Kean - Frank Castorf versetzt Alexandre Dumas mit Heiner Müllers Bla bla
Sexy über den Kamm gescheert
von Nikolaus Merck
Berlin, 6. November 2008. Eine Viertelstunde nach Mitternacht ist der neue Castorf dann wirklich noch zu Ende gegangen. Nach viereinhalb Stunden fand unser Mann vom Luxemburgplatz, der ja nie Schluss machen kann, einen Endpunkt. Er nahm einfach den letzten Satz des "Kean" (1836) von Alexandre Dumas, etwas mit Genie und Leidenschaft, und ließ ihn von seinem ziemlich phänomenalen Hauptdarsteller Alexander Scheer aufsagen. Der Applaus danach war vor allem: erschöpft – und ein wenig erleichtert.
Wie auch anders, schließlich war wieder allerhand los gewesen auf der Bühne, die Hartmut Meyer als großen gemalten englischen Rasen mit kleiner half-pipe-artiger Welle nach vorne zur Rampe und großer Welle nach hinten zur Brandmauer hin ausgebaut hat. Dazu rechts ein Set steif flatternder Flaggen – zwei dänische, die der EU, zwei Union Jacks – und Steve Binetti, Mähne, hoher Haaransatz, wechselnde E-Gitarren.
Alle lieben Kean. Er liebt zurück.
Es geht um den großen englischen Shakespeare-Schauspieler Edmund Kean, also um Theatermacher hier und heute. Zeit: etwa 1830 bis in die Gegenwart. Dänisch geflaggt hat die Bühne wegen der Koefelds. Er, der Graf und dänischer Botschafter in London, steif und karikaturesk gespielt von Axel Wandtke. Sie, die Gräfin und Möchte-gern-Kean-Geliebte dargeboten von Jeanette Spassova, würdig, verführerisch und bei Bedarf saukomisch.
Zusammen mit Hauptdarsteller Scheer, der so ziemlich jeden Unsinn, der ihm und Castorf in den Sinn kommt, sofort auf hundertachtzig beschleunigt und mit qualmenden Reifen durch die spielerischen Kurven jagt, zusammen also mit Scheer, Georg Friedrich als dem knochentrocken österreichischen Kasinoschnarrton parlierenden Prinz von Gayles die schauspielerischen Schwergewichte des Abends. Nicht so schwer wie zu goldenen VB-Zeiten mit Henry Hübchen, Martin Wuttke und Sophie Rois, na klar, aber auch nicht so nichtssagend und profillos, wie man glauben könnte, wenn man nur Kritiken liest und nichts selber sieht.
Was passiert? Der Schauspieler Kean ist ein Star. Die Ladies und die Huren lieben ihn. Er liebt zurück. Das sieht bei Castorf aus wie immer. Die Damen hochhackig und mit wehenden Stoffen geschürzt (die Jungen kriechen, robben und heulen, die Arrivierten gehen aufrecht und reden). Kean geht den Frauen an die Wäsche, seltener handgreiflich, mehr rhetorisch, aber so oder so kommt er nicht weit.
Buntes Bla bla im Bi-ba-butze-Haus
Meistens verheddert er sich oder einer klopft. Dann muss, Dumas hat das so aufgeschrieben, Schrank auf, Schrank zu, "Wo ist meine Frau?" gebrüllt werden und das ist billigster Boulevard und arg amüsant. Weil wir als Kontrast immer noch die alte Volksbühne mitdenken, an der auch ernsthafte Dinge verhandelt wurden, und wenn dann die Spaßmaschine anlief, kam das überraschend und sehr frech daher. Heute lachen wir immer noch, Auslösereize genügen.
Die bietet der Abend reichlich. Aber auch Originelleres. Wenn Castorf etwa Übervater Heiner Müller endlich vom Sockel holt. Mit Hilfe dreier Bi-ba-butze-Häuschen, in die er einen Teil des Personals einsperrt, das Müller in Teil 4 der "Hamletmaschine", Pest in Buda, auffährt: den bla bla redenden Hamlet, einen Mann mit Regenschirm, die drei Frauen Lenin, Mao, Marx, zwei Soldaten, dazu noch regieanweisungsgemäß einen Kühlschrank, der diesmal ein alter Elektroherd ist. Das alles zusammen bewegt und schubst und drängelt sich in einem Häuschen von der Größe einer Umkleidekabine im Freibad und spricht dabei die "Hamletmaschine". Können Sie sich vorstellen, was von dem vor Selbstmitleid und Eitelkeit triefenden Pathos des Textes (der vor 30 Jahren seine Meriten hatte) da noch bleibt? Sehr wenig – ganz genau.
Die Destruktion des Müller-Denkmals bildet so etwas wie den konzeptionellen Höhepunkt, ästhetisch prickelnd sind die Auftritte des Rockstars Alexander Scheer. Sexy, sexy, wenn er zu "She's the Darling of my heart" mit dem Prinzen von Gayles ein verführerisches Po-zeige-Tänzchen aufführt. Das zeigt aber auch, dass der Abend über die Lieben des Schauspielers Kean und seine Nöte mit Suff und Moneten zwar sehr entspannt erzählt, es an Verdichtung oder Spannung aber fehlt.
