Das goldene Vlies - Alexander Nerlichs düstere Inszenierung von Franz Grillparzers Medea-Stoff am Hans Otto Theater Potsdam
Der geile Sound des Krieges
von Wolfgang Behrens
Potsdam, 3. Februar 2017. "Wer bist du, doppeldeutiges Geschöpf?" fragt Jason einmal, und das ist noch untertrieben. Denn Medea ist vieles: Königstochter und Barbarin, Mitleidige und Hexe, Liebende und Kindsmörderin. Und natürlich ist sie auch eine Geflüchtete, die mit Jason aus ihrer Heimat in Kolchis am Schwarzen Meer nach Griechenland geht, um dort an der korinthischen Stadtgesellschaft brutal abzuprallen. Denn für die Korinther ist sie in all ihrer Doppel- und Vieldeutigkeit von Anfang an eindeutig festgelegt: Sie ist eine Fremde. Sonst nichts.
Dass die Bearbeitungen des Medea-Stoffes von Euripides bis Tom Lanoye mit dieser Konstellation so etwas wie die Stücke der Stunde sind, ist kaum von der Hand zu weisen. Am Potsdamer Hans-Otto-Theater hat man sich nun für die Fassung von Franz Grillparzer entschieden, der Anfang des 19. Jahrhunderts in seiner Trilogie "Das goldene Vlies" dem ungeheuerlichen Geschehen einen ersten Drall in Richtung Psychologisierung gab. Alexander Nerlich – der wohl prägendste Regisseur der Intendanz Tobias Wellemeyers – hat die drei abendfüllenden Stücke zu einem knapp dreistündigen Abend zusammengerafft und dabei großes Augenmerk auf die Herstellung der Fremdheit gelegt.
Die ersten beiden Teile der Trilogie spielen noch in Kolchis, und dort – daran lassen Nerlich und sein Team keinen Zweifel – geht es rau zu. Tine Beckers Bühne sieht vor der Pause aus wie eine düstere Meditation über die Kunst des 20. Jahrhunderts: Anselm Kiefers Farben und Beuys' Badewanne, Salvador Dalís kahle Bäume und Jean Dubuffets Art brut-Oberflächen. Es ist eine wilde Welt, in der jeder, der auftritt, schlammfarbige Flecken am Körper und im Gesicht hat. Der Herrscher Aietes (Bernd Geiling) hat einen seltsamen Tick und wirft ab und an werwolfartig die Hände über den Kopf nach vorne. Seine Tochter Medea, die rothaarige Hexe, entwindet sich zu Beginn einem Knäuel, mit vier Händen und vier Füßen: Sie ist doppelt, die reife Medea (Marianna Linden) und die kindliche. Letztere – gespielt von der 13-jährigen Renée Gerschke – taucht im weiteren Verlauf immer wieder auf und steht für das Ungebändigte, Unzähmbare Medeas ein – und wirkt mitunter, mit gesenktem Blick und zur Kralle geformter Hand, wie ein unheimlicher Gruß aus einem japanischen Horrorfilm.
Warten auf die Barbaren
Die Griechen Jason (Florian Schmidtke) und Milo (Wolfgang Vogler), die im Kampfanzug diese Welt entern, reden gerne von Barbaren und benehmen sich selbst wie welche. Härte ist hier Programm: Man tritt sich schon einmal unvermittelt in den Rücken, und die bevorzugte Kommunikation der streitlustigen Kampfhähne erfolgt Aug' in Aug', Stirn an Stirn, Schulter an Brust. Diesem Egoshooter Jason traut man keinen Funken Zärtlichkeit zu. Umso stärker berührt dann Florian Schmidtkes Monolog nach einer jener Raufereien mit Medea, die ständig von Kampf in Begehren umschlagen und wieder zurück. Schmidtke japst und keucht seinen Text, bis er langsam zur Ruhe kommt und in sich so etwas wie die Sprache des Gefühls entdeckt.
Während der Pause wechselt die Welt: Sterile Holz- und Steinkulissenwände mit goldenen Schwingtüren lassen ein regelrecht aseptisches Korinth entstehen, in dem Schlammfarbe keinen Platz hat und Natur nur als Fototapete in einem Glaskasten vorkommt. König Kreon (Peter Pagel) und seine Tochter Kreusa (Denia Nironen) brauchen nur ihre lächerlich geckenhafte Kleidung vorzuführen, und man weiß, mit wem man es zu tun hat: herzlose Luxuspuppen. Nicht nur Medea, auch Jason wirkt hier anfangs fremd – nur, dass ihm die Assimilation zum eitlen Anzugträger leichter gelingt als Medea die zur weißgewandeten Kleiderstange.
