Diaspora Europa - Volksbühne Berlin
Diese geile, kruppstahlharte Sprache!
von Falk Schreiber
Berlin / online, 27. Januar 2021. Ein Babyfoto. Mit großäugigem, unverständigem Blick starrt ein Säugling in die Kamera, geschichtslos, ängstlich. "Wer ist denn das Baby da?", juchzt Dor Aloni, um gleich darauf selbst die Antwort zu geben: "Es ist Adolfchen aus der Familie Hitler! Vielleicht wird er mal Jurist, wenn er groß ist? Oder Tenor an der Oper von Wien?“ Oder er scheitert als Kunstmaler, wir wissen ja, mit wem wir es hier zu tun haben.
Identifikationspunkt: Kunst
Alonis Solostück "Hitler Baby One More Time" ist einer der beiden Performing-Arts-Beiträge zum Online-Festival "Diaspora Europa" an der Berliner Volksbühne: ein böser Blick des nach Deutschland eingewanderten Juden auf die vergiftete Beziehung zwischen ihm und seiner neuen Heimat. Im Grunde ein Selbstvergewisserungs-Stück: Aloni flirtet mit dem Publikum, reißt blöde Witze ("Wow, die Volksbühne! Das letzte Mal, dass ich so aufgeregt war, war bei meiner Beschneidung!"), er wütet, nimmt sich wieder zurück: "War nur Spaß!" Und erzeugt so ein konsequentes Gefühl der Verunsicherung: "Ich bin ein Lügner", beschreibt er seine Haltung an einer Stelle. Damit man ihm trotzdem glaubt, hält er seinen Aufenthaltstitel in Richtung Kamera. Das, was hier stattfindet, ist ein hochironisches Spiel mit Biografie und Lüge, mit Narration und amtlicher Beglaubigung, und weil Aloni ein Charmebolzen ist, lässt man sich auf dieses Spiel ein, auch wenn man weiß, dass man sich gerade um den Finger wickeln lässt.
Theater allerdings ist "Hitler Baby One More Time" vor allem in seinem Selbstverständnis als Spiel. Szenisch passiert wenig, mal verlässt der Performer die Bühne und setzt sich in den (leeren) Saal, mal spielt er eine angeraute Version des in den Achtzigern zum Discoheuler avancierten hebräischen Gedichts "Im Nin’alu".
Ansonsten? Beschränkt sich das Gezeigte auf die inhaltliche Ebene. Immer wieder befragt Aloni die eigene Identität: Wenn der Holocaust das identitätsstiftende Moment der israelischen Gesellschaft ist, was hat er denn dann für eine Rolle als Israeli mit jemenitisch-sephardischen Wurzeln? Weswegen sind die Bezugsgrößen von Walter Benjamin über Franz Kafka bis Sigmund Freud allesamt weiße, europäische Juden, während die eigene Physiognomie deutlich stärker ins Arabische tendiert? Dass Aloni als Identifikationspunkt die Kunst ausmacht, glaubt man ihm angesichts dieser Identitätsverwirrungen tatsächlich, auch wenn er die Kunst dann vor allem als Volksbühnen-Ästhetik von vor fünfzehn Jahren beschreibt. "Diese geile, kruppstahlharte Sprache!“, schwärmt er. "Die Sprache von Martin Wuttke und Adolf Hitler!“ – will man das von einem Juden hören? Und ist diese Frage, ob man das hören will, womöglich das, worum es in "Diaspora Europa" tatsächlich geht?
Wo verorte ich mich?
Eigentlich hätte das von Shelly Kupferberg und Tímea Junghaus kuratierte Festival vergangenen Mai stattfinden sollen, gemeinsam mit der Premiere "Die Ermittlung 2020", als künstlerischer Blick von Rom*nja, Sinte*zze und Jüd*innen auf die Bundesrepublik der Gegenwart. Die Corona-Pandemie zerschlug diese Pläne, ärger noch: Die Volksbühne wurde zur Kulisse für die gegen die Pandemiebeschränkungen gerichteten, mit antisemitischen Stereotypen operierenden "Hygiene-Demos". Plötzlich war das Theater nicht mehr unschuldig, sondern selbst ein Ort, der sich positionieren musste. Anders als am benachbarten Maxim Gorki Theater, das das Feld der eigenen Identität in migrantischen Gesellschaften immer schon bearbeitet hatte, musste man sich am Rosa-Luxemburg-Platz plötzlich sogar rechtfertigen: Ja, Identitätsfragen, das sind unsere Fragen. Und, nein, die Antworten der Querdenker vor unserer Tür sind nicht unsere Antworten.