Glamour-Boy in Unterhose
Von den revolutionären Zellen in den Unterwelts-Kneipen, von denen der Speisezettel des Theaters wissen will, ist schon gar nichts zu sehen. Keans Bande, die Wölfe, begnügt sich damit, Schiller zu sagen und Shakespeare zu zitieren, Kritiker zu veräppeln oder ein bissel Seifenreklame zu machen. Dafür gibt's Neuigkeiten von Alain Delon, telefonische Verhandlungen über ein Exil bei Uschi Obermaier in Kalifornien und familiäre Auseinandersetzungen mit Frau Kean alias Nico ("ich geh wieder zu Andy und Lou nach New York"), und zum Schluss wird Kean als Othello ans Stacheldraht-Kreuz geschlagen.
Streckenweise gelingt es Alexander Scheer, der meistens in Unterhosen unterwegs ist, den überlangen Abend zusammenzuhalten. Wenn er pausiert, kann es geschehen, dass Silvia Rieger in wechselnden Rollen die Zuchtmeisterin gellt und vorletzte Silben tanzen lässt.
Anzumerken bleibt, dass auch Lothar Trolle mit an dieser Inszenierung gebastelt hat. Von ihm stammen zwei Textpassagen, die von einem Pauper-Aufstand in London und dem üblen Schicksal eines am Webstuhl arbeitenden Kindes handeln. Ein anderes Licht werfen diese Erzählungen auf den Abend auch nicht.
Kean ou Désordre et Genie Comédie en cinq actes par Alexandre Dumas et Die Hamletmaschine par Heiner Müller
Textfassung: Frank Castorf/ Lothar Trolle
Regie: Frank Castorf, Bühne: Hartmut Meyer, Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes.
Mit: Luise Berndt, Steve Binetti, Andreas Frakowiak, Georg Friedrich, Irina Kastrinidis, Michael Klobe, Inka Löwendorf, Silvia Rieger, Jorres Risse, Mandy Rudski, Alexander Scheer, Jeanette Spassova und Axel Wandtke.
www.volksbuehne-berlin.de
Mehr über die Arbeit Frank Castorfs an der Berliner Volksbühne erfahren Sie etwa in den Kritiken zu seiner Inszenierung Hunde vom September 2008 und in der zu Die Maßnahme/Mauser vom März 2008.
Kritikenrundschau
In der Zeit (13.11.2008) holt Peter Kümmel weit aus, um "Kean" denkbar kurz, die Situation von Frank Castorf an der Volksbühne aber lang und genau zu beschreiben. Es ist so gekommen, wie es im März 1991 in einem Gutachten zur Zukunft der Berliner Theater beschrieben wurde, so Kümmel: "Castorf und sein Theater sind weltberühmt. Aber sie sind auch am Ende." Ihm seien nicht nur ein Ensemble entlaufen, sondern auch ein Stil: "Seine Handschrift ist heute Allgemeingut. Sie wird an unzähligen Theatern gefälscht – zwar schlecht, aber dafür dreist. Was einst er allein gemacht hat, machen heute alle." Castorf habe den Blick der Öffentlichkeit vom Kunstwerk auf den Kunsthersteller gelenkt. An seinem Logo, seiner Regiehandschrift, drohe er nun zu ersticken. "Es ist rapide aus der Mode gekommen. Seine Einzigartigkeit ist dahin. Und auch das öffentliche Wohlwollen hat ihn im Stich gelassen." Castorf und sein Dramaturg Hegemann schafften es, "dass ihrem Haus der Hauch des Undurchschaubaren und Unheimlichen anhaftete." Mittlerweile aber "hat sich die Lust der Öffentlichkeit am Doppelblick erschöpft." Das vielleicht größte Problem des Hauses sei, so heißt es weiter, Castorfs ungeheures Beharrungsvermögen. Und Kean? Den Abend hällt Kümmel "trotz eines tollen Hauptdarstellers" für einen grausam öden Abend. In manchen Momenten, "wenn der Spielzusammenhang völlig reißt, breitet sich jene Leere aus, die von schlechtem Stegreiftheater ausgeht."
Eva Behrendt, obzwar nach fünf Theaterstunden arg gebeutelt, von denen sie nur drei ziemlich genüsslich fand, ahnt in der Frankfurter Rundschau (8.11.2008), dass Frank Castorf, der "Sohn des Eisenhändlers und gebeutelter King vom Rosa-Luxemburg-Platz", an diesem Abend an Alexandre Dumas' historisch verbürgtem Helden im Grunde sein "eigenes Künstlerdrama und -trauma verhandelt" hat. Und zwar "mit allen Eitel- und Parteilichkeiten, Minderwertigkeitsgefühlen und Überlegenheitsansprüchen, die dieser Job nun mal so mit sich bringt." Davon nämlich hat ihr dieser Abend "ausschweifend und wild" erzählt, und zwar endlich mal wieder mit echtem Volksbühnen-Esprit.