Kalt, modern und teuer
Dass sich dieses kalte, um sich selbst kreisende Korinth von jedem Humanitätsideal längst verabschiedet hat, ist sofort klar – ebenso, dass die Integration von Medea nur gelingen könnte, wenn sie nicht nur dieselben Kleider anzöge, sondern sich auch das Herz herausrisse. Eigenartig ist indes, dass die Kälte des Arrangements auch die großen Momente erstickt: Wenn Marianna Linden als Medea um ihre Kinder kämpft, wenn sie sich am Ende für den Mord an ihnen entscheidet, dann geschieht das auf eine fast sachliche, jedenfalls äußerst unterspielte Art. Nur im erneuten Kampf mit Jason, dem noch immer das nicht totzukriegende Begehren innewohnt, findet sie, finden beide noch einmal zu einer wenn auch erschlafften Form der früheren Kraft zurück.
Florian Schmidtkes Jason sagt einmal einen Satz, der nicht bei Grillparzer steht: "Krieg ist Scheiße, hat aber einen geilen Sound." Nerlichs Inszenierung sagt deutlich, vielleicht etwas zu deutlich: "Korinth ist auch Scheiße." Dass Korinth mitten in Deutschland liegt, begreift man ebenfalls schnell. Und was den geilen Sound betrifft, den gibt es auch: Die wimmernden, wummernden, pochenden und pulsenden Soundscapes von Malte Preuß tragen unauffällig, doch wesentlich einen Abend mit, dessen großer Ernst Respekt abnötigt, der die ganz große Fallhöhe aber letztlich verfehlt.
Das goldene Vlies
von Franz Grillparzer
Regie: Alexander Nerlich, Bühne: Tine Becker, Kostüme: Matthias Koch, Musik und Sounddesign: Malte Preuß, Choreographische Mitarbeit: Alice Gartenschläger, Video: Lisa Katzwinkel, Dramaturgie: Christopher Hanf.
Mit: Marianna Linden, Florian Schmidtke, Sabine Scholze, Peter Pagel, Bernd Geiling, Denia Nironen, Wolfgang Vogler, Jonas Götzinger, Renée Gerschke/Clara Sonntag, Heinrich Poloni/Lennart Kotte, Jaro Watzke/Jannik Johannsen.
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause
www.hansottotheater.de
Alexander Nerlich widerstehe der Versuchung, das Stück als reines Flüchtlingsstück zu zeigen, schreibt Lars Grote in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (6.2.2017). "Doch er müsste eine aktuelle Lesart anbieten, eine Übersetzung vorschlagen. Vermitteln, warum der Stoff so dringlich ist." Die Inszenierung von Nerlich bleibt dem Eindruck des Kritikers zufolge defensiv. "Drei Stunden mit antikem Stoff, das ist kolossal und toll in diesen kurzatmigen Tagen, da traut sich das Theater etwas. Doch es muss Zugriff her auf unsere Zeit." Man höre den Pulsschlag der Musik, "sie pocht wie eine Drohung. Die Geste der Gefahr wird überstrapaziert, viel Geschrei, viele Gefechte, und dennoch bleibt die Frage: Hat das etwas mit mir zu tun? Berührt mich das, was da oben passiert, oder ist es nur Historienmalerei?"
"Ein selten intensiver, selten aufrichtiger, selten bestürzender Theaterabend," so Lena Schneider in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (6.2.2017), die der Inszenierung große Präzision, Klugheit und Dringlichkeit bescheinigt. Aus Sicht der Kritikerin ist diese Inszenierung "unter den bisher in Potsdam vorgelegten die am genauesten gearbeitete: Bis ins kleinste, oftmals tänzerische Detail ist hier gefeilt worden."
Dem Eindruck von Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (6.2.2017) zufolge positioniert sich Alexander Nerlich mit seiner Inszenierung klar gegen Europas Abschottung. "Schade nur, dass er dabei eher auf Pathosvermeidung setzt. Viele seiner Schauspieler holen aus Grillparzers Versen weniger, als drinsteckt, sprechen sie zu oft lässig dahin, unterspielen die krassesten Konflikte. Das gibt – zusammen mit Einschüben wie 'Krieg ist Scheiße, hat aber einen geilen Sound' – dem Ganzen zwar einen lässig heutigen Anstrich. Aber es nimmt ihm auch einiges an Dringlichkeit, Ambivalenz, Spannung. Obwohl Malte Preuß in seinem Soundtrack raunt, knarzt, dräut, verlangsamt sich der Puls des Abends nach der Pause derart, dass die ikonischsten Momente dieser Wahnsinnsstory unter die Räder kommen, etwa der Kindermord. So bleibt die Inszenierung ein spannender Versuch, der sein Versprechen nicht ganz einlösen kann."
