Große Gesten im Gruselkabinett

7. Mai 2023. Der gleichnamige Film war das Vorzeigestück, mit dem Thomas Vinterberg und Mogens Rukov 1998 das berühmte Dogma-Manifest beglaubigen wollten, das eine Art Keuschheitsgelübde gegen zu viel Effekt und Overacting im Kino war. Die Regisseurin Bettina Jahnke lässt das für das Theater offenbar nicht gelten.

Von Stephanie Drees

"Das Fest" in der Regie von Intendantin Bettina Jahnke am Hans Otto Theater Potsdam © Thomas M. Jauk

7. Mai 2023. Ganz am Anfang ist der Befreiungsschlag und das mit dem Schlag muss man hier wörtlich nehmen. Es ist eine Mischung aus Nachzügler-Kinnhaken, Triumph-Geste und Abschied nach dem Abschied. Der Vater, der einstige Familienpatriarch, ist tot. Der Verbrecher ist von der Lebensbühne abgetreten. Aber seinem Sohn Christian, einem Mann in der Mitte seines Lebens, reicht das nicht.

Brutale Nähe

Mit voller Wucht schleudert er die Asche seines Alten aus dem Gefäß. Die Überreste des Vaters bilden eine Wolke und dann einen Haufen auf dem Boden, das ist ein eindrucksvolles, kleines Bild: Die Asche des Vaters im gleißenden Bühnenlicht. Ein knappes "OH!", hört man aus dem Publikum, und klar: Das Ganze ist super-plakativ, aber das Plakative passt zu diesen Figuren sehr wohl. Tatsächlich ist dieser Moment einer der stärksten, die der Abend zu bieten hat. Leider tritt kurz danach die gesamte Familie auf. Es geht zurück in die Vergangenheit, ein alles verändernder Abend wird erzählt. Und die starken Bilder werden Mangelware.

Auf und um den väterlichen Aschehaufen herum wird in den nächsten zwei Stunden getrampelt, getanzt, gesoffen und (bisschen, andeutungsweise) geprügelt. Es geht in "Das Fest", dem berühmten dänischen Film, mit dem Thomas Vinterberg und Mogens Rukov 1998 das Dogma-Manifest von 1995 im wahrsten Sinne beglaubigen wollten, um harten Tobak: in leicht körnigen Bildern, von einer Handkamera mit brutaler Nähe eingefangen. Mit Schauspieler:innen, die Situationen durchhalten, bei denen an anderen Sets wegen einer "falschen"Geste, eines unpassenden Blicks, der Dreh bereits abgebrochen worden wäre. Sieht man diese Ästhetik zum ersten Mal, kann einem manches lachhaft und leicht dilettantisch vorkommen. Diese Geschichte als grob gemeißeltes Ding, das in seiner Optik mitunter an selbst gemachte 1990er-Camcorder-Familienvideos erinnert? Ja.

Unerträgliche Ambivalenz

Auf dem 60. Geburtstag des Hotelier-Vaters hält der Sohn Christian vor versammelter Großfamilie und Landelite eine Rede, in der er den jahrelangen sexuellen Missbrauch seines Erzeugers an ihm und seiner Zwillingsschwester offenlegt. Der Realismus, der hier Figuren in ihrer fast unerträglichen Ambivalenz, ihrer Impulsivität, ihrer Verlorenheit ausstellt, erzeugt diese seltsame Nähe zum Geschehen. Du wirst zum Voyeur, komm klar damit!

Fest 3 Thomas M Jauk uFamilienaufstellung auf der Geburstagsfeier des Patriarchen © Thomas M. Jauk

Die Inszenierung von HOT-Intendantin Bettina Jahnke ringt um diese Unmittelbarkeit, mit einem Ensemble, das sich aneinander abarbeitet. Psychologische Einfühlung und große Gesten sollen eine schwarzhumorige Tiefe unter der Epidermis des Figurenstereotyps durchscheinen lassen. Unter dem riesigen Kronleuchter, im Zentrum des als Familienunternehmen betriebenen Hotels, tritt als langsam lebendig werdendes Sippschaftsfoto ein in Schwarz gekleidetes Gruselkabinett an.

Weitermachen, weiterlügen, weiter, weiter.

Da ist Vater Helge (Joachim Berger), ein jovialer, schmutzige Witze reißender Patriarch, der seine Kinder gekonnt mit Geld, Status-Upgrades und viel Macht manipuliert. Da ist die verdrängende, den Täter-Vater schützende Mutter Else (Janine Kreß), über die Bühne trippelt sie, versprüht vergiftetes Lob. Dann: der seinen Selbsthass durch Gewalttätigkeit kompensierende, jüngste Sohn Michael (Hannes Schumacher) und die um Fassung und äußere Schönheit bemühte Langzeit-Studentinnen-Tochter Helene (Laura Maria Hänsel).