Castorf sei mit "Kean" ein großartiger, "lässiger, intelligenter, über lange Passagen komischer und gleichzeitig ungeschützt melancholischer Abend gelungen", lobt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (8.11.2008). Die knapp fünf Stunden sorgten bei ihm mal wieder "für den hellwachen, leicht euphorisierten Zustand, der die langen Nächte im Castorf-Theater in den guten Jahren der Volksbühne zu legal erhältlichen, leichten Drogen mit den schönsten Nebenwirkungen machte". Auch Laudenbach sieht Castorf hier (und zwar völlig larmoyanzfrei) die eigenen Künstlerproblematik verhandeln und fragt sich, ob dieser frische, gelöste und auf eine sehr entspannte Weise komplizierter Abend wie dieser nur möglich war, "weil Castorf sich nicht mit netten Tricks über seine Krisen-Phase hinweggemogelt, sondern sie ohne Rücksicht auf Verluste ausgestellt hat. Offenbar hat sich der Mann, der das Theater in den letzten zwei Jahrzehnten wie wenig andere verändert hat, an diesem Abend noch mal neu erfunden".
Auch auf Christine Wahl, die sich den Abend für den Berliner Tagesspiegel (8.11.2008) angesehen hat, wirkt "Kean" verglichen mit den letzten Castorf-Inszenierungen überraschend frisch: als hätte man der "Volksbühne eine Vitalitätsdroge gespritzt". Zwar gilt das Lob der Kritikerin bei weitem nicht uneingeschränkt und schon gar nicht durchgängig, "aber immerhin über geschätzte fünfzig Prozent des knapp fünfstündigen (!) Abends – und eigentlich fast immer, wenn Alexander Scheer auf der Bühne ist". Auch könne man der Inszenierung einiges vorwerfen. Zum Beispiel die Einspeisung und Zerlegung von Heiner Müllers "Hamletmaschine", die für Christine Wahl zwar lustvoll aber komplett sinnfrei ausgefallen ist.
Euphorische und quälende Momente protokolliert Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (8.11.2008). Wobei es wohl gerade die quälenden Momente sind, denen er die tiefsten Einblicke in die verhandelte Problematik verdankt: nämlich das Abschreiten, ja das Wühlen im Grenzbereich zwischen Leben und Kunst. Am besten funktioniert der Abend für Seidler, "wenn er in der Theater-im-Theater-Situation von Dumas bleibt". Aber ein Castorf-Abend soll ja nicht funktionieren, sondern irgendwie kaputt sein. Wie immer würden deshalb zur Irreleitung der Zuschauer mehr Assoziationen angestoßen als verfolgt, was mal besser mal schlechter für ihn funktioniert. Das Konkreteste sei die Verkörperung des titelgebenden Jahrhundertstars durch den Star des Abends: "Alexander Scheer nimmt die Bretter maß, als wäre es tatsächlich das letzte Mal ... Ein sau-cooler Tölpel, wie ihn diese Bühne und dieser Regisseur braucht – einer wie Henry Hübchen, Martin Wuttke, Milan Peschel."
"Nicht nur keine Antworten, gar keine Fragen", stellt die Inszenierung nach Auffassung von Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.11.2008), die den Abend "so drollig wie altbacken", "so verkrampft wie leer" empfand. Aus ihrer Sicht illustriert Castorf "die turbulente Handlung um "den historischen Theaterstar, der aus der Gosse kam und selbst den Hochadel begeisterte, der ein wüstes Privatleben und ein ebenso leidenschaftliches Kunstverständnis pflegte" zwar halbwegs konsequent, doch "wie immer stärker an Bildern und Gags interessiert als am Verlauf der Geschichte und deren Protagonisten", weshalb "die kleinen Szenen zum Verhältnis von Sein und Schein, Leben und Theater" auf sie eher wie Pflichtübungen wirken. Zwar konstatiert Bazinger an Castorfs Regiestil auch eine gewisse Altersmilde, findet aber insgesamt, dass "der müde Regierebell" über "das Publikum und seine Stars, über soziale Ordnungen und den Kunstbetrieb" inzwischen nichts mehr mitzuteilen, sondern daraus höchstens ein bisschen Schaum zu schlagen wisse.
Nicht begeistert zeigt sich von dieser "bunten theatralen Nummernrevue" auch Hartmut Krug im Deutschlandfunk (8.11.2008). Aus seiner Sicht surft Castorf hier "mit seinen bekannten Slapstickiaden und Trash-Effekten durch die Szenen", so dass zum Beispiel der "mit intellektuellem Pathos tief gründelnde Text von Müller" plötzlich peinlich komisch wirken würde oder, "wenn er von sich in einem winzigen Papierhäuschen drängelnden Schauspielern geschrien" werde, "wie vieles an diesem traurigen Abend" inhaltlich wie akustisch kaum verständlich werde. Insgesamt findet Krug den Abend "grell, laut und formlos".