Man lasse sich da nicht abschrecken von dem Zuviel an Einfällen des Regisseurs", so Peter Claus im Kulturradio des RBB (4.2.2017). "All das Pantomimische, Sportliche, Tänzerische, die Klang-Installationen, das Wabern des Düster-Atmosphärischen, das sich nicht immer erschließt, wenn man in dem antiken Stoff, der Grillparzer als Anregung gedient hat, nicht wirklich bewandert ist. Doch die Geduld wird belohnt: Der zweite Teil fesselt mit Konzentration aufs Wesentliche, mit emotionaler Dichte und – das A und O – sehr oft mit schauspielerischer Klasse. Da wird der Schrecken, den Medea erleidet, ohne vordergründige Verweise geradezu greifbar, kommt uns nah und spiegelt Probleme unserer Gegenwart."
Nerlich habe sich mit Grillparzers "Goldenem Vlies" Großes vorgenommen und biete mit seinem "Action-Theater" doch nur Kleines, schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (6.2.2016). Außer dem "gymnastischen Sound der Hassliebe" bleibe wenig. "Kaum etwas von Grillparzers differenzierter Erzählung über die Dialektik der Emanzipation, des freien Willens und der tieferen Gebundenheit, und von der mit aller aufklärerischen Vernunft sich maskierenden Kultur der Angst und Abschottung gegenüber 'Fremdem'". Das Personal stelle "nur überreizte Zustände dar, und gesprochen wird so, dass der Text ins Unwesentliche schrumpft."
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Von der wunderbaren Energie und Musikalität her ist es eine typische Alexander Nerlich Arbeit, und das ist unbedingt positiv gemeint.
Können Sie das etwas genauer und differenzierter ausführen, was bei Ihnen unter "Angebertheater" zu verstehen ist.
Damit kann ich im Fall dieser Premiere nun überhaupt nichts anfangen, da wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie Ihr Statement mit Beispielen verdeutlichen würden.
die Kritik vom Kultourenblog stammt aus meiner Feder wie auch das gesamte Blog mit allen Rezensionen.
Sonntagsgrüße
Nine
http://www.pnn.de/potsdam-kultur/1154653/
http://www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/kultur/201702/98801.html
http://www.kulturradio.de/rezensionen/buehne/2017/02/Hans-Otto-Theater-Das-goldene-Vlies.html
Könnte man schon von nem Stadtgespräch sprechen ?
Vielleicht begreift nun endlich auch die Potsdamer provinzielle Politik, dass diese Hans Otto Theater große Beachtung findet und mit herausragenden Regisseuren und einen guten gewachsenen Ensemble ein bemerkenswertes Programm macht.
Dieses Theater nun zu sprengen, weil der Oberbürgermeister den Intendanten nicht verlängert und somit das künstlerische Team auflöst, ist fahrlässig und unnütz und zeugt von wenig Sachverstand und -kenntnis.
Wie schade, dass Sie es nicht für nötig halten, uns Ihre Definition von Alexander Nerlichs "Angebertheater" mitzuteilen.
Woran Sie das festmachen, hätte mich schon sehr interessiert.
Was hat Sie bewegt und aufgeregt ?
Einfach mal einen Begriff hinzuwatschen, ist leider etwas sehr dürftig.
http://www.ardmediathek.de/radio/Kultur/Das-goldene-Vlies-im-Hans-Otto-Theater/Inforadio/Audio?bcastId=32100982&documentId=40453544
da Sie so darauf bestehen: Das Dräuende, Pseudo-Düstere mit dem dieses Theater so intensiv sein will, das Gestelzte im Ton, das Betonen des Äußerlichen, daß ständig ins Atmosphärische ausgewichen wird wo Haltung oder Präzision vom Text her verlangt wäre, die präpotenten Kostüme, schwellenden Muskeln, wabernden Nebelschwaden, Form vor Inhalt, drei Stunden lang - wie nennen Sie das? Ich nenne es Angebertheater, hat doch jeder an dem Abend gesehen. Und jetzt ist auch gut. Sie können natürlich weitermachen (...).
Geht doch.
Allerdings behaupten Sie, dass das doch bitte schön jeder gesehen hat.
Um Sie da mal von Ihrem hohen Meinungsross runterzuholen:
Nein, das hat nicht jeder so gesehen wie Sie. Das ist ja das Schöne am Theater und an Regisseuren, die etwas wagen und sich ausprobieren.
Ich habe jedenfalls einen gänzlich anderen Abend gesehen und kann mich da Ihnen nicht anschließen. Da erreicht mich Ute Büsing vom Inforadio mit ihrer Kritik weitaus mehr.