Auch: Mette, die Frau von Michael, im engen schwarzen Sexy-Hexy-Outfit. Die Oma, die irgendwann verzweifelt Lieder trällert (Rita Feldmeier) und Opa (Achim Wolff), dessen wesentliche Merkmale darin bestehen, dass er in guter, alter Slapstick-Manier mit dem Gehstock den Bühnenboden traktiert und der Enkeltochter den Po tätschelt. Dann gibt es noch die loyalen Bediensteten dieses Horror-Hotels, die wahren Stützen der Gesellschaft, die Bonzen-Autoschlüssel verstecken, um Christians Mission zu unterstützen. Über sie erfahren wir vor allem: dass sie eigentlich von diesem Ort abhauen wollen und gut dafür sind, die Handlung dramaturgisch voranzutreiben.

Fest 1 Thomas M Jauk uDer Vater und der Sohn: Joachim Berger und Jan Hallmann © Thomas M. Jauk

Es wird sich das Leben schön gesoffen, es wird gesungen, vor einer swingenden Live-Band getanzt. Vor allem wird auch nach der Rede vom missbrauchten Sohn weitergefeiert, brutal, schlussendlich im wahrsten Sinne. Weitermachen, weiterlügen, weiter, weiter. Auch mal in der Chorus Line, Schritt links, Schritt rechts, Rücken zum Publikum. Oder 'ne Polonäse durch den Zuschauerraum.

Geist im Pumphosen-Outfit

Und natürlich im Zentrum von alledem: Christian (Jan Hallmann), der mit der Wahrheitsbombe. Neben sich – eine der zentralen Ideen der Inszenierung – seine tote Schwester Linda (Nadine Nollau). Sie ist seine wandelnde Wunde und gleichzeitig Partnerin in Crime, ein Geist im Pumphosen-Punk-Outfit. Vermutlich ist sie im Leben ein Freigeist gewesen. Aber, um fair zu bleiben: Auch Linda, dieser beobachtende und herumstromernde Hausgeist ist ein kleiner Lichtblick des Abends, dessen aseptische Gesamtwirkung vielleicht nicht durch seinen leicht angestaubten Aufgang-Abgang-Realismus bedingt ist.

Schrecken und Schmerz werden ausdekliniert, erklärt, verlabert. Mitunter gar verulkt. Auch in der Filmvorlage mutet die ekstatische Sexszene zwischen Michael und seiner Frau Mette (Franziska Melzer) nach einem heftigen Streit zunächst albern an, doch dann wird klar: Sex ist hier ein Gefühlsregulator. Dieses Motiv haust schon länger in den Ritzen der Familiengeschichte. Auf der Bühne wird die Szene zum Slapstick-Quickie – mit einer Mette, die als Figur an diesem Abend wirklich kaum mehr darf, als leicht dümmlich anmutend auf hohen Hacken durch die Feier zu stiefeln.

So kratzt der Abend letztlich nur an der Oberfläche des wuchtigen Stoffs. Als nach einem gefundenen Abschiedsbrief Lindas der Vater von seinen eigenen Nachkommen verprügelt wird, sieht man davon wenig. Theaterblutbeschmiert ächzt er auf die Bühne. Vielleicht hatten Bettina Jahnke und ihr Team Bedenken, dem nach den Corona-Jahren frisch zurückgekehrten Potsdamer Publikum zu viel zuzumuten. Es ist nur eine Vermutung, aber: Wahrscheinlich hält es deutlich mehr aus.

Das Fest
nach dem Originaldrehbuch "Festen"von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov
Für die Bühne bearbeitet von Bo hr. Hansen
Übersetzung von Renate Bleibtreu
Regie: Bettina Jahnke, Bühne und Kostüme: Dorit Lievenbrück, Musik und musikalische Leitung: Martin Klingeberg, Choreographie: Annett Scholwin, Dramaturgie: Alexandra Engelmann.
Mit: Joachim Berger, Janine Kreß, Jan Hallmann, Hannes Schumacher, Laura Maria Hänsel, Nadine Nollau, Franziska Melzer, Achim Wolff, Rita Feldmeier, Philip Bender, Jan Baniecki / Alwin Fries, Frieda Barthold / Sarah Rösel, Katja Zinsmeister, Markus Gläser.
Trompete: Martin Klingeberg, Piano, Klavier: Christian von der Goltz, Kontrabass: Max Leiß, Kay Lübke.
Premiere am 6. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.hansottotheater.de


Kritikenrundschau

Ein Wagnis sei diese Inszenierung nicht, schreibt Lena Schneider in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (8.5.2023). "Sie versucht nicht, Theaterbudenzauber zu vermeiden, sondern stürzt sich mitten hinein." Wer jedoch die Dogma-immanente Frage nach dem Wie runterschlucken und den inneren Hebel auf Verzauber- und Schauspielertheater umstellen könne, "wer sich einlässt auf das Erzählte, kann sich der dunklen Wucht des Stoffes nicht entziehen", so Schneider: "Ja, es gespenstelt und theatert ganz ordentlich. Aber: Es funktioniert, dieses Theater ohne Dogmatismus."

"Dass Jahnke die Zuschauer schonen und Abstand zum Ausweglosen halten möchte, zeigt schon die frei dazu gedichtete Ouvertüre", findet Frank Dietschreit im RBB (8.5.2023). Man erlebe die Handlung wie in einer Rückschau, als skurriles Traumspiel und bizarren Leichenschmaus. "Schade, ein bisschen mehr existenzielle Verunsicherung, Angst und Beklemmung hätte es schon sein dürfen."

Kommentar schreiben