Frank Castorf zeige in "Kean" "das Theater, sein Theater, als Selbstzerstörungskunst", schreibt Anne Peter in der tageszeitung (10.11.2008). "Der 'Gaukler', wie Dumas ihn nennt, ist darin Märtyrer für die Masse", einer, der sich "opfert fürs Publikum, das ihn kunstkonsumistisch umrauscht". Castorf nehme "den Protagonisten Kean bitterernst" und zerre sich ihn "als Alter Ego und Chiffre des in seiner Exzessivität typischen Volksbühnen-Akteurs auf die Bühne", während "die ihn vampiristisch umschwirrenden High-Society-Figuren der Lächerlichkeit" preisgegeben würden. Der "Herr vom Rosa-Luxemburg-Platz" mache "die von außen diagnostizierte Krise seines Schaffens produktiv und rotzt lustvoll zurück: Ja, scheint dieser Abend zu sagen, wir sind vielleicht am Ende, aber ihr, die ihr uns aussaugt, habt Anteil daran."
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Pardon, naiv finde ich die Vorstellung, der ja auch der Kritikenschreiber von nachtkritik anhängt, dass ein Text wie Hamletmaschine in der Ausdehnung von ca. einer Stunde in einen Theaterabend implementiert wird, nur um den Text zu zerstören oder zu demontieren. Was für eine lächerliche Idee: Theater als Textbewertungsanstalt. Das ist eine Vorstellung, der wirklich nur ein Kritiker (oder eine ähnlich theaterferne/theaterblinde Person) verfallen kann. Theater als Diskursmaschine, zum Zweck des Austauschs von einfachsten Meinungen über komplexe Theatertexte, Papier schlägt Papier usw. Das wäre wirklich ein trauriger Gebrauch der Möglichkeiten von Theater, der Möglichkeiten von Schauspielern. Eine Negation oder eine Widerlegung der HM kann man wirklich einfacher haben, meinen Sie nicht? Die Hamletmaschine absolut textgetreu wiederzugeben und furios zu spielen – nur um zu sagen, sie sei obsolet, das ist keines Theatermenschen und keines Zuschauers würdig. Und meinen Sie nicht auch, dass das Theater anderes zu tun hätte in diesen desolaten Zeiten als solche Papierschlachten zu schlagen?
Ich meine, dass hier auch wirklich etwas anderes intendiert (und auch ein bisschen erreicht) ist. Nämlich die Analyse der psychischen Dispositionen (von uns allen) im Zeitalter einer asozialen gesellschaftlichen Situation, die sich immer weiter globalisiert und universalisiert. Kean ist ein ganz normales aktuelles Subjekt der westlichen Welt, das sich vergeblich zu individualisieren versucht. Nicht zufällig werden an diesem Abend seine Anstrengungen und Verrenkungen, der snobistischen High Society-Gesellschaft unserer Gegenwart etwas entgegenzusetzen im Genre des Boulevard abgehandelt, es handelt sich nämlich um ebenso triviale wie vergebliche Versuche einer gesellschaftlich totalen/totalitären Lage zu entkommen. Wie wir alle (und natürlich auch Castorf, der wenigstens darauf reflektieren will) versackt Kean bis über beide Ohren in den sumpfigen uneigentlichen Landschaften der Pseudoindivualität, mit denen uns eine marketing- und marktgeprägte Konsumwelt mit ihrem präpariertem Geschwätz durchdringt. Dieser Gegenwartsbedingung können wir augenblicklich nur schwer entkommen. Die unbewusste Ideologie (!) einer demokratischen und liberalen Gesellschaftlichkeit mit hohem Freiheitsgrad, die von der Entwicklung von Individualität begleitet wäre, durchtränkt uns alle, ohne dass wir uns dessen bewusst werden können. Real sind jedoch die Entfaltungen unserer Lebensmöglichkeiten zu weiten Teilen beschränkt auf sehr unreife Nachahmungen gestanzter Identitätsbausteine (das bedeutet der Pop-Diskurs oft an der Volksbühne) und auf illusionäre Selbstkonstruktionen, die aufgrund des Fehlens einer menschenwürdigen und auch nur in den grundlegendsten Elementen intakten sozialen Welt dort stehen bleiben, wo die Subjekte am Ende ihrer unzureichenden Kindheit stehen. Eine (Weiter)Entwicklung (oder ein Erwachsenwerden), wie sie in gesünderen gesellschaftlichen Lagen (an anderem Ort, zu anderer Zeit) möglich waren, ist heute leider so gut wie ausgeschlossen. Wie (in P.S.) gesagt gilt das auch für die Reichen und Schönen dieser Welt (die Keans, die Stars und auch die Reichen), denen zumeist auch nicht bewusst wird, dass sie ein armseliges Operettenleben führen und dass ihre Kinder ebenso in einer infantilisierten und falsch (weil unmenschlich) rationalisierten Welt landen werden. Darum ist es dieser Kean-Inszenierung zu tun, ebenso wie H.M. mit seiner HM.
