardust Perücke und Lederdress.
Claessens als Übergott
Der gesprochene Text passt auf drei Seiten. Angerer gehört der längste Monolog. "Ich gehe auf die Jagd, ich bin der Jäger", hebt sie an zu einem so klaren wie flehenden Beschreiben der menschlichen Existenz in wenigen Sätzen, bis es auch schon heißt: "Es gibt nichts mehr zu sehen." Vom Anfang zum Ende geht es hier immer ganz schnell. Wenn nun von dem Mann die Rede ist, der nicht mehr leben konnte, ohne zu wissen, was am Ende der Straße liegt, dann geht Benny Claessens wenige Schritte und landet in einem Haufen Kaninchendreck. Und dann wechselt doch wieder die Musik, das Licht, die Stimmung, alles wild gemischt und von plötzlichen Brüchen gestoppt. Das ist wohl gemeint, wenn es einmal heißt: "Durchschneide dieses nihilistische Geschehen."
Gegen Sinnstiftung wehrt sich der Abend mit allen Mitteln, Lektüre-Tipps zum besseren Verstehen liefert nur der Programmzettel mit einer Liste, die von Elias Canetti über Friedrich Nietzsche bis Virginia Woolf reicht. Als Parodie eines Übergotts mit langem Rauschebart schwingt sich Claessens einmal auf, im weißen Wallegewand tänzelt er vor hohen Gazevorhängen, die mit runden Kreis-Ausschnitten hintereinander geschichtet sind. Sind das die Gestirne? Oder doch nur das Nichts. Dazu spielt die sechsköpfige Band "Eye of the Tiger".
Als Musical lässt sich der Abend am ehesten verstehen. Die Szenen reihen sich wie eine Playlist mit lockerem innerem Zusammenhalt. Erst Bach-Chörale, dann der Anfang von Strawinkys "Le Sacre de Printemps", zu dem Pina Bausch imitiert wird – und auch veralbert, dahin rettet sich das ganze immer wieder. Vor allem die choreografischen Szenen taugen oft nur zur Parodie, als würde mit dem Theater selbst Spaß getrieben. Inga Busch reißt zwischendurch den Pegel hoch mit einem an der Rampe geröhrten Kinderlied. Am Ende erschallt "I did it my way", dazu spielen Claessens und Angerer "Tiere nachmachen", imitieren Hasen, Fische, Elefanten mit Arm- und Beinbewegungen. Optisch fährt hier so einiges auf und gibt taugliche Bilder her. Eine Zuschauerin schräg vorne fotografiert denn auch kräftig mit. Als existenzielle Erzählung bremst sich "Death Drive" selber aus, vom Drama der Entstehung und dem Vergehen bleibt wenig übrig. Außer Kunstabgängen, wenn Claessens einmal im Mantel von der Bühne steigt, als würde er hier jetzt dem Ganzen ein Ende machen. Zum Glück ist es dann wirklich bald vorbei.
Death Drive – Everything everyone ever did
Regie: Benjamin Abel Meirhaeghe, Bühne & Lichtdesign: Bart Van Merode, Zaza Dupont, Kostüme: Marilena Büld, Arrangeur: Ward Opsteyn, Sounddesign: Bully Fae Collins, Dramaturgie: Leonie Hahn.
Mit: Kathrin Angerer, Susanne Bredehöft, Inga Busch, Benny Claessens, Steven Fast, Kyle Patrick.
Beat ’n Blow: Lukas Fröhlich, Enno Kuck, Stefan Pahlke, Bernhard Ullrich, Jörg Vollerthun, Niko Zeidler.
Premiere am 23. November 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.volksbuehne.de
Kritikenrundschau
"Dieser Abend ist auch eine Feier von Anspruch, Mut und Selbstbewusstsein" mit einem erkennbaren Hang zur Selbstironie, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online 24.11.2023). Allerdings kippe er "nicht nur einmal vom Alles- ins Nichtssagende, er verliert sich hier und da in albernes Geplänkel oder klebrigen Großraumkitsch, und das meiste, das sich da ausgedacht wurde und auf das angespielt wird, bleibt das Geheimnis der Macher". Seidler berichtet von "nicht wenigen Zuschauern", die den Abend früher verlassen, "es gab auch Buhrufe beim Schlussapplaus". Den Besuch lohne indes die Brassband Beat ’n’ Blow.
"Ästhetisch ist das mitunter schon toll", so Barbara Behrendt im RBB Kultur (24.11.2023) und lobt Bilder wie den fallenden Glitzerschnee. Mit dem Ensemble auf der Bühne allerdings könne Meirhaeghe offenbar nicht so viel anfangen. "Da ist die Volksbühne dann doch eine zu große und zu prominente Spielwiese für diesen jungen Regisseur."