Die Positionierung schaffen Kupferberg und Junghaus, freilich um den Preis, dass das Online-Festival kaum noch etwas mit Theater zu tun hat. "Hitler Baby One More Time" funktioniert über die forcierte Nähe des Performers zum (imaginären) Publikum, was auch durch die behutsame Kameraarbeit gefördert wird. Beim zweiten Bühnenstück "Durch Gärten" aber, einer Hommage an die jüdisch-russisch-chinesische Tänzerin Tatjana Barbakoff (1899–1944) durch die Choreografin Oxana Chi und die Musikerin und Wissenschaftlerin Layla Zami Zuckerman, versumpft das Gezeigte im Bühnendunkel. Was schade ist, weil Barbakoffs multiethnische und multikulturelle Biografie durchaus Perspektiven auf Kupferbergs Fragen "Wo verorte ich mich? Was bedeutet es, aus einer hybriden Identität in die Welt zu treten?" hätte eröffnen können.
"Sag du was zu Erinnerung, Jüdin!"
Was das Festival statt dem Theater prägt, ist entsprechend der Diskurs, hier in Form von Podcasts. Zwei dieser Podcasts kommen aus der "Position mit Abstand"-Reihe, die die Volksbühne im Sommer zur Abgrenzung von den "Hygiene-Demos" lancierte, Gespräche von Kupferberg einmal mit Mirna Funk und Max Czollek über jüdischen Alltag im heutigen Berlin, einmal mit Dotschy Reinhardt und Anja Reuss über fortdauernden Antiziganismus in der Bundesrepublik. Ein Thema, über das auch Netzaktivistin Sonja Kosche einen umfangreichen Vortrag hält. Außerdem gibt es einen Themencluster zu Opferrollen, das aus Vorträgen von Andreas Nachama und Emran Elmazi sowie einem Streitgespräch mit Gilda Nancy-Horvath, André Raatzsch und Lea Wohl von Haselberg besteht.
Gerade das Opferthema ist eines, das zurückführt zu Dor Alonis Theaterperformance zu Beginn: In "Hitler Baby One More Time" werden Rollen ausprobiert, und eine der Rollen, die dem Juden in Deutschland zugestanden wird, ist das Opfer. "Wie macht man sich von dieser Rolle frei?", fragt Aloni, und dann weiter: Ist der Opferstatus vielleicht auch eine Rolle, die ein empowerndes Element hat?
Beim Spiel mit diesen Rollen verliert sich das Festival ein wenig im Minenfeld der Identitätspolitik, aber es hilft nichts, man muss da durch. Weil ansonsten die anderen eine Rolle für einen bestimmen. "Der tote Jude ist der geliebte Jude", lästert Mirna Funk über den deutschen Blick auf sie. Und Czollek hinterfragt grundsätzlich die ethnisch aufgeladene Sprecherposition: "Sag du mal was zu Demokratie, Muslim! Sag du was zu Erinnerung, Jüdin! Sag du was zu Begehren, queere Person!" Was die Konstruiertheit von Identitäten deutlich macht.
Zur Auflockerung: die satirischen Videoclips Jews News Today. Oder ein paar Konzertmitschnitte, Sinti*ze Jazz und Gitarrenimprovisationen. Mit dem Musikprogramm greifen Kupferberg und Junghaus freilich tief in die Klischeekiste, das diskursive Niveau des Festivals ist da eigentlich schon weiter. Ein Witz: Woran erkennt man, dass auf einer Berliner Party Jüd*innen anwesend sind? Es läuft kein Klezmer.
Diaspora Europa
Online bis 31. 1., www.volksbuehne.berlin
Hitler Baby One More Time
von Dor Aloni und Raban Witt
Regie: Dor Aloni, Musik: Gil Abramov, Bühne: Mara-Madeleine Pieler, Kostüm: Christina Geiger, Dramaturgie: Valentina Tepel, Video: Benjamin Hassmann, Mohammad Poori.
Mit: Dor Aloni.
Dauer: 45 Minuten, keine Pause
Durch Gärten
Eine Hommage an Tatjana Barbakoff
mit Oxana Chi und Layla Zami Zuckerman
Konzept, Choreographie, Tanz: Oxana Chi, Vortrag, Live-Music: Layla Zami Zuckerman (Chalumeau, Saxophon, Loops, Wortkunst), Soundtrack: Ensemble Xinren, Videoprojektionen: lichiverein, Kostüme: Anjolita Arvandi, Huang Ning Fen, Maria Dorês Maués.
Dauer: 55 Minuten, keine Pause
Jews News Today
von Max Czollek, Tobias Herzberg und Moritz Richard Schmidt
Regie: Moritz Richard Schmidt, Drehbuch: Max Czollek und Tobias Herzberg.
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Ansonsten wirkt die ironische, 2019 entwickelte Performance über jüdische Identität unfertig und sprunghaft: ein Mix aus Stand-up-Comedy, die an angelsächsischen Vorbildern geschult ist und mit dem imaginären Publikum flirtet, und politischem Kabarett mit Seitenhieben auf die Querdenkerin „Jana aus Kassel“ oder die merkwürdige Obsession, dass jahrelang Guido Knopps „Hitlertainment“-Sachbücher die Auslagen der Buchhandlungen füllten und Bestsellerlisten dominierten.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/01/29/hitler-baby-one-more-time/