Wie um alles in der Welt kommen Sie, aber mit ihnen auch Dutzende von Müllerforschern darauf, dass der Terrorismus (und auch derjenige der RAF) für Müller in irgendeiner Weise zum Gegenentwurf zu dieser gesellschaftlichen Situation taugen würde? Vielmehr ist die RAF ein absolut integraler Bestandteil dieser Psycho-Logik und ist lediglich eine weitere gewalttätige Variante in einem regressiven Kampf um Macht usw. Der Hass und die Rache, aus der es auf den existierenden psychischen Fundamenten kein Entrinnen gibt, haben auch die Besserwisser und Rechthaber des Linksradikalismus seit je felsenfest am Wickel. Hamlet/H.M./Kean sind Figurationen eines (internalisierten) Systems, das auf Rache und Hass basiert und jede Form von Verarbeitung und Entwicklung verhindert, ebenso wie Ophelia/Elektra/RAF. Sie stecken in der genau gleichen Situation einer psychosozial festgebannten Welt, wie die Machtausübenden und sie verhalten sich nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten. Bitte lesen sie dazu noch mal den Teil der HM, in der es heißt: "Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber." Das erkannt zu haben unterscheidet diese HM erfreulich von einigen vorhergehenden Inszenierungen, die Müller eine Gewaltsympathie in Richtung RAF andichteten. Und übrigens: noch alle Texte der Literatur sind Objekte und Mittel der Erkenntnis, und nicht immer fallen die Schwierigkeiten eines Interpreten ineins mit der Offenheit eines Textes. Hamletmaschine ist für eine produktiv den Leser/Zuschauer herausfordernde Offenheit eines Textes ein wunderbares Beispiel, gerade weil man an ihr zeigen kann, wie präzise und scharf geschnitten die Bezüge auf historische, wie auf psychische Wirklichkeit sind. Erst in solch einem Rahmen macht Offenheit überhaupt Sinn. Man muss schon etwas verstehen können, um noch mehr zu verstehen. P.P.S.
Unbedingtes JA, das ist wirklich einmalig.
Hoffentlich bleibt es nicht auf dieser Metaebene,
denn der Diskurs sollte zuerst auf die Theater wirken, dann auf die Zuschauer und am Ende vielleicht ein wenig auf da "draußen".
herzlichen Dank für Ihre umfangreichen Nachschriften zu meiner und anderen Kritiken des Castorfschen "Kean".
Ich finde Ihre Analyse der gegenwärtigen Situation sehr lesenswert. Die Lehren der Frankfurter Schule auf die Gegenwart anzuwenden, gefällt mir persönlich sehr gut.
Nur: die Unterscheidung "der kollabierenden Situation am Ende von zwanzig Jahren neoliberalen Markt-fundamentalismus" und bei Ihnen seltsam namenlos bleibenden "gesünderen gesellschaftlichen Lagen" leuchtet mir nicht recht ein. "Gesellschaftliche Fehlentwicklungen", "Barbarisierung der sozialen Kultur" und "Infantilisierung der Subjekte" wären also Konsequenzen von 20 Jahren monetaristischem Kasinokapitalismus?
Ich sehe das anders.
Die "Verdinglichung" dürfte sich doch wohl schon früher "tief in den stehen gebliebenen Psychen der Subjekte eingenistet haben", jedenfalls werden Sie Mühe haben, den Anfangspunkt dieser Entwicklung in der Zeit der Vereinigung der beiden Deutschländer zu orten. Die Verdinglichung war wohl kaum weniger weit fortgeschritten als wir beide noch 20 Jahre jünger waren, oder? Auch unsere Kindheit wird kaum weniger "unzureichend" gewesen sein, als die unserer Kinder, oder sehen Sie das anders?
Was allerdings noch nicht so weit fortgeschritten war zu dieser Zeit, war mein Misstrauen gegenüber den großen Worten des Heiner Müller. Ein Umstand, der angetan ist, Sie in Rage zu bringen. Ich finde Ihren Hinweis, dass Castorf wohl kaum ausführlich die Hamletmaschine spielen ließe, wenn es ihm allein darum ginge, diesen Text zu demontieren, sehr bedenkenswert. Da habe ich mich zum einen nicht deutlich ausgedrückt, zum andern aber vielleicht auch nicht weit genug denken können beim Schreiben in der Nacht. Denn, natürlich bin ich Grund und Zweck schuldig geblieben, aus dem Castorf die HM demontiert hat.