"Hundert pausenlose Minuten lang assoziiert sich Meirhaeghe frei durchs semantische Feld von Werden und Vergehen, Anfang und Ende nebst der kleinen absurden Sinnlosigkeit namens Leben dazwischen", so Christine Wahl im Tagesspiegel (24.11.2023, €). Zu den wenigen Worten, die an diesem Abend gesprochen würden, gehöre "die Story von jenem Mann, der nicht mehr leben konnte, ohne zu wissen, was sich am Ende der Straße befindet, und, als er sie schließlich erreicht hatte, dort nichts als 'einen kleinen Haufen Kaninchenscheiße' vorfindet", berichtet die Kritikerin und resümiert: "Man darf diese Parabel durchaus als Bedienungsanleitung für den Abend verstehen: Den größten Spaß hat man hier, wenn man sich nicht die Sinnfrage stellt."
"Der Charme an Meirhaeghes Schöpfungsgeschichte ist die Freiheit, die sie den Assoziationen des Publikums lässt", äußert Eberhard Spreng auf Deutschlandfunk Kultur (25.11.2023). Und dennoch gelte auch hier wieder: "Der große Gestus wird veralbert." Man zeige, wie die Illusion fabriziert werde. "Insofern bleibt der junge belgische Künstler im sicheren postmodernen Fahrwasser", so der Kritiker weiter. "Das große Pathos seiner Schöpfung ist ohne Ironie nicht zu haben, also nicht ohne diese blöde Besserwisserei, die schon einsetzt, noch bevor Bild und Ton einen Rausch auslösen könnten."
"Vielleicht ist das ausgestellte Desinteresse für Handlungszusammenhänge auch Parteinahme für Vergeblichkeit", mutmaßt Vincent Sauer vom nd (26.11.2023). Er resümiert: "Der Abend an der Volksbühne bleibt ein loses, selbst-referenzielles Spektakel, an dem ein bisschen gekichert wird: Einfälle für eingeweihte Abgebrühte."
"Die Ironie ist Claessens liebstes Instrument, mitunter argwöhnt man: vielleicht sein einziges", so Michael Wolf in der taz (27.11.2023). "Damit passt er vortrefflich in diese Inszenierung, die das Heilige und Größte anruft, um es sogleich auf die Maße des Profanen und Mickrigen zusammenzustutzen." Regisseur Benjamin Abel Meirhaeghe arrangiere wunderschöne Bilder, "scheint jedoch weitaus mehr Freude daran zu haben scheint, die Nutzlosigkeit dieses Talents vorzuführen". Erzählen könnte es etwas, wenn diese Geste noch etwas Rebellisches aufwiese, wenn sie dem Zeitgeist nur ein wenig widerspräche. "Was aber will man dieser Tage mit einem Theaterabend anfangen, der stolz vor sich herträgt, dem Schönen zu misstrauen?"
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Die Zutaten für einen großen Abend wären beim Berlin-Debüt des belgischen Regisseurs Benjamin Abel Meirhaeghe durchaus da, aber die 100 Minuten kommen nicht über eine allzu beliebige und leider banale Aneinanderreihung von bekannten Bausteinen aus dem Performance-Baukasten hinaus. Der Text, den Bredehöft und Angerer zwischen den Ausdruckstanz-Parodien sprechen, passt auf wenige Seiten, Claessens beschränkt sich nach dem kaum versiegenden „Fantômas“-Redeschwall auf wenige Satzbrocken. Viel Prominenz und die Schauwerte der Kostüme können den enttäuschenden Abend nicht tragen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/11/23/death-drive-everything-everyone-ever-did-volksbuehne-kritik/
Unter komplexe Humor mit fast schon bezahlt wirkenden Lachern aus dem Publikum
Der helfen auch Peergroup und Claquere nicht weiter.
Und nebenbei an die Kritikerin. der Song war final Countdown und nicht eye of the Tiger
In der Kantine danach wurde viel diskutiert.
Klar, an diesem Abend dominierten die Bilder, aber das tut dem Theater gut. Bemerkenswert und bestimmt in der Auswahl zum Theatertreffen. Und das zu Recht.
Frau Kaempf, Sie beschreiben zunächst gut den Abend, haben ihn verstanden. Warum dann dieses bewertende Ende, das gar nicht zur Beschreibung passt?
Ich habe wie gesagt, einen tollen, innovativen Abend erlebt. DANKE!
Ich weiß, dass solch ein Abend nicht allen gefällt. Darum, Herr Seidler, habe ich ihre Kritik so positiv aufgenommen, weil sie den Abend beschreiben und auch bewerten. An dieser Stelle wird der Auszug aus Ihrer Kritik in der Berliner Zeitung leider nicht gerecht.