Ich stelle mir allerdings vor – nun kenne ich FC ja nicht so gut, wie Sie ihn zu kennen scheinen, der Sie tiefen Einblick in seine Intentionen zu nehmen wissen – dass FC, der ja immerhin den Heiner Müller jahrelang als einen mal mehr, mal weniger gepriesenen Hausheiligen geführt hat, tatsächlich versucht hat, die "Hamletmaschine" in Stellung zu bringen gegen den Ungeist der Zeit. Und dann auf Sätze stieß wie: "Ich breche mein versiegeltes Fleisch auf", "Ich nehme Platz in meiner Scheiße" und darüber selbst sehr lachen musste.
Ich bitt' Sie, bei aller Sympathie für den zerrissenen Intellektuellen, der auf die eigene Zerrissenheit und die eigenen Schuldgefühle reflektiert, aber kann man solch dröhnendes Sprechen heute noch für das ultimative dramatische Reflexionsniveau betrachten?
Dass Sie zu Meyers Umkleidekabinen die Müllerschen "Fickzellen" assoziieren, in denen lächerliche Figuren uns unser "Schicksal" vorspielen, nämlich "ewiges Wiederholen von Rache, Neid und Groll" sei Ihnen unbenommen. Apodiktisch zu erklären, das und nur das könne man in der Szene erkennen, halte ich für unangemessen. Ist die Interpretation eines Castorf-Abends grundsätzlich offen oder ist sie geschlossen?
Schauen Sie, lieber P.S., die "Hamletmaschine" taucht im Kean doch an ganz bestimmten Stellen auf: einmal wenn der völlig besoffene Kean an die Rampe geführt wird von Salomon; wenn die Schauspiel-Elevinnen unter den Tüchern loslegen und Kean schreiend davon läuft; und dann eben in den Badehäuschen/ Fickzellen. Alles drei Momente, in denen die Sprechenden sich unmöglich machen, um es mal verkürzt zu sagen, oder nicht bei sich sind. Müsste man dann nicht behaupten, wollte man Ihre Thesen wirklich aus der Inszenierung und nicht bloß aus dem ableiten, was Sie dazu assoziieren, so wie ich assoziiert habe, müsste man nicht also sagen: Nicht die Figuren sprechen (Kean, die Frauen, das Ensemble), sondern es spricht aus Ihnen das kollektiv Verdrängte, Unabgegoltene, die höhere (müllersche) Einsicht? Und ist das wirklich so unbezweifelbar, dass es jeder, der nicht "theaterblind" oder eben ein Kritiker ist, sofort einsieht?
Das sind ein paar meiner Fragen.
Mit herzlichem Gruß
nikolaus merck
noch ein hinweis zum stück: wenn große irrtümer erkannt werden, braucht es auch mal eine stunde, um sie auszuräumen. vielleicht hat castorf den großen schönen irrtum müller erkannt, den kann man nicht in zehn minuten wegräumen, das braucht schon ein bisschen. außerdem wird ja nicht einfach müller weggeräumt, sondern mit ihm die schöne hoffnung, die hoffnungslosigkeit sei eine welthaltung.
Es tut mir sehr leid, aber wir werden wohl nicht zusammenkommen. Ich meine in meinem Widerspruch sehr wohl, und das ist ja hier und heute eine unbestrittene Wahrnehmung, dass 25 Jahre Neoliberalismus unsere gesellschaftliche Situation beispiellos ruiniert haben. M.E. befinden wir uns im freien Fall, jede Art von sozialer Welt außerhalb von Golfklub und Suppenküche ist nämlich erodiert, das Kommunikationsklima durch Hartz und andere Repressalien vollständig gegen die Wand gefahren. Keiner zeigt mehr, wie er lebt und wie seine Lebenslage ist. Und wo Menschen nur noch einen rudimentären Austausch haben, fallen sie zurück auf kindliche Schichten der Psyche und öffnen sich (schutzlos) für verdinglichende Medieneinflüsterungen. Das meine ich. Die Beschreibung ist ganz aktuell gemeint und bitte nicht zu verwechseln mit Kategorien aus der Dialektik der Aufklärung.
Die Sätze, die Sie zitieren aus der Hamletmaschine, reizen mich nicht im Geringsten zum Lachen. Da könnten Sie ja so ungefähr jeden Satz poetischer Provenienz aus seinen Zusammenhängen herauslösen und lachen. Das sagt doch nichts über einen Text, der Lichtjahre von Ihrer/unserer Selbstzufriedenheit entfernt ist, das sagt doch nur etwas über unsere „Versiegelung“. Vielleicht ist es nicht ganz von ungefähr, dass Sie sich diese Sätze vom Leib halten wollen. Lauten sie doch im Kontext so, dass sie nicht erträglich sind für einen erwachsenen denkenden Menschen, der weiß, wie viel Gewalt in unseren Gegenwartsverhältnissen steckt – ist es doch gerade nach diesen 25 Jahren spürbar wie nie zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
„Ich breche mein versiegeltes Fleisch auf. Ich will in meinen Adern wohnen, im Mark meiner Knochen, im Labyrinth meines Schädels. Ich ziehe mich zurück in meine Eingeweide. Ich nehme Platz in meiner Scheiße, meinem Blut. Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße. Irgendwo werden Leiber geöffnet, damit ich allein sein kann mit meinem Blut.“
Ich kann in Ihrer Dringlichkeit diese Verse als lachhaft und das Theater Heiner Müllers als veraltet zu denunzieren leider nichts anderes erkennen als eine hysterische Abwehr, ist es doch annähernd jedem Zeitgenossen klar, dass wir uns mitten in einem Prozess befinden, der die erforderlichen (Menschen-)Opfer sehr sehr nah an uns heranrücken lässt. Im Unterschied zu einer noch ‚idyllischen’ Zeit von vor 20 Jahren ist heute in diesem Land jedem Arbeitnehmer klar, dass er innert eines Jahres ganz unten sein kann – und dass er dann sehr allein sein wird. Der Luxus in unserer Scheiße zu wohnen und es selbstvergessen zu genießen, ist nur durch eine sehr dünne Membran davon entfernt wirklich in der Scheiße zu wohnen, weil man nämlich aus der sozialen Welt heraus gefallen ist. Diese Grundbedingung der Existenz hat dazu geführt, dass wir hierzulande keine soziale Welt mehr haben, die Menschen verbindet und zusammenführt – sondern eine ausgehöhlte Simulation von sozialem Funktionieren, die mitzumimen jeder gezwungen ist, die uns jedoch gefangen hält wie in einem Alptraum. Das führt zu einer Betriebsamkeit ohne Sinn und Verstand, und vor allem ohne Gefühl für sich selbst. Das manisch-depressive hastige Hin- und Herrasen zwischen den Teilwelten bringt die Leute tatsächlich in einen pathologischen Zustand, in dem sie ungefähr dort landen, wo die Verse ihn verorten: im Nichts, im totalen Rückzug, in der inneren Isolation, in einer bestialischen undurchschaubaren Entfremdung. Heute bricht das versiegelte Fleisch von selbst auf – nicht zuletzt lese ich Ihre Abwehr als ebendiesen Vorgang – und dann sehen wir uns nackt in dieser unentwickelten und unreifen Welt sitzen, wie ein Baby in seiner Scheiße. Denn was machen wir denn mit unserem ganzen Reichtum und unserem Wohlstand? Überwiegend Scheiße.
aus Ihren Sätzen lese ich vor allem Verbitterung, aber Verbitterung ist noch keine Gesellschaftsanalyse, vor allem dann nicht, wenn Sie ihre eigene Verbitterung zum allgemeinen Maßstab erheben. Wenn Sie sozialen Zusammenhalt nur noch in Golfklubs und Suppenküchen vermuten, fehlt es Ihnen an Welt. Vermutlich leben Sie ausschließlich in Theater-Welten, bzw. Müller-Welten. Für mich gibt es durchaus noch andere soziale Zusammenhalte, auch wenn der Neoliberalismus viel kaputt gemacht hat. Sie sollten erst lernen,die Welt zu sehen, und dann mit Texten auf die Welt schauen, nicht umgekehrt. Aus Ihren Zeilen spricht aber nicht nur Weltarmut, sondern auch eine große Selbstgerechtigkeit - und das ist das, was der Neoloberalismus vor allem geschafft hat, solche Selbstgerechtigkeit. Sie legen sich die einfachste Position zurecht, die man haben kann, das Weltbeschimpfen, die Schuldzuweisung. Sie nehmen sich aus, sie machen es sich in einer Verzweiflungsecke bequem und als Rechtfertigung benutzen sie Müllers Texte. Das macht mich sehr misstrauisch, denn das ist genau die Haltung der Neoliberalen selbst, nur dass sie auf andere verweisen. Überwiegend scheiße ich nicht die Welt, sondern unsere - Ihre - Haltung dazu. Gehen Sie mal raus ohne Müller zu lesen, schauen sie auf die Menschen und lesen sie dann - es gibt eine Welt jenseits der Kantine, und die ist nicht so simpel gestrickt wie die, die Sie uns hier erzählen wollen. Es erinnert doch alles sehr an eine bestimmte Form von Belehrungstheater, das Sie hier vertreten. HAben Sie überhaupt noch Fragen an sich, die Welt, an Müller, an Castorf? Scheint nicht so zu sein, und das ist dann wirklich der freie Fall - in die Dummheit.
Ich halte eine unserer Differenzen fest: die Lage unserer Gesellschaft ist katastrophal; darin stimmen wir noch überein.
Sie indes denken, sie sei erst katastrophal geworden in den letzten 25 Jahren. Und ich denke, sie war es schon.
Sie können zu dieser Einschätzung, die Sie selbst für ganz und gar fraglos halten, nur kommen, weil Sie die Welt, mit Verlaub, von Ihrem Bauchnabel aus betrachten. Eurozentristisch. Dass es 80 Prozent der Menschheit schon miserabel ging, als Sie noch nicht in Ihrer "Scheiße Platz nehmen" mussten, kommt Ihnen gar nicht in den Sinn. Müller sah da klarer und schrieb es auch klarer auf.
Das ist das eine.
Zum anderen scheint es in der Tat so, dass wir nicht zusammen kommen können, weil Sie, je länger Sie argumentieren, desto grundsätzlicher werden, aber die Szene, von der wir ausgingen, im gleichen Maße außer Acht lassen.
Wie es sich im übrigen mit der hysterischen Abwehr der Hamletmaschine durch den Kritiker, also mich verhält, vermag ich naturgemäß selbst nicht zu beurteilen. Mit Müller gesprochen: Die Hand ist halt oft hysterischer als der Kopf.
Keine Sorge, ich kann ihnen versichern, dass ich ein überaus heiterer und fröhlicher Mensch bin. Trotzdem verschließe ich meine Augen nicht vor der Wirklichkeit. Und ich beschimpfe gewiss nicht die Welt, deren Schönheit mir den Atem verschlägt - ich beschimpfe diejenigen, die sie zu dem machen, was sie heute ist – für die meisten Menschen zumindestens: ein Ort, an dem die Angst regiert. Und die Angst verschließt uns die Augen für die Schönheit der Welt.
Und vielen Dank für die große Belehrung – die sie mir zuteil werden lassen: über mich!
Da ist es wieder einmal geschafft: Sie haben wieder alles auf ein Individuum geladen, das ist die Übung, die man hierzulande rauf und runter exerziert. Die will nicht arbeiten, der ist faul, die ist ein Parasit und der ist krank – oder eben wirklichkeitsfremd. Wann immer man etwas Gesellschaftliches äußert wird man als weltfremder Spinner und verbitterter Sonderling zurechtgewiesen. Schuld ist immer der Einzelne. Darin spiegelt sich gerade unsere Asozialität. Ich hoffe, die Leute lassen sich diesen Humbug nicht mehr viel länger vormachen, denn vielen, die in diesem Land wirklich verbittert sind, erzählt man ununterbrochen, dass sie selbst schuld sind an ihrem Unglück, an ihrer Arbeitslosigkeit, an ihrer Isolation, an ihrer Hässlichkeit, an ihrer Armut… aber es stimmt ja gar nicht! Es ist die eindressierte Sicht der brainwashed people…die wir alle (mehr oder weniger) sind.
Was genau ist eigentlich Ihr Problem?
Heitere Grüße aus der dem Untergang geweihten Welt,
Ihre Ilse
Private Pöbeleien und sehr unkorrekte und unfaire Überschriften vom Webmaster über die Diskussions-Beiträge gesetzt. Geht eigentlich hier jeder thread so zu ende?
Ich war am Wochenende im KEAN.
Über weite Teile war es großartig.
Das lag nicht nur an Scheer sondern auch besonders an Jeanette Spassova!!! Nicht alle großen Volksbühnen-Stars rennen weg, denn groß sind nicht nur die, die ihr jetzt alle in der Glotze sehen könnt!
Danke.
Zweimal wird er vor der Pause zitiert. Das erste Mail durch Kean/Scheer, der daraus eine Auseinandersetzung mit seinem Beruf, seiner Berufung vielleicht und seiner Rolle - im Leben wie auf der Bühne - macht. Hier geliengt es, mit dem text, dem Charakter Kean eine zusätzliche Dimension, ja Tiefe zu geben, die ihn und auch seine späteren Handlungen, in anderem Licht erscheinen lässt. Das zweite Auftauchen ist eine gelungene Parodie, vorgetragen von jungen Damen, die Kean aufsuchen, um Schauspielerinnen zu werden. Dabei hätte man es bewenden lassen können. Nicht jedoch Castrorf: Er such die ernsthafte, vielleicht auch ideologische Auseinandersetzung mit Müller, jetzt völlig ohne Scheer.Und plötzlich ist es ein Brüllen und Ringen, das ernst genommen werden will, aber kein Sinn zu vermitteln vermag. Theatersort, Deklamationstheater, wie schon in der ersten Szene, als die Figuren ihre Texte aufsagen, gewollt künstlich, neben und nicht zueinander.
Der Abend ist dann am stärksten, wenn man ihn Theater sein lässt. Tragödie, Komödie, Farce, Boulevard - egal! Die Castorfschen Zutaten - Trolles Texte, Frau Keans Verwandlung in Nico, Keans Telefonat mit Uschi Obermaier - geschenkt. Wenn Castorf die Szenen laufen lässt und die Darsteller spielen, entfaltet sich plötzlich ein Schauspiel über Rollen und die Wahrheit dahinter, über gesellschaftliche und private, auch über Klassenunterschiede, über das Festhalten von Gesellschaften jeder Art an Rollenbildern. Das mag nicht sonderlich originell sein, es mag auch nicht den intellektuellen Anspruch einiger hier - auch Castorfs? - nicht erfüllen, bietet aber in einigen Szenen, das, was die Volksbühne will: Theater mit Relevanz. Nicht meht, nicht weniger.